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Große Hoffnungen und vertane Chancen | Indien | bpb.de

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Große Hoffnungen und vertane Chancen Premier Manmohan Singhs zehn Regierungsjahre: Eine Bestandsaufnahme

Neerja Chowdhury

/ 9 Minuten zu lesen

Zehn Jahre lang wurde Indien von einer Koalition unter Führung der Kongresspartei regiert. Premierminister war der Ökonom Manmohan Singh. Die Bilanz seiner Regierungszeit fällt zwiespältig aus. Während die erste Amtsperiode von politischen und ökonomischen Erfolgen geprägt war, überschatten Wirtschaftskrise und Korruptionsskandale die zweite. Auch Singhs Führungsschwäche wird in Erinnerung bleiben.

Manmohan Singh am Tag seiner Abdankung beim indischen Staatspräsidenten Pranab Mukherjee. (© picture-alliance/dpa)

Manmohan Singh Als Manmohan Singh im Jahr 2004 für die Interner Link: Kongresspartei das Amt des Premierministers übernahm, begann nach monatelangen politischen Turbulenzen ein frischer Wind in Indien zu wehen. In den fünf darauf folgenden Jahren, konnte der besonnene Ökonom mit dem blauen Turban eigentlich nichts falsch machen. Jede Kritik der Opposition perlte an ihm ab. Eigentlich sind Flitterwochen für Regierungen und Premierminister nach einem halben Jahr vorbei. Bei Manmohan Singh jedoch dauerten sie ganze vier Jahre.

2008 überstand er sogar eine ernste Regierungskrise, als ihm die linken Parteien im Streit um eine ziviles Interner Link: Nuklearabkommens zwischen Indien und den Vereinigten Staaten die Gefolgschaft verweigerten. Bis dahin hatte die Linke Singhs Regierung gestützt. Doch für das Nuklearabkommen, das er später den "Höhepunkt" seiner Amtszeit nannte, ging der Premier das Risiko ein, sich neue Partner im Parlament zu suchen. Zwar gab es Vorwürfe, die Kongresspartei habe sich das positive Votum einiger Parlamentarier bei der Vertrauensabstimmung erkauft. Doch auch das konnte Singhs sauberes Image nicht beschädigen. Zudem meisterte er die Herausforderungen nach den Terroranschlägen in Mumbai Ende 2008, die Indien bis ins Mark erschütterten, und er bewahrte das Land zunächst vor den negativen Folgen der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise, die erst viel später auf Indien durchschlagen sollten.

Am Ende seiner zehnjährigen Regierungszeit, im Frühjahr 2014, hat sich das positive Bild allerdings gewandelt. Singh, der eine dritte Amtsperiode ausgeschlossen hat, sieht sich mit Vorwürfen konfrontiert, das korrupteste Regime in den Geschichte Indiens geführt zu haben. Der weltweit anerkannte Ökonom hinterlässt seinem Nachfolger eine stagnierende Wirtschaft mit ungezügelter Inflation und eine gelähmte Politik.

Erste Amtszeit: Recht auf Arbeit, Nahrung und Information

Dabei hat Singhs Regierungskoalition – die Vereinigte Progressive Allianz (United Progressive Alliance, UPA) – durchaus Erfolge vorzuweisen. Und seine Kongresspartei wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen. Zu den Leistungen gehört etwa der massive Ausbau des Mobilfunksektors, denn inzwischen besitzen rund 800 Millionen Inder ein Handy. Die Öffnung des Luftfahrtsektors für private Anbieter hat einer immer größer werdenden und ökonomisch aufstrebenden Bevölkerungsgruppe das Reisen erheblich erleichtert. Hinzu kommen höhere Ausgaben in den Bereichen Bildung und Gesundheit.

Wenn sich die Wogen geglättet haben, wird die UPA aber vor allen für die Schaffung eines Systems elementarer Grundrechte in Erinnerung bleiben. In einem Land, in dem die Kluft zwischen Arm und Reich in den letzten zwei Jahrzehnten immer größer geworden ist, hat sie 2005 mit der Einführung eines staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogramms für den ländlichen Raum – Externer Link: Mahatma Gandhi Rural Employment Guarantee Act (MNREGA) – faktisch das Recht auf Arbeit eingeführt, wenn auch auf niedrigem Niveau. Gleichwohl garantiert MNREGA einem Mitglied einer armen Familie 100 Tage bezahlte Beschäftigung im Jahr, die mit 100 Rupien am Tag (1,20 Euro) entlohnt werden.

Mit der Verabschiedung der Right to Education Bill im Jahr 2009 hat die UPA jedem Kind das Recht auf Schulbildung LINK garantiert. Im selben Jahr führte sie erstmals in der Geschichte Indiens einen einheitlichen Personalausweis – Unique Identification Card – ein und garantierte damit ein Recht auf Identität. Der Ausweis soll zudem den Armen helfen, ihnen zustehende Sozialleistungen einfordern zu können. Zudem wurde 2013 mit der National Food Security Bill LINK das Recht auf Nahrung festgeschrieben, denn es garantiert bedürftigen Familien bis zu 35 Kilogramm Reis oder Weizen im Monat zu stark subventionierten Preisen.

Die wohl tiefgreifendste Gesetzesinitiative der UPA war jedoch 2005 die Verabschiedung des Gesetzes für das Recht auf Informationsfreiheit oder Right to Information Act (RTI). LINK Sie hat in Indien und in der indischen Politik eine wahre Transparenz-Revolution auf den Weg gebracht, die ironischerweise die Initiatoren selbst in Misskredit gebracht hat. Denn erst durch RTI kamen zahlreiche politische Skandale der UPA ans Licht der Öffentlichkeit.

Auch die Proteste der Zivilgesellschaft für eine saubere Politik – zum einen gegen Korruption und für ein starkes Anti-Korruptionsgesetz in den Jahren 2011/2012 LINK, zum anderen gegen Gewalt gegen Frauen nach der Vergewaltigung einer 23-jährigen Studentin in Delhi Ende 2012 LINK – haben Spuren hinterlassen. Denn aus der zivilgesellschaftlichen Bewegung entstand mit der Aam Admi Party (sinngemäß: Partei der einfachen Leute, AAP) LINK eine neue politische Kraft, die Indiens etablierten Parteien zunehmend herausfordert.

Zweite Amtszeit: Stagnierende Wirtschaft und große Skandale

Während Premier Singh in seiner ersten Amtszeit von 2004 bis 2009 nichts falsch machen konnten, schien es in der zweiten Amtszeit von 2009 bis 2014 genau anders herum zu sein – obwohl die Kongresspartei aus den dazwischen liegenden Wahlen deutlich gestärkt hervorgegangen war. Die indische Wirtschaft, die von der weltweiten Rezession zunächst kaum betroffen war, stagnierte. Zudem brachten Korruptionsskandale die UPA in Bedrängnis – angefangen von undurchsichtigen Geschäften bei der Organisation der prestigeträchtigen Commonwealth Spiele in Delhi 2010 bis hin zu massiven Unregelmäßigkeiten bei der Vergaben von Mobilfunk- und Bergbaulizenzen. Ihren Ursprung hatten die Skandale bereits in der ersten Amtszeit der UPA, ans Licht kamen sie jedoch erst nach den Wahlen 2009.

Indiens Rechnungshof bezifferte später die Verluste für die öffentliche Hand: 21 Milliarden Euro beim Skandal um die Vergabe von Mobilfunklizenzen (2G Licences Scam), bei dem Bürokraten und Politiker Anbietern Lizenzen systematisch unter Wert verkauften und dafür hohe Schmiergelder kassierten; 22 Milliarden Euro im sogenannten Coalgate Skandal, bei dem es um billig vergebene Lizenzen für den Kohleabbau ging. Dabei geriet auch der Premier in die Kritik, der in dieser Zeit die Verantwortung über das Kohleministerium innehatte.

Mehr noch als die Skandale verärgerten die indischen Bürger die galoppierende Inflation mit massiv steigenden Verbraucherpreisen und die Unfähigkeit der UPA, etwas dagegen zu tun. Viele sahen einen Zusammenhang zwischen ihren persönlichen Sorgen und der Korruption im Land, durch die sich viele Politiker auf Kosten der Allgemeinheit bereicherten. Die Quittung dafür bekam die Kongresspartei erstmals Ende 2013 bei Regionalwahlen in den nordindischen Bundesstaaten Rajasthan, Madhya Pradesh, Chhattisgarh and Delhi, die sie haushoch verlor. Für viele war das ein Vorgeschmack auf die Parlamentswahlen 2014.

Führungskrise 1: "Vermeidung harter Entscheidungen"

Was also lief falsch in Singhs zweiter Amtszeit? Für viele Beobachter war nicht die Botschaft das Problem, sondern die Glaubwürdigkeit des Überbringers. Denn anders als zuvor blieben selbst ausgeräumte Vorwürfe und Anschuldigungen an der Regierung haften.

In der ersten Amtszeit der UPA konnte der Premier dank einer Wirtschaftsentwicklung mit Wachstumsraten um neun Prozent ein Reformprogramm voranbringen. Interner Link: Sonia Gandhi, Kongressparteichefin und einflussreiche Vorsitzende des Koalitionsrates, glich die wachsenden ökonomischen Ungleichheiten im Land mit Maßnahmen für die Armen aus – wie dem Arbeitsbeschaffungsprogramm MNREGA oder einem Schuldenschnitt für Bauern in Höhe von umgerechnet 8,3 Milliarden Euro. Die Mischung aus Reformen und Sozialleistungen erzeugte eine Wohlfühlatmosphäre bei der aufstrebenden Mittelklasse aber auch bei den unterprivilegierten Schichten, was sich 2009 in einem in seiner Deutlichkeit nicht erwarteten Wahlerfolg für die Kongresspartei niederschlug.

Mittel zum Erfolg war in der ersten Amtszeit auch ein regelmäßig tagendes Gremium, das Meinungsverschiedenheiten zwischen der Kongresspartei und den kleineren Koalitionspartnern aus dem Weg räumte. In der zweiten Amtszeit gab es diese Einrichtung nicht mehr. Hinzu kam die Beschaffenheit der ersten UPA-Regierung, die aufgrund fehlender Stimmen im Parlament auf die Unterstützung linker Parteien angewiesen war. Das Beharren der Linken auf einem gemeinsamen Minimalprogramm – Common Minimum Programme – zwang die Regierung, auf Kurs zu bleiben. Auch dieser Kontrollmechanismus fehlte in der zweiten Amtszeit.

Auch Sonia Gandhi, die 2004 auf das Amt der Regierungschefin verzichtet hatte und deren politisches Gewicht dadurch gestiegen war, steuerte die UPA sicher durch die erste Amtszeit. Sie war in der Lage, bei Meinungsverschiedenheiten wie in Fragen der Privatisierung von Staatsbetrieben und Subventionsabbau oder der Aussöhnung mit Pakistan effektiv zwischen den Koalitionspartnern zu vermitteln. Premier Singh etwa, der in einem Dorf im heutigen Pakistan geboren wurde, wollte unbedingt einen Durchbruch in den gestörten Beziehungen mit dem Nachbarn herbeiführen, wurde aber immer wieder ausgebremst.

"Bei der Regierungsführung geht es jedoch nicht nur um die Verabschiedung von RTI, MNREGA oder anderen Sozialprogrammen", findet ein politischer Beobachter. "Sondern es geht in erster Linie darum, bei Bedarf auch harte Entscheidungen zu treffen, um Probleme zu lösen." Das sei in der zweiten Amtszeit der UPA nicht mehr passiert.

Führungskrise 2: "Wie die Katze um den heißen Brei"

Die Wirtschaftsprobleme in Indien brachten zwischen 2009 und 2014 auch Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierung und Kongresspartei ans Licht. Die National Food Security Bill etwa galt als Sonia Gandhis Lieblingsprojekt und sollte eigentlich zum Stimmenfänger für die Wahlen 2014 werden. Doch es dauerte vier Jahre, bis das Gesetz verabschiedet werden konnte, wobei Premier Singh und andere Minister es lange als vermeidbare "populistische" Maßnahme ablehnten. "Das Gesetz durchlief so viele eigens dafür gegründete Dienststellen, dass am Ende niemand mehr wusste, wer eigentlich die Entscheidungshoheit hat", erinnert sich ein Regierungsberater. Als das Gesetz 2013 schließlich doch kam, blieb kaum Zeit, um es vor den Wahlen 2014 adäquat umzusetzen.

Ein Musterbeispiel für die Schieflage innerhalb der zweiten UPA-Regierung ist auch die Handhabung der Gründung des Bundesstaates Telengana, der aus dem südlichen Staat Andhra Pradesh herausgebrochen werden sollte. Ende 2009 hatte die UPA die Frage zunächst positiv beschieden, dann aber kalte Füße bekommen. Erst Anfang 2014 wachte sie plötzlich auf und brachte die Gründung des neuen Bundesstaates auf den Weg. Das politische Hin und Her sorgte nicht nur für böses Blut in der betroffenen Region, sondern könnte die Kongresspartei bei den Wahlen auch die erhofften Stimmen aus Telengana kosten.

Die Probleme der UPA zwischen 2009 und 2014 sind dabei vor allem auf Führungsschwäche zurückzuführen, denn es gab niemanden, der vorneweg marschierte. Minister führten ihre Ressorts wie Lehnsgüter. Der Premier traf kritische Entscheidungen erst nach Abstimmung mit Arbeitsgruppen, denen ja nach Problemfeld mehrere Minister seiner Regierung (Group of Ministers) angehörten. Hinzu kam, dass sich Singh im Umgang mit Bürokraten immer wohler gefühlt hat, als im Umgang mit Politikern. Zudem sorgte nicht zuletzt sein Schweigen zu wichtigen politischen und gesellschaftlichen Themen für Kritik, denn der Premier schlich um schwierige Fragen herum, wie die Katze um den heißen Brei.

Auch Sonia Gandhis Rolle war geschwächt. Im Jahr 2011 musste sie sich wegen einer nicht näher benannten Erkrankung mehrere Wochen lang in den Vereinigten Staaten behandeln lassen. Ihr Gesundheitszustand veranlasste sie dazu, ihren Sohn Rahul in die Verantwortung zu ziehen, der als Vizepräsident der Kongresspartei das politische Tagesgeschäft übernehmen musste. Allerdings scheute der sich, politisch in die Offensive zu gehen.

Obwohl Rahul Gandhi seit langem als zukünftiger Premierminister gehandelt wird, hatte der Spross der Interner Link: Nehru-Gandhi-Familie sich zum Verdruss vieler Parteimitglieder jahrelang gegen eine stärkere Führungsrolle gesträubt. Erst nach den für die Kongresspartei verheerenden Landtageswahlen Ende 2013 gab er seine Zurückhaltung auf und krempelte die Ärmel hoch. Er begann damit, ein junges Team um sich zu versammeln, was er schon nach dem Wahlsieg 2009 hätte tun sollen, als Interner Link: Indiens Jugend in ihm einen Hoffnungsträger zu sehen begann. Nun sorgt der Machtwechsel von Alt zu Jung innerhalb der Kongresspartei für Spannungen und böses Blut, denn die alte Garde fürchtet um ihren Einfluss. Dabei hätten die Reihen vor den wichtigen Parlamentswahlen 2014 eigentlich geschlossen werden müssen.

"Von Anfang bis Ende auf Nummer sicher"

Würde die Geschichte den 81-jährigen Manmohan Singh besser beurteilen, wenn er schon 2009 in den Ruhestand gegangen wäre? Der renommierte indische Historiker Ramachandra Guha glaubt das. So einfach lässt sich das allerdings nicht sagen. Zum einen hatte die Kongresspartei Singh im Jahr 2009 als Kandidaten für das Premierministeramt ins Rennen geschickt. Zum anderen wird der Wahlerfolg neben Sonia und Rahul Gandhi vor allem ihm zugeschrieben. Deutlich wurde das an dem hohen Stimmenanteil in den Städten, wo sich die Mittelschicht von dem ehrlichen und reformorientierten Premierminister angezogen fühlte.

Trotz der schwierigen Mehr-Parteien-Koalition und der starken Rolle Sonia Gandhis innerhalb der UPA hätte sich Singh stärker durchsetzen können – zum einen bei bestimmten Themen, zum anderen wenn es um die Besetzung von Posten mit korruptionsbelasteten Politikern ging. Zwar hofft Singh, dass ihn die Geschichtsschreiber einmal besser beurteilen als seine Kritiker. Allerdings ist seine Regierungszeit eine Geschichte vertaner Chancen mit wachsender Instabilität in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Dabei hatte Singh als erster Premierminister seit Interner Link: Jawaharlal Nehru das Mandat, zwei volle Amtsperioden zu regieren. Zudem war er der erste Angehörige einer religiösen Minderheit, der Sikhs, der die Geschicke eines Landes mit mehr als einer Milliarde Menschen gesteuert hat. Ungeachtet dessen entschied sich Manmohan Singh als Regierungschef dafür, von Anfang bis Ende auf Nummer sicher zu gehen.

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war viele Jahre lang Politikredakteurin der Zeitung "The Indian Express". Derzeit arbeitet sie als Kolumnistin für verschiedene indische Zeitungen und als politische Kommentatorin für mehrere Fernsehsender.