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Söhne haben Vorrang | Indien | bpb.de

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Söhne haben Vorrang Indische Mädchen bekommen die schlechtere Schulbildung

Stefan Mentschel

/ 5 Minuten zu lesen

Laut Gesetz haben alle indischen Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren das Recht auf eine kostenlose Schulbildung. An den Grundschulen ist das Verhältnis von Jungen und Mädchen deshalb auch annähernd gleich. Allerdings ändert sich das nach der vierten Klasse, wenn viele Mädchen die Ausbildung abbrechen. Aber auch Mädchen, die einen Schulabschluss machen, werden oft benachteiligt. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Ein Lehrerin unterrichtet eine Klasse in Bhopal. (© picture-alliance/dpa)

Jeden Morgen das gleiche Ritual: Vor Unterrichtsbeginn nehmen die Kinder auf dem Hof der kleinen Grundschule Aufstellung. Nach ein paar anfeuernden Worten des Klassensprechers über die Bedeutung des fleißigen Lernens für das Leben wird gesungen – erst ein Lied über die Liebe der Kinder zu ihrem Heimatland Indien, dann die Nationalhymne.

Die Dorfschule liegt ein paar Autostunden nordöstlich der Hauptstadt Neu-Delhi. Knapp 30 Mädchen und Jungen lernen hier von der ersten bis zur vierten Klasse – in einem einzigen Raum, unterrichtet von nur einer Lehrerin. Das ist Standard in vielen ländlichen Regionen Indiens. Auch deshalb haben staatliche Grundschulen, in die rund 80 Prozent aller indischen Kinder gehen, keinen guten Ruf. Anders als private Schulen sind sie jedoch kostenlos.

Grundlage dafür ist ein Gesetz von 2009, dass das Interner Link: Grundrecht auf Schulbildung für jedes Kind im Alter von 6 bis 14 Jahren garantiert. "Seit Inkrafttreten des Right to Education Act sind die Einschulungszahlen landeweit gestiegen", berichtet die Erziehungswissenschaftlerin Minati Panda von der Delhier Jawaharlal-Nehru-Universität. Laut offizieller Statistik besuchten inzwischen fast alle Kinder eine Grundschule, auch das Verhältnis von Mädchen und Jungen sei dort annähernd gleich.

Hohe Abbrecherquote bei Mädchen

Ähnlich wie in Deutschland ist die Verantwortung für die Bildung auch in Indien zwischen den einzelnen Bundesstaaten und der Zentralregierung aufgeteilt. Prägend für das Bildungssystem ist das Nebeneinander von staatlichen, halbstaatlichen und privaten Institutionen. Seit Mitte der 80er Jahre gibt es jedoch eine landesweit einheitliche Grundstruktur der Schulbildung, das so genannte Zehn-Plus-Zwei-System – zehn Jahre Schulausbildung bis zur Sekundarstufe und zwei Jahre Oberstufe.

"Um den Erfolg der staatlichen Bildungspolitik bewerten zu können, dürfen jedoch nicht nur die Einschulungsstatistiken herangezogen werden", sagt Minati Panda. Die Qualität des Unterrichts, die Ausstattung der Schulen und die Ausbildung der Lehrer müsse ebenso in Betracht gezogen werden. Interessant sei aber auch ein Blick auf die Abbrecherzahlen. "Denn 40 Prozent der indischen Mädchen verlassen auch heute noch die Schule vor Beginn der fünften Klasse."

Die Gründe dafür sind vielfältig. "Einer ist die traditionelle Bevorzugung von Söhnen durch Eltern und Familie in Indien", weiß die Wissenschaftlerin. Vor allem in ärmeren Schichten sei die Abbrecherquote bei den Mädchen sehr hoch, denn dort genieße die Ausbildung des Sohnes höhere Priorität. Die Mädchen dagegen würden schon früh auf ihre spätere Rolle als Ehefrau und Mutter vorbereitet. "Sie müssen im Haushalt oder bei der Betreuung kleinerer Geschwister helfen, wofür nach Ansicht vieler Eltern eine elementare Schulbildung wie das Erlernen von Lesen und Schreiben mehr als ausreichend ist." Anders ist es, wenn die Schulen mehr anzubieten haben. So gebe es etwa im Bundesstaat Orissa im Osten Indiens 30 Schulen einer nichtstaatlichen Organisation, an denen auch handwerkliche Fähigkeiten vermittelt würden, berichtet Minati Panda. "Die Mädchen lernen dort nähen, stricken und weben. Man hilft ihnen auch, ein eigenes Bankkonto zu eröffnen und mit Geld umzugehen. Diese Art von lebensnaher Ausbildung wird von vielen Eltern unterstützt."

Eltern haben Angst um ihre Töchter

In ländlichen Regionen sei aber neben den Unterrichtsinhalten auch der Sicherheitsaspekt für die hohen Abrecherzahlen mitverantwortlich. Während es Grundschulen in fast jedem Dorf gebe, seien die Mittelschulen oftmals weiter entfernt, sagt Minati Panda. "Viele Familien haben schlicht Angst davor, ihre Töchter allein in eine Schule außerhalb ihrer vertrauten Umgebung zu schicken."

Hintergrund seien Berichte über tatsächliche oder angebliche Interner Link: sexuelle Übergriffe gegen Mädchen und junge Frauen im Umfeld von Schulen oder auf dem Weg dorthin. "Sobald die Mädchen in die 4. oder 5. Klasse gehen, entwickeln viele Eltern ein großes Misstrauen gegenüber der Schule. Sie vertrauen weder den Männern entlang des Schulwegs noch in den Institutionen. Deshalb behalten sie ihre Töchter lieber zu Hause." Die Regierung hätten das Problem inzwischen erkannt, bislang aber noch keine Abhilfe geschaffen.

Auch Familien der unteren Mittelschicht legen bei der Ausbildung ihrer Söhne und Töchter oftmals unterschiedliche Maßstäbe an: "Beide Kinder werden bis zur Oberstufe in die Schule geschickt. Aber während der Junge auf eine private englischsprachige Schulen gehen darf, besucht seine Schwester die kostenlose und qualitativ schlechtere staatliche Schule", berichtet die Dozentin. In derselben Familie bekomme der Junge zudem regelmäßig Nachhilfe, das Mädchen nicht. "Nach dem Schulabschluss setzt sich diese Diskriminierung fort. Der Junge darf an ein renommiertes College, das Mädchen muss sich mit einem weniger bekannten Institut zufrieden geben."

Männer bestimmen den Gang der Dinge

Thema ist das an Indiens bislang Schulen kaum. Auch über die Rolle von Frauen und Mädchen in der Gesellschaft wird immer noch zu selten thematisiert – sowohl von den Lehrkräften als auch in den Schulbüchern. "Ein Grund dafür ist, dass die indische Gesellschaft eher verschämt über die Beziehung zwischen Mann und Frau oder über Fragen zu Sexualität und Erwachsensein spricht", glaubt Minati Panda. Und wenn diese Aspekte doch einmal zur Sprache kämen, dann höchsten am Rand und stark verkürzt.

"Aber es ist ohnehin nicht ausreichend, nur die Bildungsinhalte zu reformieren", findet sie. "Die Art und Weise wie Frauen in der Gesellschaft behandelt werden, muss sich ändern – sowohl in den Familien als auch in Institutionen wie der Schule." Das allerdings lasse weiter auf sich warten. Zwar gebe es Bewegung, die patriarchale Struktur sei jedoch weiterhin fest verankert in der indischen Politik, in Verwaltung und Wissenschaft aber auch im privaten Umfeld. "Die Männer bestimmen in fast allen Bereichen dieser Gesellschaft den Gang der Dinge."

Vor diesem Hintergrund wird in Familien der oberen Mittelschicht inzwischen großer Wert auf die Ausbildung der Töchter gelegt. "Viele Eltern sind sich der starken Hierarchien bewusst", sagt Minati Panda. "Sie wissen, dass Frauen in der Gesellschaft benachteiligt werden und verwundbar sind. Sie investieren viel Geld, um ihre Töchter mit einer exzellenten Bildung und anderen Fähigkeiten zu rüsten, damit die sich im Leben durchsetzen können."

Doch auch in den anderen Bevölkerungsgruppen setzt allmählich ein Umdenken ein. Umesh Chandra arbeitet als Büroassistent in Delhi. Er hat zwei Töchter, fünf und acht Jahre alt. Jeden Monat legt er einen Teil seines Einkommens von umgerecht 250 Euro für deren Ausbildung beiseite. "Es ist wichtig, dass Mädchen zur Schule gehen, um auf derselben gesellschaftlichen Stufe wie Jungen zu stehen", sagt er. "Denn wenn Mädchen gut ausgebildet sind, dann können sie auch zur Entwicklung unseres Landes beitragen."

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ist Politikwissenschaftler und Journalist. Seit 2006 lebt und arbeitet er in Neu-Delhi. Das vorliegende Indien-Dossier hat er für die Bundeszentrale konzipiert und redaktionell betreut.