Vom bekanntesten Bahnhof Indiens bis zur bekanntesten Börse des Landes ist es nur ein Katzensprung. Trotzdem steckt das Taxi vom imposanten Victoria Terminus (heute offiziell Chhatrapati Shivaji Terminus) zur Bombay Stock Exchange bereits seit einer guten Viertelstunde auf der Mahatma Gandhi Straße fest, die wie so viele Straßen und Plätze in Indien nach der einzigen politischen Ikone des Landes benannt ist, auf die sich fast alle Staatsbürger einigen können. Die vierspurige Straße haben Auto- und Motorradfahrer routiniert zu einer achtspurigen gemacht, trotzdem bewegt sich der Verkehr in der Rushhour so gut wie gar nicht.
Nirgendwo sonst in Indien zeigt sich das massive Infrastruktur-Problem des Landes so deutlich wie im Zentrum in der Wirtschaftskapitale Mumbai (früher Bombay). Schon vor Jahren haben die ersten Firmen deshalb begonnen, den vollgestopften Süden der Halbinsel zu verlassen, auf der Mumbais Innenstadt liegt. Die Zentralen von Volkswagen und Deutscher Bank sowie wichtige Konsulate finden sich inzwischen in den ehemaligen Vororten, die längst selbst zu Metropolen in der Metropole geworden sind und mit ähnlichen Verkehrsproblemen zu kämpfen haben.
Noch vor fünf Jahren hörte man trotz des damals schon allgegenwärtigen Verkehrskollapses kaum Beschwerden über die Infrastruktur. Natürlich, ein Ausbau war bitter nötig, aber Wachstumsraten der indischen Wirtschaft jenseits der acht Prozent ließen solche Probleme in den Hintergrund rücken.
Hausgemachte Probleme
Ein Blick auf die nackten Zahlen zeigt jedoch, wie stark die indische Wirtschaft in den vergangenen zwei Jahren an Dampf verloren hat. Im Finanzjahr von April 2012 bis März 2013 betrug das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gerade einmal 3,2 Prozent. Für indische Verhältnisse schon fast eine Katastrophe – der Wert ist der niedrigste seit der großen Wirtschaftskrise des Landes im Jahr 1991. Die indische Rupie hat gegenüber dem Euro seit Mitte 2012 rund ein Viertel an Wert verloren.
Die Probleme sind zum größten Teil hausgemacht. Weder mit schleppenden Exporten noch mit der Bankenkrise in den USA lässt sich der aktuelle Kampf der indischen Wirtschaft erklären. Denn mit weniger als 20 Prozent Exportquote ist das Land vergleichsweise wenig abhängig von der Nachfrage des Weltmarkts, und eine vergleichsweise starke Bankenregulierung schwächt die Einflüsse internationaler Banken-Turbulenzen zumindest ab.
Gleich mehrere politische Eklats sorgten in den Jahren 2011 und 2012 dafür, dass sowohl der Abbau von Eisenerz als auch der von Kohle in Indien empfindlich zurückgefahren wurde. Vor allem in den Bundesstaaten Karnataka und Goa sorgten illegaler Abbau, finanzielle Ungereimtheiten und Umweltproteste dafür, dass der Eisenerz-Abbau gerichtlich verboten oder zumindest deutlich eingeschränkt wurde. Höhere Ausfuhrzölle führten zudem dazu, dass das Land im Jahr 2012 weniger als halb so viel Eisenerz exportierte wie noch im Jahr zuvor.
Der größte Kohleabbau-Skandal der jüngeren Geschichte schlug zudem so hohe Wellen, dass er seinen eigenen Namen bekam. Im März 2012 wurde unter dem Namen Coalgate bekannt, dass die indische Regierung über Jahre hinweg Bergbaurechte ohne Ausschreibung an einflussreiche Unternehmer vergeben hatte. Während die Regierung dieses Vorgehen verteidigte, warf die Opposition ihr vor, dadurch den indischen Staat um Steuereinnahmen von mehr als 200 Milliarden US-Dollar gebracht zu haben – und außerdem den Ausbau der Kohleförderung erheblich eingebremst zu haben.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Produktionsengpässe jedenfalls wurden an vielen Stellen sichtbar: Das ohnehin mit Energiemangel kämpfende Land erlitt unter anderem den größten Stromausfall in der jüngeren Geschichte, bei dem bis zu 600 Millionen Menschen mit Unterbrechungen für fast zwei Tage ohne Elektrizität waren. Auch die Industrieproduktion ging angesichts fehlender Rohstoffe zurück.
Politischer Stillstand
Verstärkt wurden die Probleme durch eine beinahe untätige Regierung, die wichtige Liberalisierungsvorhaben auf Eis legte oder verwässerte, was die Kauflust internationaler Investoren weiter schwächte. Aus europäischer Sicht ist vor allem das seit Ewigkeiten geplante Freihandelsabkommen zwischen Indien und der Europäischen Union ein Ärgernis. Nach mehr als fünf Jahren und mehr als einem Dutzend Verhandlungsrunden scheitert das Abkommen Mal um Mal, weil die Partner sich nicht auf einheitliche Zölle und Patentrichtlinien einigen können.
Jetzt wird durch das verlangsamte Wirtschaftswachstum sichtbar, was vorher nur einzelne Branchen belastet hat und deshalb meist nur bedingt bis in das Bewusstsein aller Beteiligten vorgedrungen ist. "Deutsche Einzelhandelskonzerne wie zum Beispiel Metro haben schon seitdem sie in Indien sind das Problem, dass es dort unwahrscheinlich schwierig ist, eine belastbare Kühlkette aufzubauen", sagt Noor Naqschbandi von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Das liegt nicht nur an der mangelnden Zahl und der schlechten Qualität der Straßen- und Schienenwege, sondern auch an den kleinteiligen Regulierungsgebieten. Für fast jeden Bundesstaat brauchen Transportunternehmen andere Genehmigungen. Das erhöht den Bürokratieaufwand – ebenso wie die Zahl der indischen Beamten, die potenziell Bestechungsgelder fordern könnten.
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Kurzfristiges Minus, langfristiges Potenzial
Auch in harten Zahlen ist der Rückgang des deutsch-indischen Handels zu spüren. Die deutschen Exporte nach Indien sind im Jahr 2013 um rund zwölf Prozent zurückgegangen, die indischen Ausfuhren nach Deutschland immerhin um 1,5 Prozent. Vom ursprünglich angestrebten Ziel, Waren im Wert von 20 Milliarden Euro auszutauschen, sind die beiden Länder immer noch 2,5 Milliarden Euro entfernt. Noch im Frühjahr 2011, als Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Besuch in Neu-Delhi war, galt es als Ding der Unmöglichkeit, dass die 20-Milliarden-Marke nicht schon bald geknackt würde.
Allerdings vergessen viele Kritiker beim Betrachten der Zahlen, dass gerade deutsche Firmen in Indien eher in das Potenzial des Landes investieren als in seine aktuelle Wirtschaftslage. Deutsche Unternehmen gelten als verlässliche Partner, die nicht nur schnelle Geschäfte machen wollen. Schon in den 1950er Jahren entstanden erste Werke großer deutscher Firmen in Indien – zum Beispiel von Bayer, Bosch oder Krupp. Auch Mercedes-Benz kam damals schon ins Land und baute zusammen mit der indischen Firma Tata Motors Lastwagen. Heute sind laut Schätzungen der Deutsch-Indischen Handelskammer mehr als 1000 deutsche Unternehmen direkt in Indien aktiv, darüber hinaus haben gut 1500 zumindest eine Repräsentanz oder ein Verbindungsbüro auf dem Subkontinent.
Und an diesem grundsätzlichen Potenzial hat sich in den vergangenen Jahren wenig geändert. "Lange Zeit haben die Optimisten Indien einfach etwas zu positiv gesehen", sagt Felix Schmidt von der Friedrich Ebert Stiftung. "Das war genauso übertrieben wie der aktuelle Pessimismus. Es steht um Indien lange nicht so schlimm, wie es in jüngster Zeit international dargestellt wurde."
Einsicht erst, wenn es schon wehtut
Im Gegenteil: Auf viele der aktuellen Probleme weisen Kritiker schon lange hin, sei es die Korruption, die mangelhafte Infrastruktur oder der zuletzt fast gänzlich fehlende Reformwille der Regierung. Doch erst jetzt, wo das Wirtschaftswachstum spürbar zurückgeht, wird die allgemeine Stimmung schlechter. "Indien war schon immer ein attraktiver, aber schwieriger Markt", sagt Schmidt. "Vor allem in der Verwaltung gibt es eine Menge Potenzial für Modernisierung. Die Einsicht für diesen Nachholbedarf kommt in Indien aber meist erst, wenn es schon wehtut."
Dieser Punkt ist für viele inzwischen erreicht. "Die deutschen Firmen trifft vor allem der Rückgang des Wachstums in der Industrie", sagt Bernhard Steinrücke, Geschäftsführer der deutsch-indischen Handelskammer in Mumbai. "Zurzeit verzögern sich zum Beispiel viele Bauvorhaben für Kraftwerke, was schlecht ist für die deutschen Maschinenbauer in Indien. Auch im Fahrzeugbereich gab es Rückgänge, zum Beispiel bei Volkswagen oder der Lkw-Sparte von Mercedes." Nach jahrelangem Wachstum war im vergangenen Jahr der Pkw-Neuabsatz in Indien um rund ein Zehntel zurückgegangen. Allerdings: Mercedes, Audi und BMW konnten mit ihren im Luxussegment positionierten Autos die Marktanteile weitgehend halten oder sogar noch ausbauen.
Dennoch warnt der Indien-Experte davor, wegen dieser Rückschläge den Glauben an die langfristige Wachstumsgeschichte des Landes zu verlieren: "Indien hat nach wie vor eine phantastische Demographie, mehr als die Hälfte der Milliardenbevölkerung ist nicht älter als 25 Jahre. Die Nachfrage nach Konsumgütern, aber auch Energie oder Mobilität wird zwangsläufig weiter steigen, egal was hier politisch passiert", glaubt Steinrücke.
Die neue Mittelschicht
Insbesondere die aufstrebende indische Mittelschicht gilt nach wie vor als der Schlüssel zu gigantischen Marktanteilen in Asien. Je nachdem, ab welchem Einkommen ein Haushalt zur Mittelschicht gezählt wird, gehören ihr schon heute zwischen 50 und 400 Millionen Menschen an. McKinsey definiert die Mittelschicht zum Beispiel als Haushalte mit einem Jahreseinkommen zwischen 4.000 und 22.000 US-Dollar. Von diesen Haushalten gibt es in Indien zurzeit geschätzt 50 Millionen.
Unabhängig von ihrer Definition wird der indischen Mittelschicht studienübergreifend seit Jahren attestiert, sowohl beim Einkommen als auch bei der reinen Anzahl immer weiter zu wachsen. So rechnen zum Beispiel die Berater von McKinsey damit, dass zwischen 2005 und 2025 satte 500 Millionen Menschen in die indische Mittelschicht aufsteigen werden. Laut Schätzungen der Boston Consulting Group soll diese erstarkende Mittelschicht ihren Konsum zwischen 2010 und 2020 mehr als verdreifachen – von umgerechnet 715 Milliarden auf 2,6 Billionen Euro.
Für Handelskammer-Chef Steinrücke steht deshalb fest, dass die Einstiegschancen für deutsche Unternehmen in Indien jetzt sogar etwas besser sind als noch vor zwei oder drei Jahren. "Der Arbeitsmarkt steht weniger unter Druck, und potenzielle Geschäftspartner sind angesichts der nachlassenden Kapitalflüsse aus dem Ausland vielleicht eher zu Kompromissen bereit", sagt er. "Dazu kommt der hervorragende Ruf, den besonders der deutsche Maschinenbau in Indien immer noch hat. Wenn es um Qualität geht, schauen die Kunden zuerst auf deutsche Firmen."
Deutsche investieren immer noch
Und die deutschen Firmen schauen weiterhin nach Indien. Erst im Jahr 2012 war die internationale Lkw-Produktion von Bharat-Benz, der indischen Daimler-Tochter, in der Nähe der Hafenstadt Chennai (früher Madras) eröffnet worden. Anfang 2014 legte das Unternehmen am selben Ort den Grundstein für eine 50 Millionen Euro teure Produktionsstätte für Busse. Trotz der schlechteren Konjunkturaussichten und trotz der hohen Preissensitivität der indischen Verbraucher ist die erklärte Strategie des Unternehmens die Qualität. Denn man will sich ungeachtet der meist etwas höherer Preise mit hochwertigen Produkten gegen die zurzeit noch übermächtige indische Konkurrenz durchsetzen.
Auch der Kosmetikprodukte-Hersteller Beiersdorf kündigte im ersten Quartal 2014 an, schon 2015 ein eigenes Werk mit gleich zu Beginn 300 Mitarbeitern in Indien eröffnen zu wollen. Auch hier sieht man vor allem das Potenzial eines Landes mit mehr als 1,2 Milliarden Einwohnern. Ein Grund dafür ist laut Beiersdorf auch die zurzeit schwache indische Rupie, die von vielen deutschen Exporteuren als Gefahr gesehen wird. Durch die Fertigung vor Ort sollen die Währungsschwankungen langfristig ausgeglichen werden.
Andere sind bereits seit mehr als 20 Jahren auf dem Subkontinent vertreten. So zum Beispiel die deutsche Lapp-Gruppe, die inzwischen mit Bangalore und Bhopal an zwei indischen Standorten Kabel produziert, und deren Erfolg eng mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Landes verknüpft ist. Im Januar 2014 veranstaltete Firmenchef Andreas Lapp zum zehnten Mal das Weinfest Stuttgart meets Mumbai in der indischen Metropole – und sprach sich bei dieser Gelegenheit deutlich für das Schwellenland aus: "Indien ist meine Leidenschaft."
Handelskammer-Chef Steinrücke betont, dass deutsche Unternehmen trotz der Delle im indischen Wirtschaftswachstum und trotz der schwachen Rupie immer noch deutlich mehr Waren nach Indien ausführen als aus Indien importieren. "Das zeigt uns, dass die Wirtschaftsbeziehungen immer noch intakt sind. Wir sollten diesen Rückgang nicht überbewerten", sagt er. Allerdings zeigen die aktuellen Probleme der indischen Wirtschaft auch ganz klar die Schwächen der Wachstumsstory des Subkontinents. Die große Indien-Euphorie ist verflogen. "Der Blick wird realistischer", sagt Steinrücke. "Trotzdem ist auf lange Sicht das größte Risiko immer noch, nicht nach Indien zu kommen."