An der Wahrheit festhalten
Mahatma Gandhis Lehre vom gewaltfreien Leben
Clemens Jürgenmeyer
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Mahatma Gandhi gilt allgemein als der furchtlose Kämpfer, der mit den Mitteln des gewaltlosen Widerstands die Unabhängigkeit Indiens von der übermächtigen britischen Kolonialmacht im August 1947 errungen hat. Gandhi war fraglos eine herausragende politische Figur, doch die Reduktion seines Wirkens auf die Praxis des gewaltlosen Widerstands verschweigt den wahrhaft revolutionären Gehalt seines Denkens und Handelns und nimmt ihm so Brisanz und Aktualität.
Gandhi, dieses dürre Männlein mit Wickeltuch, Nickelbrille und Wanderstab, gilt allgemein als der furchtlose Kämpfer, der mit den Mitteln des gewaltlosen Widerstands die Unabhängigkeit Indiens von der übermächtigen britischen Kolonialmacht im August 1947 errungen hat. Weltweit steht er in höchstem Ansehen. Das offizielle Indien feiert jedes Jahr am 2. Oktober, einem nationalen Feiertag, seinen Geburtstag und huldigt ihm als "Father of the Nation". Indien hat Gandhi geradezu zu einem Heiligen erhoben – und ihn auf diese Weise elegant entsorgt.
Gandhi war zweifelsohne eine herausragende politische Figur, doch die Reduktion seines Wirkens auf die Praxis des heroischen, gewaltlosen Widerstands verschweigt geflissentlich den wahrhaft revolutionären Gehalt seines Denkens und Handelns und nimmt ihm so seine Brisanz und Aktualität. Gandhi selbst schätzte seine Rolle als Politiker als unwichtig ein, für ihn war die ständige Suche nach der Wahrheit im praktischen Alltag der wesentliche Teil seines Selbst. Es gilt, das gandhische Denken und Handeln in seiner Vielschichtigkeit, seinem revolutionären Gehalt und seiner religiösen Fundierung darzustellen.
Stationen seines Lebens
Mohandas Karamchand Gandhi, so sein eigentlicher Name, wurde am 2.10.1869 in Porbandar im heutigen westindischen Bundesstaat Gujarat geboren. Er entstammte einer gutsituierten Familie, die in politischen Diensten des Lokalfürsten stand. Seine Mutter war tief religiös und übte früh einen starken Einfluss auf ihn aus. Nach Abschluss seiner nicht sehr erfolgreichen Schulzeit ging er im Jahr 1888 nach London zum Jurastudium. Seine zuweilen komisch anmutenden Bemühungen, seinen Lebensstil den üblichen Konventionen der britischen Oberschicht anzupassen, scheiterten allerdings kläglich. Nach dem Examen kehrte Gandhi sofort im Juli 1891 nach Indien zurück, wo er vergeblich versuchte, eine eigene Existenz als Rechtsanwalt in Bombay aufzubauen: seine Schüchternheit und Nervosität ließen ihn nicht zum rhetorischen Meister werden.
Sein Bruder vermittelte ihm zwei Jahre später den Auftrag, einen Rechtsfall in Südafrika zu bearbeiten. Angesichts der massiven Diskriminierungen, denen seine Landsleute dort ausgesetzt waren, sollte er dort 21 Jahre verbringen. Er kam in Kontakt mit den Schriften Thoreaus, Ruskins und Tolstois und entwickelte Schritt für Schritt Theorie und Praxis einer der Wahrheit und Gewaltfreiheit verpflichteten Lebensweise. 1904 gründete er bei Durban die Phoenix-Siedlung, die sechs Jahre später in der größeren Tolstoi-Farm aufging. In diesen kommunitären Gemeinschaften führten die Mitglieder ein einfaches, autarkes Leben: Jeder musste durch seiner Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen. Seine Aktionen gegen die diskriminierenden Gesetze der Regierung waren erfolgreich und verbesserten die Situation der indischen Minderheit in Südafrika. Dazu zählt vor allem die Abschaffung der Kopfsteuer.
Nach seiner Rückkehr nach Indien Anfang 1915 wurde Gandhi bald zur bestimmenden Figur der indischen Unabhängigkeitsbewegung; erst durch ihn wurde sie zu einer wirklichen Massenbewegung. Indien errang unter dramatischen Umständen am 15. August 1947 die Unabhängigkeit, die die Teilung des Landes in die Staaten Pakistan und Indien besiegelte. Ein knappes halbes Jahr später, am 30. Januar 1948, wurde Gandhi von dem Hindufanatiker Godse erschossen.
Gottessuche, Gewaltfreiheit und Selbstkontrolle
Das Denken Gandhis wurzelt tief in der hinduistischen Tradition, weist aber auch starke europäische Einflüsse auf, wohl mehr, als ihm selbst bewusst war. Vor allem christliche und liberale Vorstellungen haben Eingang in sein Denken gefunden. Namentlich zu nennen wären hier Henry David Thoreau, Leo Tolstoi und John Ruskin sowie die Bergpredigt, die "recht nach meinem Herzen war". War es bei Thoreau das Recht des Individuums auf bürgerlichen Ungehorsam gegenüber dem Staat, bei Tolstoi das Ideal einer gewaltfreien Gesellschaft auf der Basis der universalen Liebe und bei Ruskin das Ideal eines brüderlichen Wirtschaftens, so war es in der Bergpredigt die Aufforderung, seine Feinde zu lieben und "dem, der dich auf den Backen schlägt, auch den anderen darzubieten". Gandhi übernahm jedoch nur jene Elemente, die er für sinnvoll erachtete. Er sah darin nichts Anstößiges, er beanspruchte nicht, etwas originär Neues hervorgebracht zu haben. In der Summe entstand so ein synkretistisches Denkgebäude, das seine Originalität gerade aus der eigenwilligen und undogmatischen Selektion und Interpretation unterschiedlicher Denktraditionen aus Ost und West bezieht.
Wahrheit (satya) ist das ewige Grundprinzip allen Lebens. Sie ist als das einzig wirkliche Sein Gott. "Das Wort satya (Wahrheit) ist abgeleitet von sat, d.h. sein. Nichts ist in Wirklichkeit außer der Wahrheit. Darum ist sat oder Wahrheit der wohl wichtigste Name Gottes. ... Hingabe an diese Wahrheit ist die einzige Rechtfertigung unserer Existenz." Gott erschafft und durchdringt alles Leben, mithin stellt die ganze Welt eine göttliche Einheit dar. Natur und Mensch, Materie und Geist sind nicht getrennt, sondern bilden eine Einheit. Alles Leben ist göttliches Leben, über das die Menschen nicht ihrem Willen gemäß verfügen können.
Diese Einheit des Lebens und die Fehlbarkeit des Menschen verbindet das Streben nach Wahrheit untrennbar mit Gewaltfreiheit (ahimsa). Wahrheit und Gewaltfreiheit sind zwei Seiten einer Medaille. Ahimsa bedeutet nicht passive Gewaltlosigkeit sondern aktive Nächstenliebe, die den Feind nicht ausschließt und eigenes Leiden bewusst auf sich nimmt.
Diese hohen Anforderungen an den einzelnen erfüllen zu können, hängt direkt von der Fähigkeit zur umfassenden Kontrolle von Körper und Geist (brahmacarya) ab, die weit über die gängige Vorstellung von Keuschheit hinaus und die völlige Leidenschaftslosigkeit in Gedanken, Worten und Taten umfasst.
Gottessuche, Gewaltfreiheit und Selbstkontrolle gehören also bei Gandhi untrennbar zusammen und bilden eine ganzheitliche Lebensweise, die er mit dem Begriff satyagraha, also: das Festhalten an der Wahrheit, bezeichnet hat. In ihr sind Religion und Alltag, Denken und Handeln, Ziel und Mittel nicht getrennt. Das letztendliche Ziel menschlichen Strebens nach Wahrheit ist, Gott zu finden und damit seine eigene Erlösung zu erlangen.
Gandhi sah klar, dass die Frage, was Wahrheit ist, schwer zu beantworten sei. "Die Frage ist schwierig, aber ich habe sie für mich selbst gelöst, indem ich sage: Es ist, was die Stimme im Innern sagt ... Jeder sollte darum seine Beschränkungen erkennen, ehe er von der 'inneren Stimme' spricht". Das eigene, einer dauernden strengen Selbstprüfung unterworfene Gewissen wird so zur Entscheidungsinstanz wahrhaften Denkens und Handelns. Das Gewissen der Individuen fällt jedoch nicht immer gleich aus. Im Alltag ist daher "gegenseitige Toleranz die goldene Verhaltensregel", die "Schönheit des Kompromisses" ein wesentlicher Teil von satyagraha.
Religion und Politik
Gandhis Denken und Handeln ist nicht einfach mit gewaltlosem Widerstand oder bürgerlichem Ungehorsam im Sinne eines politischen Zweckmittels gleichzusetzen. Satyagraha als reine politische Strategie ist kraft- und wirkungslos. Gandhi hatte einmal satyagraha mit soulforce wiedergegeben. Er meinte damit die Macht der (Nächsten-) Liebe, eine Macht, die den Gegner für sich gewinnen will, indem sie an seine in ihm wohnende Menschlichkeit appelliert, auf dass er von seinen Plänen ablässt. Mit Mut, Furchtlosigkeit und Standfestigkeit stellt sich der Wahrheitssucher dem Übel entgegen und ist bereit, Leiden auf sich zu nehmen, im äußersten Fall sogar den Tod. Seine Waffe ist nicht Zwang oder Gewalt, sondern die Macht der Liebe, die den Hass überwinden soll.
Ebenso ist das Streben nach Wahrheit keineswegs als nur persönliche, weltabgewandte Gottessuche in einer Höhle des Himalayas zu verstehen. Gott, so sagt Gandhi, kann nicht getrennt von den Mitmenschen gefunden werden. Dienst am Nächsten, also gewaltfreies Handeln in der Welt, und individuelle Gottessuche des einzelnen sind identisch. Dies gilt auch für den Bereich des Politischen. "Meine Hingabe an die Wahrheit hat mich ins Feld der Politik getrieben. Ohne das mindeste Zögern kann ich sagen, dass derjenige, der da behauptet, Religion habe nichts mit Politik zu tun, nicht weiß, was Religion bedeutet."
In der politischen Praxis versuchte Gandhi, das Gebot der Wahrhaftigkeit mit "legitimen und friedvollen" Mitteln abgestufter Intensität umzusetzen. Sie reichten von Petitionen über Kampagnen bis hin zum Hungerstreik. Manche von ihnen waren von Erfolg gekrönt, andere nicht. Berühmt wurde seine Kampagne im Frühjahr 1930 gegen das Salzmonopol und die Salzsteuer der Kolonialregierung. Dieser sog. Salzmarsch führte ihn und seine Mitstreiter von seinem Ashram bei Ahmedabad quer durch Gujarat bis nach Dandi am Arabischen Meer. In einer Geste voller Symbolkraft hob Gandhi eine Hand voll Salz auf und übertrat damit bewusst in aller Öffentlichkeit bestehende Gesetze. Die Regierung ließ ihn verhaften und mit ihm viele Inder, die es ihm gleichtaten. Die Gefängnisse füllten sich über Maßen und setzen so die Kolonialregierung unter Druck. Obwohl Gandhis Aktion keinen direkten Erfolg zeitigte - die Salzsteuer wurde nicht abgeschafft –, so führte sie doch zu einer Mobilisierung der unter der Last hoher Grundsteuern leidenden indischen Bauerschaft, die in der Folgezeit dazu beitrug, die Fremdherrschaft Schritt für Schritt zu unterminieren und schließlich 1947 die Unabhängigkeit Indiens zu erreichen.
Das Dorf als Ort wahrhaften Lebens
Sein eigentliches Betätigungsfeld hat Gandhi jedoch nicht so sehr in der großen Politik gesehen, sondern in der dörflichen Sozialarbeit, die den Dienst am Mitmenschen in den Mittelpunkt stellt. Hierfür prägte Gandhi den Begriff sarvodaya, der "die Wohlfahrt aller" bezeichnet. Das Wohlergehen aller Lebewesen wird bewusst in den Mittelpunkt menschlichen Handelns gestellt und steht ganz in Gegensatz zu der utilitaristischen Maxime vom größten Nutzen für die größte Zahl. Menschliches Glück und Maximierung des wirtschaftlichen Nutzens sind für Gandhi eben nicht identisch. Der selbstlose Dienst an den Ärmsten bildet die alleinige Grundlage, auf der ein wirklich freies Indien gedeihen könne. Er wandte sich scharf gegen die Unberührbarkeit und gab den Unberührbaren den Namen "Harijans" (Kinder Gottes).
Das selbstgenügsame Dorf, das autonom seine Angelegenheiten regelt, bietet allein die Gewähr, auch dem Letzten seinen Anteil zu geben, den er für ein einfaches, im Dienst der Wahrheitssuche stehendes Leben benötigt. Jeder soll durch seiner eigenen Hände Arbeit seinen persönlichen Lebensunterhalt bestreiten. Brotarbeit (bread labour) verzichtet auf die Ausbeutung anderer, sie ist eine Form gewaltfreien Wirtschaftens und steht in Einklang mit svadeshi, also "jener Geist in uns, welcher uns auf die Nutzung und den Dienst an unserer unmittelbaren Umgebung einschränkt". Er soll verhindern, andere auszubeuten oder zu verletzen, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Daher kontrastiert das Dorf mit der Stadt als Ort eines fremdbestimmten Industriesystems, das auf Ausbeutung und Naturzerstörung basiert. Sie ist der Wahrheitssuche abträglich. Entsprechend hart ging Gandhi mit der Industriegesellschaft ins Gericht. Die Industrialisierung der Welt und insbesondere Indiens charakterisierte er als einen Fluch und eine Bedrohung für die Menschheit. "Die Gewaltlosigkeit kann man nicht auf einer Industriezivilisation gründen, wohl aber auf selbstgenügsame Dörfer", sagt Gandhi, und maß deshalb dem Spinnrad eine so hohe Bedeutung für ein gewaltfreies Leben bei. Es war nicht nur ein Symbol politischer, sondern vor allem der persönlichen Freiheit und Selbstbestimmung.
Für Gandhi war die politische Freiheit Indiens Folge der persönlichen Freiheit des einzelnen, die eingebunden ist in das dauernde Streben nach Wahrheit. "Indiens Unabhängigkeit muss von Grund auf beginnen. So wird jedes Dorf eine Republik oder ein panchayat (Dorfversammlung) mit allen Vollmachten sein. Daraus folgt, dass jedes Dorf selbständig und im Stande sein muss, mit den eigenen Angelegenheiten fertig zu werden, ja sogar sich gegen die ganze Welt zu verteidigen. Letztlich ist darum das Individuum die Einheit ... In dieser Struktur von unzähligen Dörfern wird es nur sich ständig ausweitende Kreise geben, die nie aufsteigen. Das Leben wird nicht einer Pyramide gleichen ..., sondern es wird ein Ozean gleicher Kreise sein, dessen Mittelpunkt das Individuum ist." Gandhis politische Ordnungsvorstellungen tragen eindeutig anarchistische Züge. Sein ausgeprägter Individualismus stellt das Gewissen des einzelnen über das Recht des Staates. Daher lehnt er einen "starken Staat" ab: "Der Staat stellt Gewalt in konzentrierter und organisierter Form dar. Das Individuum hat eine Seele, aber der Staat ist eine seelenlose Maschine. Man kann ihn nie von der Gewalt abbringen, weil er dieser ja seine Existenz verdankt." Dieser staatlichen Gewalt stellt er sein Ideal einer gewaltfreien, dezentralen Gesellschaft gegenüber, die eine freiwillige Assoziation von Individuen bildet. Jeder folgt der Wahrheit gemäß seinem Gewissen. Daher lehnt Gandhi eine Demokratie auf der Basis von Mehrheitsentscheidungen ab, da sie stets ihre Ziele auf Kosten der Minderheit verfolgt. Das Gewissen des Individuums ist die Entscheidungsinstanz für eine moralische Politik, es allein gibt dem einzelnen das Recht, Widerstand gegen unmoralische Gesetze des Staates zu leisten.
Der Tag der indischen Unabhängigkeit am 15. August 1947 war für Gandhi kein Tag der Freude. Bezeichnenderweise nahm er an den offiziellen Feierlichkeiten nicht teil, sondern harrte in den Brennpunkten der aufflammenden Gewalttätigkeiten zwischen Hindus und Moslems aus. Bereits im August 1934 war er aus dem Indian National Congress (Kongresspartei) ausgetreten. Kurz vor seinem gewaltsamen Tode plädierte er für seine Auflösung, da er sein eigentliches Ziel, die politische Unabhängigkeit des Landes, erreicht habe. Die Mitglieder der Partei sollten sich in einer "Union der Volksdiener" zusammenschließen, um den Millionen von Armen zu helfen, ein menschenwürdiges Leben aufzubauen. Die ökonomische, soziale und moralische Unabhängigkeit Indiens müsse erst noch erreicht werden, die weitaus schwieriger zu bewerkstelligen ist als die politische, auch deshalb, weil sie nicht so spektakulär ist.
Gandhi hatte zuerst 1941, dann in überarbeiteter Form 1945 sein "Constructive Programme" verfasst, in dem er seine konkreten Vorstellungen von dörflicher Aufbauarbeit niederlegte: Achtung und Toleranz den Mitmenschen gegenüber, Abschaffung der Unberührbarkeit, Aufbau des dörflichen Handwerks, Erzie-hung, Bau von sanitären Einrichtungen, Gleichstellung der Frau, wirtschaftliche Gleichheit. Sein Constructive Programme sieht Gandhi als der wahrhafte und gewaltfreie Weg, die vollständige Unabhängigkeit zu erreichen.
Die Unabhängigkeit Indiens ging einher mit der Interner Link: Teilung des Landes in die Indische Union und das muslimische Pakistan. Bei schweren Unruhen fanden ca. 1 Mio. Menschen den Tod, über 15 Mio. wurden zu Flüchtlingen. Gandhi empfand dies alles als eine persönliche Tragödie. Obwohl er mit all seiner Kraft versuchte, in den Zentren der schlimmsten Gewaltausbrüche, namentlich in Calcutta, Hass und Gewalt Einhalt zu gebieten, konnte er den Gang der Ereignisse nicht aufhalten. 32 Jahre Arbeit, so sein Resümee, "sind zu einem unrühmlichen Ende gekommen". Dieses Scheitern bezog Gandhi allerdings allein auf seine persönlichen Unzulänglichkeiten und nicht auf die ewig gültigen Prinzipien von Wahrheit und Gewaltfreiheit. Denn die Wahrheit währt immer und kann nie zerstört werden.
Aus dieser tiefen Überzeugung schöpfte Gandhi seine ganze Kraft und seinen geschichtlichen Optimismus. Geschichte ist für Gandhi nicht sinnlos. Sie hat ein letztes Ziel, auf das alles historische Geschehen ausgerichtet ist. Gandhi bezeichnet diesen Endzustand als ramarajya, die Herrschaft des Gottes Rama: die vollständige innere und äußere Unabhängigkeit des einzelnen und seiner Mitmenschen, also "die Verwirklichung des Reichs Gottes inwendig in euch und auf dieser Erde".
Gandhi selbst wurde ein Opfer der Gewalt. Seine Ermordung am 30. Januar 1948 und die Geschichte des unabhängigen Indien zeigen, dass sein Heimatland all seine Lehren ignoriert hat sogar sein Weggefährte Interner Link: Nehru sah in Stahlwerken und nicht im einfachen Dorfleben die Zukunft Indiens. Industrialisierung, Massenkonsum und ein modernes, zentral ausgerichtetes Staatswesen sind heute die allgemein anerkannten Ziele von Entwicklung. Ob diese allerdings ihr Versprechen materiellen Wohlstands für alle einlösen können, darf angesichts der sozialen Verhältnisse in Indien nach siebzig Jahren Entwicklungsplanung bezweifelt werden.
Was also bleibt von Gandhi in der heutigen Zeit noch übrig? Man könnte geneigt sein, ihn allzu leichtfertig zu den Akten der Geschichte zu legen. Doch könnte es sich angesichts der globalen Unverträglichkeit des abendländischen Entwicklungsmodells auch erweisen, dass seine Botschaft von größerer Aktualität ist, als es manchen Apologeten der auf Eigennutz, permanente Innovation und Expansion gegründeter Wirtschafsordnung lieb ist. Sie ist eine permanente Herausforderung der bestehenden Verhältnisse auf dieser Welt. Sie zeigt, dass nicht Gewalt, Macht und Eigennutz das eherne Gesetz der Geschichte sind, sondern Nächstenliebe, Gewaltfreiheit und Wahrheitssuche. Gefragt, was er als Essenz seines Denkens und Handelns ansieht, antwortete Gandhi: "My life is my message." Nicht neue Denkmodelle braucht die Welt, um besser zu werden, sondern die überall praktizierte Nächstenliebe jedes einzelnen Menschen, der nach der Wahrheit strebt. Jeder beginne ernsthaft bei sich selbst, seine eigenen Experimente mit der Wahrheit durchzuführen, hier und heute, überall und ohne Unterlass.
Jahrgang 1952, ist Politikwissenschaftler und Indologe sowie Assoziierter Mitarbeiter des Arnold-Bergstraesser-Instituts für kulturwissenschaftliche Forschung an der Universität Freiburg. Er beschäftigt sich vorrangig mit der Politik und Gesellschaft Indiens.
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