Eine führende internationale Wochenzeitung veröffentliche im vergangenen Jahr eine Karikatur zu BRICS. Sie zeigt China, das auf der Laufbahn voranstürmt, während die anderen Mitglieder – Indien, Russland, Brasilien und Südafrika – hinterherhecheln und versuchen, den Abstand zu verringern. Trotz der Übertreibung stellt die Karikatur eine wichtige Frage: Kann eine Staatengruppe, zu der die fünf weltweit am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften gehören, geschlossen bleiben, wenn eine gewaltige Lücke zwischen dem Führenden und den anderen Mitglieder klafft? Zuletzt kam eine weiterer Aspekt hinzu: Ist dem BRICS-Verbund nach der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise bereits wieder die Puste ausgegangen?
Wegen ihres rasanten wirtschaftlichen Wachstums haben die BRICS-Staaten nicht nur die Phantasie der Welt angeregt, sondern selbst mit der Möglichkeit geliebäugelt, es mit den etablierten Weltorganisationen und internationalen Finanzinstitutionen aufzunehmen. Doch in der Wirtschaftskrise scheinen auch die BRICS-Staaten ins Schwimmen geraten zu sein. Chinas einstmals zweistellige Wachstumsraten sind auf sieben Prozent gefallen. Indiens jährliches Wachstum ging von neun auf weniger als fünf Prozent zurück, während die Volkswirtschaften der anderen drei Mitglieder inzwischen sogar unter dieser Marke liegen. Vor diesem Hintergrund scheint die Frage vieler Beobachter gerechtfertigt, ob es sich bei der Erfolgsgeschichte von BRICS lediglich um einen großen Hype gehandelt hat.
Entstanden auf dem Reißbrett von Goldman Sachs
Seinen Anfang nahm die Erfolgsgeschichte auf dem Reißbrett der Investmentbank Goldman Sachs. Der Begriff BRIC tauchte 2005 zum ersten Mal in einem Bericht der Bank auf und schloss Brasilien, Russland, Indien und China ein. Es ging dabei um die beeindruckenden Wachstumsraten dieser Länder sowie ihren möglichen Einfluss auf die Weltwirtschaft. Bei den vier Regierungen fand die Idee Anklang. Folgerichtig trafen sich die Außenminister im Jahr 2006 erstmals am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen, um über Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu diskutieren. Drei Jahre, 2009, später kamen die Regierungschefs im russischen St. Petersburg zum ersten Gipfel zusammen. Im Folgejahr schloss sich Südafrika der Gruppe an, die sich fortan BRICS nannte.
Das förmliche Zusammenkommen der Gruppe zwang die Welt, Notiz davon zu nehmen. Denn trotz der Unterschiede zwischen den Mitgliedern hat BRICS einiges zu bieten. In den fünf Ländern leben fast drei Milliarden Menschen und das neue Netzwerk umfasst vier Kontinente. Zudem lag das gemeinsame Bruttoinlandsprodukt zu diesem Zeitpunkt bei umgerechnet mehr als 11,6 Billionen Euro. Die gemeinsamen Devisenreserven betrugen fast drei Billionen Euro und die fünf Volkswirtschaften wuchsen im Schnitt um zehn Prozent pro Jahr. In Anerkennung dieser phänomenalen Entwicklung wurden alle fünf BRICS-Staaten schließlich Teil der Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20).
Ungeachtet dessen stellt sich aufgrund der Disparitäten die Frage nach der Beständigkeit des BRICS-Verbundes. Brasilien und Russland sind wichtige Erdöl- und Erdgasproduzenten, in Südafrika gibt es riesige Kohlevorkommen. Auf der anderen Seite sind Indien und China energiearme Länder, die zur Aufrechterhaltung ihres Wirtschaftswachstums auf Rohstoff- und Energieimporte angewiesen sind. Ein weitere Unterschied ist die Bevölkerungsverteilung. Die Einwohnerzahlen Indiens (1,2 Milliarden) und Chinas (1,37 Milliarden) summieren sich auf mehr als 2,5 Milliarden. In Russland (143 Millionen), Brasilien (198 Millionen) und Südafrika (51 Millionen) leben weniger als 400 Millionen Menschen.
Auch die politischen Systems der fünf Länder ist grundverschieden. Indien, Brasilien und Südafrika sind Demokratien. China und Russland werden dagegen von einer dominierenden politischen Partei geführt, ohne größere Freiräume für oppositionelle Kräfte. Darüber hinaus sind China und Russland mit Vetorecht ausgestattete ständige Mitglieder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Indien, Brasilien und Südafrika streben eine ständige Mitgliedschaft im diesem wichtigsten Entscheidungsgremium der internationalen Staatengemeinschaft an. Warum also hat sich Indien BRICS angeschlossen? Und was verspricht es sich davon?
"Das dreifache K" – Forum für Konsultation, Kooperation und Koordination
Indiens Einstellung gegenüber BRICS muss im Zusammenhang mit den außen- und wirtschaftspolitischer Interessen des Landes gesehen werden. Dabei setzt Delhi vor allem auf Wachstum und Entwicklung, wobei es das Ziel hat, so wie auch andere Entwicklungs- und Schwellenländer, die eigenen Gesellschaft zu transformieren.
Trotz der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung im vergangenen Jahrzehnt gibt es in Indien noch immer zwischen 300 und 400 Millionen Menschen, die in großer Armut leben. Politisches Ziel der Regierungen war und ist es daher, so vielen Menschen wie möglich den Weg aus der Armut zu ermöglichen und sie zu Teilhabern von Wachstum und Entwicklung im Land zu machen. Indien Spitzenpolitiker wissen, dass wachsende Armut und eine größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich Ängste schüren, die zu ernsthaften sozialen Problemen, politischer Instabilität oder sogar zu Gewalt im Land führen könnten.
+Nachdem Indien im August 1947 ein unabhängig geworden war, richteten sich die Anstrengungen der Regierung vor allem auf eine gerechtere Verteilung des Wohlstands. Entsprechend strukturiert war das
Vor diesem Hintergrund bemüht sich Indien nun seine Optionen zu erweitern. Das Land hat seine Beziehungen mit zahlreichen Wirtschaftsverbünden in Asien und anderswo in der Welt vertieft. Neben BRICS engagiert sich Indien im Verbund IBSA (Indien, Brasilien, Südafrika). Zudem gibt es regelmäßig gemeinsame Treffen mit Russland und China im Verbund RIC. Hinzu kommen enge bilaterale Kontakte zu Russland und China.
+Indische Regierungsvertreter bezeichnen BRICS als "Das dreifache K". Das heißt, sie sehen den Verbund als Forum, das seinen Mitgliedern bei zahlreichen Fragen von gemeinsamen Interesse die Möglichkeit zur Konsultation, Kooperation und Koordination bietet. So möchte Indien auf internationaler Ebene die politischen und finanzpolitischen Institutionen reformieren, damit etwa im UN-Sicherheitsrat, beim Internationalen Währungsfonds (IWF) und in der Weltbank die veränderten globalen Kräfteverhältnisse zum Tragen kommen.
Chinas Dominanz gibt Anlass zur Sorge
Doch die Dominanz Chinas innerhalb des BRICS-Verbundes ist für die anderen Mitglieder durchaus ein Grund zur Sorge. Chinas Wirtschaftsleistung ist vier Mal größer als die von Indien, Russland und Brasilien und sogar fast 20 Mal größer als die von Südafrika. China ist für fast alle anderen Mitglieder der Gruppe der größte Handelspartner, dennoch hat diese das nicht davon abgehalten, vor internationalen Schiedsgerichten immer wieder Verfahren gegen China wegen Dumpings und anderer Handelsvergehen einzuleiten.
Indien und die anderen BRICS-Mitglieder beharren allerdings darauf, dass sie sich dadurch nicht auseinander dividieren lassen, da sie in zahlreichen wichtigen Fragen eine ähnliche Meinung vertreten würden. Dazu zählten der Klimaschutz und die Forderung nach mehr Mitsprache in Institutionen wie dem IWF, der Weltbank oder der Welthandelsorganisation.
Ungeachtet dessen gibt es Probleme, etwa bei der geplanten Gründung einer BRICS-Entwicklungsbank, die als Alternative zur Weltbank gesehen wird, in der die Stimmen der Entwicklungs- und Schwellenländer aufgrund der institutionellen Dominanz der Vereinigten Staaten und Europas oftmals übertönt werden. Bislang ist völlig unklar, wann die Bank an den Start gehen kann, denn trotz mehrere Verhandlungsrunden haben sich die Mitglieder in entscheidenden Punkten noch keine Einigung erzielt. Dazu zählen der Standort der Bank und die Zusammensetzung des Aufsichtsrates. Indische Regierungsvertreter behaupten allerdings, dass die Meinungsverschiedenheiten inzwischen vom Tisch seien und einer offiziellen Gründung beim BRICS-Gipfel in Brasilien Ende 2014 nicht mehr im Wege stehe.
Vor diesem Hintergrund stellt sich eine weitere Frage: Ist BRICS inzwischen zu einem Forum geworden, dass die
Indien hat die Möglichkeit, das Beste aus BRICS herauszuholen
Trotz gelegentlicher Probleme ist es Indien und China im vergangenen Jahrzehnt gelungen, eine kooperative Beziehung aufzubauen. Sicherlich ist das außenpolitische Verhältnis zu China für Indien nicht einfach zu gestalten. Die beiden asiatischen Großmächte beanspruchen denselben geographischen Raum und sind während ihres parallelen Aufstiegs immer wieder aneinander geraten. Doch die Regierungen in Delhi und Peking haben sichergestellt, dass derartige Ereignisse sich nicht zu größeren Konflikten ausgeweitet haben, die die bilateralen Beziehungen nachhaltig belastet hätten.
Wettbewerbsstärke und Konkurrenzdenken haben zwischen den beiden Ländern zu einer Rivalität um die Vorherrschaft (in Asien) geführt. Zudem sind Teile der gemeinsamen Grenze bis heute umstritten, was 1962 sogar zum Krieg geführt hat. Seitdem ist es jedoch gelungen, Ruhe entlang der Grenze zu bewahren. Und während es ernsthafte Bemühungen gibt, eine von beiden Seiten akzeptierte Lösung für das Grenzproblem zu finden, haben beide Staaten trotz aller bestehenden Differenzen ihre Zusammenarbeit in anderen Bereichen ausgebaut. Einer davon ist der bilaterale Handel, dessen Volumen von wenigen Millionen Euro innerhalb eines knappen Jahrzehnts auf heute umgerechnet 58 Milliarden Euro gestiegen ist – mit Spielraum für mehr. Auch deshalb sind beide Länder an Frieden und Stabilität in der Region interessiert, um Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung nicht zu gefährden.
Darüber hinaus wird in China mit Sorge beobachtet, dass die Vereinigten Staaten einen Kurswechsel vollzogen und Asien zum neuen Schwerpunkt der Außen- und Sicherheitspolitik erklärt haben. Die Führung in Peking weiß, dass es letztendlich die USA sind, mit denen China um die weltweite Vorherrschaft konkurriert. Aus demselben Grund schaut man skeptisch auf die enger werdenden Beziehungen zwischen Indien und den USA sowie anderen amerikanischen Alliierten in Asien. Wenn schon nicht als Partner, so würde sich Peking zumindest eine neutrale Haltung Indiens gegenüber China und den Vereinigten Staaten wünschen. Auch deshalb braucht es Indien Beteiligung in Foren wie BRICS.
Aus indischer Sicht ist das eine ideale Situation. Einerseits unterhält es gute Beziehungen zu Europa, den USA und dessen asiatischen Verbündeten. Andererseits hat es sein Verhältnis zu China verbessert. Dabei gibt BRICS Indien nicht nur die Möglichkeit, noch stärker mit China zu kooperieren und bei "gemeinsamen Anliegen" koordiniert zu handeln. Es bietet Indien auch die Chance, seine Beziehungen zu Russland, Brasilien und Südafrika zu vertiefen.
China wird innerhalb der BRICS-Gruppe auch in Zukunft Ehrfurcht und Bewunderung auslösen, so wie auch in anderen Teilen der Welt. Für Indien, dass als weit weniger aggressive Kraft als China angesehen wird, bietet das die ideale Möglichkeit, BRICS in seinem Sinne zu nutzen und das Beste für sich herauszuholen. Deshalb wird Indien wohl auch weiterhin aktives BRICS-Mitglied bleiben, dass von dem Staatenverbund profitiert.