Indien hat jahrelange Erfahrung im Umgang mit bewaffneten Aufständen. Doch keiner war bislang so herausfordernd wie die maoistische Rebellion in Ost- und Zentralindien, die zu einer Art Bürgerkrieg im Herzen des Landes geworden ist. Dort gibt es ganze Landstriche, die de facto von Maoisten kontrolliert werden und in denen der indische Staat kaum noch präsent ist. Vor einigen Jahren bezeichnete Ministerpräsident
Naxalbari inspirierte und radikalisierte eine ganze Generation
Die Saat der Rebellion wurde vor fast einem halben Jahrhundert in Westbengalen gelegt – in der Region Naxalbari an der Grenze zu Nepal und Ostpakistan (heute Bangladesch). Dort lebten vor allem Angehörige der indischen Ursprungsbevölkerung, die
Mitte der 60er Jahre gab es in vielen Teilen Indiens eine Hungersnot, von der Millionen betroffen waren. Besonders verheerend war die Lage in Bundesstaaten wie Bihar und Madhya Pradesh, wo zahlreiche Menschen starben. Einer Studie zufolge besaßen zu jener Zeit fünf Prozent der Bauern mehr als 40 Prozent des Ackerlandes. Vor allem für die landlosen Bauern führten deshalb einen ständigen Kampf ums Überleben. Um Hungersnöten entgegenzusteuern setzte die Regierung eine Reform der Landwirtschaft durch. Zwar konnte durch die sogenannte
Inspiriert Mao Zedong und seiner kommunistischen Ideologie begann in Naxalbari eine Gruppe unter Führung eines Aktivisten namens Charu Majumdar politisch aktiv zu werden. Innerhalb kurzer Zeit gelang es ihr, die landlosen Bauern zu motivieren, sich gegen seit Generationen bestehende Ungerechtigkeiten zu wehren. Im Mai 1967 brach die Gewalt erstmal aus, nachdem ein Polizeiinspektor von den Rebellen getötet worden war. Mitte 1968 gingen einige Aufständische nach China, wo sie militärisch und politisch geschult wurde. Die Maoisten wurden bald "Naxaliten" genannt – nach dem Dorf, in dem sich der Funke der Revolution entzündet hatte. Am Ende wurde er Rebellion mithilfe der Armee zerschlagen.
Obwohl der Aufstand von Naxalbari scheiterte, inspirierte er ein ganze Generation junger Leute, für die er der Beginn eines politischen Radikalisierungsprozesses war. Ohnehin waren die späten 60er Jahre eine aufregende Zeit für die Jugend der Welt. In China hatte die Kulturrevolution begonnen. Die USA bezogen Prügel in Vietnam. In den Straßen Kalkuttas warfen wütende Jugendliche Brandbomben auf Polizeiautos. Kinder einflussreicher Familien, die an angesehen Universitäten studierten, verzichteten auf lukrative Karrieren und zogen in entlegene Landesteile, um sich der Revolution anzuschließen. Für diese jungen Inder war Naxalbari Leitbild und Hoffnungsschimmer zugleich. Schließlich breitete sich die Rebellion in andere Regionen aus – etwa nach Midnapore westlich von Kalkutta oder nach Bihar.
Ausdehnung des maoistischen Einflussbereichs: "Hinaus in die Dörfer"
Die maoistische Bewegung in ihrer heutigen Ausdehnung und Stärke ist das Geisteskind des Lehrers Kondapalli Seetharamaiah aus dem Bezirk Warangal in Andhra Pradesh. Als Mitglied der Kommunistischen Partei (
Seetharamaiah war überzeugt von Maos Idee, zunächst eine Basis für die Guerilla zu etablieren, ohne die eine Revolution nicht erfolgreich sein könne. Bereits 1938 hatte Mao geschrieben: "Die Geschichte kennt viele Bauernaufstände, von denen keiner erfolgreich war. In der Zeit moderner Kommunikation und Technologie wäre es deshalb falsch, weiter daran zu glauben, den Sieg als vagabundierende Rebellen davontragen zu können." Auch aus eigener Erfahrung hatte Seetharamaiah gelernt, dass ein Aufstand ohne sichere Rückzugsräume für die Kämpfer unmöglich ist. Neben der Untergrundarbeit konzentrierte er sich jedoch gleichzeitig auf den Aufbau legaler Frontorganisationen und Massenbewegungen.
Die radikalen politischen Ideen von KS, wie Seetharamaiah genannt wird, inspirierten Studenten an den Universitäten von Andhra Pradesh. Viele davon verschrieben sich voll und ganz einem Leben für die "Volksrevolution". Auch die Gründung der Radikalen Studentengewerkschaft (Radical Students Union, RSU) am 12. Oktober 1974 geht auf KS zurück. Der erste RSU-Kongress mit Tausenden Teilnehmern fand 1975 in Hyderabad statt, wo über die Verknüpfung der studentischen Bewegung mit den Ideen der Revolution debattiert wurde. Im Jahr 1978 wurde eine weitere Frontorganisation ins Leben gerufen, die Radikale Jugendliga (Radical Youth League, RYL).
Bald darauf starteten RSU und RYL eine Kampagne mit dem Namen "Hinaus in die Dörfer" ("Go to the Villages" camgain). Als genialer Stratege hat KS diese Methode entwickelt, um die rebellierenden Studenten mit den Bauern zusammenzubringen. Zudem war es ein effektiver Weg, um das Parteiprogramm innerhalb der Bauernschaft zu verbreiten und aktive Mitstreitern unter den Dorfbewohnern zu finden. Einige der jungen Genossen erinnerten sich später daran, dass sie oft tagelang in abgelegenen Gebieten unterwegs waren, kaum etwas zu essen hatten und dass einige von ihnen vor Erschöpfung in Ohnmacht fielen.
Massive Ausbeutung der Adivasi durch Geschäftemacher und Beamte
Am 22. April 1980, dem Geburtstag Lenins, verkündete KS die Gründung der CPI/ML (People's War), einer neuen marxistisch-leninistischen Partei mit dem Zusatz "Volkskrieg", die sich dem bewaffneten Kampf verschreiben und später als People's War Group (sinngemäß: Volkskriegsbewegung, PWG) von sich Reden machen sollte. Im Juni 1980 entsandte KS die ersten sieben Einheiten mit jeweils fünf bis sieben Mitgliedern in die Waldgebiete von Dandakaranya am Ostufer des Godavari Flusses. Dort starteten die Maoisten ihre politische Arbeit unter Frauen und Kindern, die sich durch das Sammeln von Blättern eines Ebenholzbaumes – Tendu – mehr schlecht als recht ihren Lebensunterhalt verdienten.
In der gesamten Mittelgebirgsregion Dandakaranya, zu der neben dem Bezirk Bastar (heute Chhattisgarh) auch Gadchiroli in Maharashtra sowie Teile von Nord-Telangana gehören, lebten die Adivasi unter erbärmlichen Bedingungen. Geschäftemacher und Regierungsbeamte beuteten die Menschen gnadenlos aus. Für harte Arbeit wie das Sammeln von Bambus für die Papierproduktion oder von Tendu-Blättern für die Herstellung von Beedi-Zigaretten zahlten sie Hungerlöhne. Für ein Bündel mit 100 Tendu-Blättern bekamen die Adivasi gerade einmal fünf Paisa oder 0,05 Rupien, für 120 Bambusstöcke gab es eine Rupie (heutiger Wert etwa ein Euro-Cent). Einfluss auf die Bezahlung hatten die Adivasi nicht, denn die wurde von den Unternehmern mit den Dorfvorstehern ausgehandelt, die ebenfalls profitierten.
Nachdem die Maoisten in der Region aktiv geworden waren und die Adivasi zunehmend politisch mobilisiert hatten, änderte sich die Lage. Zu Beginn waren die Menschen den Maoisten gegenüber noch äußerst misstrauisch. Doch innerhalb weniger Jahren gelang es ihnen, in der gesamten Region Fuß zu fassen. Dort leisteten sie zunächst Entwicklungsarbeit. Bald jedoch konzentrierten sie sich darauf, gewaltsam gegen Repräsentanten des Staates und Angehörige der Sicherheitskräfte vorzugehen. Die maoistischen Kämpfer der ersten Stunde wurden dabei von Rebellen der separatistischen Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE) aus dem Inselstaat Sri Lanka um Umgang mit Waffen ausgebildet.
Zehntausend gut ausgebildete maoistische Kämpfer und eine "Teilzeit-Armee"
Im Jahr 2004 schlossen sich PWG und weitere maoistische Gruppen zu einer neuen Partei zusammen, der Communist Party of India (Maoist) oder CPI (Maoist). In den Folgejahren gewannen die Maoisten erheblich an Stärke und setzten den indischen Staat durch schwere Anschläge erheblich unter Druck. So töteten maoistische Kämpfer im April 2010 bei einem einzigen Angriff in der Region Bastar 76 Polizisten. Das war die höchste Opferzahl, die indische Sicherheitskräfte bis dahin bei einem Anschlag im eigenen Land zu beklagen hatten. Nach Angaben des Innenministeriums in Delhi verloren in dem Konflikt zwischen 2003 und 2012 insgesamt fast 8500 Menschen ihr Leben. Rund 60 Prozent davon waren Zivilisten, jeweils 20 Prozent gehörten den maoistischen Rebellen bzw. den Sicherheitskräften an.
Die Hauptkampfeinheit der Maoisten nennt sich Volksbefreiungs-Guerillaarmee (People's Liberation Guerrilla Army, PLGA) und umfasst etwa 10.000 gut ausgebildete Kämpfer, viele davon Frauen. Insgesamt sind rund 40 Prozent der maoistischen Rebellen weiblich. Neben der PLGA setzen die Maoisten in ihren Hochburgen auf die Unterstützung von Tausenden Adivasi. Diese Leute sind in der Lage, einfache Waffen zu handhaben und arbeiten in "Teilzeit" mit dem Maoisten zusammen, wann immer ihre Dienste gefragt sind.
Die Führung der Maoisten kommt vor allem aus den Städten. Ihr derzeitiger Oberbefehlshaber ist Mupalla Laxmana Rao, der unter seinem Kampfnamen Ganapathi bekannt ist. Er ist Anfang 60, hat einen Abschluss in Naturwissenschaften und stammt aus Nord-Telangana. Überhaupt wird die aktuelle Führungsspitze der Maoisten von Männern aus dieser Region dominiert, deren Muttersprache Telugu ist. Das geht vor allem auf die 80er Jahre zurück, als viele junge Leute von Verwandten und Freunden animiert wurden, sich der maoistischen Bewegung anzuschließen. Der Soziologe Doug McAdam von der Stanford Universität nennt das "strong-tie" Phänomen (sinngemäß: starkes Band).
Ihre Waffen beziehen die Maoisten unter anderem aus Angriffen auf Sicherheitskräfte. Bei einem Überfall auf ein Waffenlager in Orissa erbeuteten sie 2008 Tausende moderne Waffen wie Sturmgewehre vom Typ AK-47. In einigen Regionen betreiben die Maoisten selbst Waffenfabriken. Zudem bekommen sie inzwischen auch Waffen aus chinesischer Produktion. Diese werden über Myanmar und Bangladesch in den
Unter Druck, aber motiviert und kampfbereit
In den letzten Jahren sind die Maoisten aufgrund anhaltender Operationen der Sicherheitskräfte immer stärker unter Druck geraten. Hinzu kommt eine Führungskrise, da ein Großteil der Spitzenkräfte entweder verhaftet oder getötet wurde. Die verbliebenen Kader sind fast alle über 60 Jahre alt, wobei in jüngerer Vergangenheit einige ranghohe Mitglieder der Partei aus Protest gegen die Dominanz Telugu sprechender Kader den Rücken gekehrt haben. Auch die Anwerbung neuer Mitglieder aus städtischen und studentischen Milieus ist inzwischen nahezu vollständig zum Stillstand gekommen.
Aber zu sagen, die Maoisten seien am Ende, wäre verfrüht. Noch immer haben sie die Kapazität, zuzuschlagen und gezielt gegen Vertreter des indischen Staates vorzugehen, wie Anschlägen gegen Sicherheitskräfte und Politiker in jüngster Zeit gezeigt haben. Die Maoisten sind nach wie vor hoch motiviert und kennen das Gelände, in dem sie operieren – im Gegensatz zu den Sicherheitskräften, die angesichts der rauen Natur und fehlender Infrastruktur in den Urwäldern Zentralindiens mit erheblichen Problemen zu kämpfen haben.
Die indische Regierung beharrte jahrelang auf dem Standpunkt, die maoistische Rebellion sei ein Problem von Recht und Ordnung. Doch aufgrund der verstärkten Berichterstattung in den indischen Medien hat sich auch bei den politisch Verantwortlichen die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Aufstand vor allem auf sozioökonomische Probleme zurückzuführen ist. Die aus Städten stammende Führungsspitze der Maoisten mag sich der Bewegung aus ideologischen Gründen angeschlossen haben. Doch die Adivasi, die den Kern der Guerilla stellen, haben Hunger, Armut und Ausgrenzung zu den Waffen greifen lassen.
Das Vakuum, das der indische Staat vielerorts zurückgelassen hat, wurden von den Maoisten gefüllt. Bis heute gibt es Adivasi, die nicht wissen, dass eine Institution wie die indische Zentralregierung überhaupt existiert. Für diese Menschen sind die Maoisten die Regierung – nicht zuletzt weil sich Neu-Delhi nie für sie interessiert hat.
Inzwischen hat die Regierung versprochen, die von maoistischer Gewalt betroffenen Regionen wirtschaftlich zu entwickeln. Bislang allerdings ist nicht viel geschehen – und die Adivasi sind in dem Krieg zwischen Maoisten und Staat gefangen. Niemand weiß, was in den entlegenen Regionen des Landes im Namen der Aufstandsbekämpfung genau geschieht. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass Adivasi unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Maoisten ihrer Lebensgrundlage beraubt und aus ihrer Heimat vertrieben werden. Ein Grund dafür ist auch der Reichtum an Bodenschätzen in der Unruheregion. Der indische Staat scheint sich in seiner Gier nach Rohstoffen längst dafür entschieden zu haben, die Rechte seiner dort lebenden Bürger zu ignorieren.