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Große Armut und zunehmende Ungleichheit | Indien | bpb.de

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Große Armut und zunehmende Ungleichheit Die Kehrseite von Wachstum und wirtschaftlicher Entwicklung in Indien

Bharat Dogra

/ 8 Minuten zu lesen

Jahrelang konnte Indiens Regierung auf ein beeindruckendes Wirtschaftswachstum verweisen. Noch immer geht es voran im Land, wenn auch langsamer. Vom indischen Entwicklungsmodell profitieren jedoch längst nicht alle 1,2 Milliarden Einwohner. Im Gegenteil: Große Teile der Bevölkerung leben weiterhin in bitterer Armut, ohne Aussicht auf Verbesserungen. Vielfach hat der Aufschwung die Not sogar verstärkt.

Fast die Hälfte aller Kinder in Indien unter fünf Jahren ist nach Angaben der Vereinten Nationen unterernährt. (© picture-alliance/AP)

"Wenn du zweifelst, oder wenn dich das eigene Ich überwältigt, dann versuche es mit einem Experiment: Rufe dir das Gesicht des ärmsten und schwächsten Menschen ins Gedächtnis, den du gesehen hast, und frage dich, ob der nächste Schritt, den du zu tun beabsichtigst, ihm (ihr) von Nutzen sein wird. Wird er (sie) etwas davon haben? Wir dieser Schritt ihm (ihr) die Kontrolle über sein (ihr) Leben und Schicksal zurückgeben?" – Mahatma Gandhi

Indien gilt trotz des gegenwärtig abgeschwächten Wachstums weiterhin als sich schnell und dynamisch entwickelnde Volkswirtschaft. Allerdings erscheinen die Erfolge in einem anderen Licht, wenn wir Mahatma Gandhis eingangs erwähntes Experiment als Grundlage der Betrachtung nehmen. Niemand kann leugnen, dass es in Indien trotz hoher Wachstumsraten über mehrere Jahre hinweg weiterhin gewaltige Armut gibt und eine große Zahl von Menschen ein Leben voller Entbehrungen fristen muss.

Die renommierten Entwicklungsökonomen Jean Dréze und Amartya Sen bringen Indiens Grundproblem in ihrem Buch An Uncertain Glory: India and its Contradictions (sinngemäß: Zweifelhafte Pracht: Indien und seine Gegensätze) auf den Punkt: "In der Entwicklungsgeschichte gibt es, wenn überhaupt, nur wenige Beispiele für eine über einen so langen Zeitraum, so schnell wachsende Volkswirtschaft, die so wenige Ergebnisse im Kampf gegen die Armut vorzuweisen hat. "

Andere Wirtschaftswissenschaftler haben zudem auf die geschönte Statistik der Regierung verwiesen, nach der es zuletzt einen signifikanten Rückkehr der Armut im Land gegeben haben soll. Die Kritiker führen an, dass die Armutsgrenze auf lächerlich niedrigem Niveau festgelegt wurde – auf 32 Rupien (37 Cent) pro Person und Tag in den Städten und auf 26 Rupien (30 Cent) pro Person und Tag auf dem Land. Würde diese Grenze nur geringfügig auf einen praxisnahen Standard gehoben werden, so heißt es, dann müsse die Regierung ihre Zahlen zur Armut massiv nach oben korrigieren.

Laut des Berichts zur menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen von 2013 leben in Indien 28,6 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut, weitere 16,4 Prozent sind armutsgefährdet. Das sind rund 540 Millionen der insgesamt 1,2 Milliarden Einwohner. In China leben dagegen nur 4,5 Prozent der 1,3 Milliarden Menschen in extremer Armut. Weitere 6,3 Prozent sind armutsgefährdet. Der Unterschied zwischen den asiatischen Großmächten in diesen Bereich ist gewaltig, dabei lagen beide noch Ende der 70er Jahre in ihren wirtschaftlichen Entwicklung nahezu gleichauf und hatten ähnliche soziale Probleme.

Mangelernährung: Eine halbe Million Kinder sterben

Im Jahr 2012 veröffentlichte die regierungsunabhängige Nandi Foundation eine Studie zur Ernährungssituation indischer Kinder. Demnach waren rund 42 Prozent unterernährt, weitere 17 Prozent waren aufgrund von Mangelernährung in ihrer Entwicklung zurückgeblieben. Zu ähnlichen Ergebnissen war auch das National Nutrition Monitoring Bureau (NNMB) gekommen, eine Behörde zur Kontrolle der Ernährungssituation im Land. Laut der regelmäßig von der Regierung in Auftrag gegebenen Studie zur Familiengesundheit im Land – National Family Health Survey – steht zudem die Hälfte aller Todesfälle bei Kindern im Alter von unter fünf Jahren im Zusammenhang mit Mangelernährung. Das entspricht rund einer halben Million toter Kinder im Jahr.

Auch bei Erwachsenen sind die körperlichen Folgen von Armut nachweisbar. Im ländlichen Indien etwa liegt der Index für die Körpermasse (Body Mass Index, BMI) bei rund 35 Prozent der Menschen unter dem Grenzwert von 18,5, was auf Untergericht und damit chronische Mangelernährung hindeutet. Bei Stammesangehörigen – den Interner Link: Adivasi oder Scheduled Tribes – der liegt der BMI sogar bei 42 Prozent niedriger als 18,5. Studien des NNMB haben zudem bei 55 Prozent der Männer und 70 Prozent der Frauen Anämie (Blutarmut) nachgewiesen sowie erhebliche Defizite bei der Versorgung mit Vitaminen, Mineralstoffen und anderen wichtigen Nährstoffen.

Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs in Indien hat es in diesem Bereich in den vergangenen Jahren kaum Verbesserungen gegeben. Das bestätigt auch Ernährungsexperte Yogesh Jain: "Mangel- und Unterernährung sind die Haupthindernisse im Kampf gegen die Kindersterblichkeit." Zwar hat die Regierung im Jahr 2013 ein neues Gesetz zur Gewährleistung der Ernährungssicherheit – die Externer Link: National Food Security Bill – auf den Weg gebracht, das einer bedürftigen Familie pro Monat 35 Kilogramm Getreide wie Reis oder Weizen zu einem stark reduzierten Preis garantier. Doch nach Ansicht von Kritikern greift es zu kurz, da Hülsenfrüchte, Gemüse, Obst, Milch und andere Lebensmittel, die wichtig für die Versorgung mit Proteinen, Vitaminen und Mineralstoffen sind, auf den Märkten und in den Geschäften immer teurer werden.

Ungleichheit hat viele Facetten

Hinzu kommt, dass auch die Kaufkraft im ländlichen Indien trotz des Wirtschaftswachstums in den letzten Jahren kaum gestiegen ist. Offizielle Erhebungen der Regierung zeigen, dass es zwischen 1993/94 und 2009/10 gerade einmal einen Anstieg von einem Prozent gegeben hat. Auch die Einkommen in der Landwirtschaft sind viel langsamer als in anderen Bereichen gestiegen – in den 90er Jahren nur um etwa zwei Prozent pro Jahr. Geändert hat sich das erst 2005 mit Verabschiedung eines staatlichen Beschäftigungsprogramms, dem Externer Link: Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Scheme. Es garantiert einem Mitglied einer armen Familie 100 Tage Arbeit im Jahr zu einem festgelegten Mindestlohn und damit ein kleines, aber immerhin gesichertes Einkommen.

Die Ungleichheit zwischen den gesellschaftlichen Gruppen in Indien ist gewaltig und hat viele Facetten, wie Jean Dréze und Amartiya Sen in ihrem Buch schreiben: "Alle Ländern der Welt müssen sich damit auseinandersetzen. In Indien allerdings sind die Ausmaße extrem, denn es gibt einen einzigartigen und gefährlichen Cocktail aus Abgrenzung und Ungleichheit – angefangen von der gewaltigen Kluft zwischen arm und reich bis hin zu den massiven Disparitäten zwischen Kasten, Klassen und Geschlechtern (...) Die Folge ist ein repressives Sozialsystem, in dem die untersten Schichten nicht nur wirtschaftlich benachteiligt sondern auch ihrer Rechte beraubt sind." Diese Entwicklung habe sich zuletzt noch weiter verstärkt.

Landreformen sind nötig – und werden vernachlässigt

So verlieren etwa in immer mehr Dörfern Kleinbauern ihr Land. Nach Angaben der Regierung besitzen die ärmsten 60 Prozent der Landbevölkerung inzwischen nur noch 5 Prozent des Ackerlandes. Auch die Zahl der Haushalte, die ausschließlich von der Landwirtschaft leben kann, ist demnach innerhalb eines Jahrzehnts (2001 bis 2011) um acht bis neun Millionen zurückgegangen, das entspricht etwa 2000 Bauernfamilien pro Tag, die auf zusätzliches Einkommen angewiesen sind oder sich andere Betätigungen suchen müssen.

Um Kleinbauern zu schützen und um ihnen Ackerland zur Verfügung zu stellen, wären deshalb Landreformen bitter nötig. Doch die Regierung hat in den letzten Jahren in der politischen Praxis kaum Interesse daran gezeigt. Auf dem Papier allerdings ist sie sich des Problems durchaus bewusst. So heißt es in einem Dokument zum zehnten Fünf-Jahr-Plan (2002 bis 2007): Der Besitz eines kleinen Stück Landes ermögliche einer Familie ein würdigeres Leben. Sie könne ihr Einkommen steigern und ihre Ernährungssituation verbessern. Zudem erhielte sie aufgrund der zur Verfügung stehenden Sicherheiten (in Form von Grundbesitz) Zugang zu Krediten.

Eine Arbeitsgruppe, die mit der Ausarbeitung des elften Fünf-Jahr-Plans (2007 bis 2012) beschäftigt war, räumte ein, dass das Thema jahrelang vernachlässigt wurde. Gleichzeitig erneuerte sie die Forderung an Entscheidungsträger in Regierung und Parlamenten, Landreformen wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen. Der Bürgerrechtler P.V. Rajagopal von der Organisation Ekta Parishad würde das begrüßen. Doch die Realität sieht anders aus: "Durch riesige Industrie-, Infrastruktur- und Bergbauprojekte droht vielen Kleinbauern der Verlust ihres Landes. Es geht also nicht nur darum, den Landlosen zu einem Stück Land zu verhelfen, sondern auch die Rechte derjenigen zu schützen, deren Land bedroht ist."

Gesetze zeigen wenig Wirkung

Die Interner Link: Adivasi haben in den letzten Jahrzehnten besonders unter Unrecht und Vertreibung im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Aufschwung gelitten. Eine Hoffnung auf positive Veränderungen war daher der Forest Rights Act von 2006, ein Gesetz, dass unter anderem Fragen des Waldbesitzes auf eine neue Grundlage stellen und die Recht der Adivasi schützen sollte. (siehe Kasten) Doch die Wirkung des Gesetzes blieb bislang weit hinter den Erwartungen zurück.

Zwar gab es auf Grundlage des Gesetzes zahlreiche Bemühungen, die Landrechte der Adivasi zu schützen bzw. wiederherzustellen. Vielerorts verschlechterte sich die Lage allerdings weiter, wie etwa in der Region Kotra im Süden des Bundesstaates Rajasthan. "Wir hatten große Erwartungen an den Forest Rights Act, deshalb haben wir uns vehement für die Verabschiedung eingesetzt", sagt der Aktivist Dharmchanda aus Kotra.

"Nach Inkrafttreten gingen rund 62.000 Beschwerden und Forderungen (zur Rückgabe und zum Schutz von Land) bei den Behörden ein, von denen jedoch nur knapp die Hälfte angenommen wurde. Von den angenommen Eingaben wurde dann nur ein kleiner Teil positiv beschieden. Wenn das Endergebnis unserer jahrelangen Bemühungen so aussieht, dann werden Adivasi und Waldbewohner weiter Land verlieren anstatt ihr Recht zu bekommen." Die Aktivistin Devlibai hat bereits beobachtet, wie windige Geschäftsleute und Bürokraten vor allem in den Dörfern in der Nähe größerer Städte aktiv sind, um den Bewohnern mit Hilfe schmutziger Tricks und Drohungen ihr Land abzujagen, was durch das Inkrafttreten des Forest Rights Act eigentlich vor fremden Zugriff geschützt sein sollte.

Armutsmigration und Kinderarbeit

Hinzu kommt in der Region Kotra die Armutsmigration, als die Abwanderung von Adivasi in andere Gegenden aufgrund fehlender Einkommensmöglichkeiten. Eine Folge davon ist Kinderarbeit, denn viele Familien sind auf das zusätzliche Geld angewiesen. So werden in Kotra Kinder und Jugendliche für die Arbeit auf den Bauwollplantagen im benachbarten Bundesstaat Gujarat rekrutiert, wo unter sie zum Teil erbärmlichen Bedingungen und für einen Hungerlohn schuften müssen. Medien berichteten in diesem Zusammenhang auch über Todesfälle, nachdem Kinder mit gefährlichen Pestiziden zu tun hatten. Zudem gab es Berichten, nach denen die Kinder von ihren Arbeitgebern über Nacht eingesperrt und sogar angekettet worden sein sollen, um eine Flucht aus der Knechtschaft zu verhindern.

Armutsmigration gibt es aber auch aus vielen anderen Regionen Indiens – etwa aus Bundelkhand im Grenzgebiet zwischen den Bundesstaaten Uttar Pradesh und Madhya Pradesh. "Ungerechtigkeit und Unterdrückung sowie die Plünderung natürlicher Ressourcen zwingen immer mehr Menschen dazu, von hier wegzugehen und in weit entfernten Regionen nach Arbeit zu suchen", beklagt Bhagwat Prasad, Direktor der Nichtregierungsorganisation ABSSS. Viele Menschen landen in den Metropolen Indiens, wo sie das Heer der Armen und Obdachlosen verstärken. Programme, um sie zu unterstützen, gibt es nicht.

Fakt ist: Millionen Menschen in Indien haben unter dem existierenden Entwicklungsmodel nicht die Möglichkeit, ihre Lebenssituation zu verbessern. Oftmals leiden sie sogar darunter. Das indische Wirtschaftswachstum und der Aufschwung der letzten Jahren werden daher erst zu einer Erfolgsgeschichte, wenn sich die Verantwortlichen Mahatma Gandhis Experiment zu Herzen nehmen, wenn sie den Bedürfnissen des armen und schwachen Teils der Bevölkerung gerecht werden, ihnen Aufmerksam schenken und Zugang zu Ressourcen ermöglichen. Zudem müssen die massiven sozioökonomischen Ungleichheiten erheblich verringert und die Chancengleichheit im Land verbessert werden.

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ist Journalist und Buchautor. Schwerpunkte seiner pulizistischen Arbeit sind Entwicklungspolitik, Umweltschutz, Menschenrechte und gesellschaftlicher Wandel. Er lebt in Neu-Delhi.