Die gesteigerte Rivalität der europäischen Großmächte im Kampf um Einflusssphären und Stützpunkte in Asien brachte China ab 1840 auf die Bühne der europäischen Machtpolitik. Die gewaltsame Öffnung durch die Opiumkriege (1840 und 1860), die Etablierung fremdbestimmter Einflusssphären in wohlhabenden chinesischen Provinzen, das Abtreten kolonialer Stützpunkte (Hongkong, Qingdao, Port Arthur) und exterritorialer ausländischer Niederlassungen (Shanghai, Hankou, Tianjin) wurden gegen chinesischen Widerstand und unter Gewaltanwendung durchgesetzt. Sie offenbarten eine grundlegende Schwäche des Qing-Reiches (1644-1911).
Diese Ereignisse gehören zu einer in China als „Jahrhundert der nationalen Demütigung“ (bainian guochi, 百年国耻) bekannten Ära von 1839 bis 1949, eine Zeit voller unerbittlicher Kriege, Besetzungen und Revolten in der Geschichte des Landes.
Der Begriff verschwindet aber weitgehend aus dem politische Vokabular nach 1949. Als
Das Reich der Großen Qing
Seit 1644 wurde China von der Dynastie der Qing regiert. Es handelte sich dabei um eine sogenannte Fremddynastie, die aus der kriegerischen Eroberung Chinas durch das Volk der Mandschuren hervorgegangen war.
Im 19. Jahrhundert bahnten sich jedoch Veränderungen an, die zunächst die innere Ordnung als auch später die Weltmachtstellung des Qing Reichs in Frage stellten. Die innere Krise hatte verschiedene Ursachen: Das durch die Blütezeit des 18. Jahrhunderts ausgelöste Bevölkerungswachstum hatte einen präzedenzlosen Raubbau der natürlichen Ressourcen ausgelöst und dadurch eine ökologische Krise provoziert.
Untrügliches Anzeichen für die schwere Krise des kaiserlich-konfuzianischen Chinas war die zunehmende Häufigkeit von Aufständen. Insgesamt vier große Rebellionen erschütterten das Reich der Mitte. Zwei davon – der christlich inspirierte Taiping-Aufstand (1851-1864) in Zentral- und Südchina und der Nian-Aufstand (1851-1868) in Nordchina – hatten von ihrer Größe und Ausdehnung her das Potential, die Qing-Dynastie zu stürzen. Erst nach anderthalb Jahrzehnten des Krieges gelang es der Qing-Regierung beide fast zeitgleich stattfindende Aufstände mit Gewalt niederzuschlagen, jedoch nur zum Preis großer Zerstörungen und erheblicher Verluste an Menschenleben – alleine im Kontext des Taiping-Aufstands circa 30 Millionen Todesopfer.
Die Ankunft des europäischen Imperialismus
Die Rolle christlicher Ideen oder der erwähnte Import von Opium aus der britischen Kolonie Indien verweisen bereits auf die sich ankündigenden Auswirkungen, die die Ankunft der europäischen Mächte in China zeitigen würde. Der historische Wendepunkt lässt sich ziemlich genau im Jahr 1793 datieren,
Die gewaltsame Öffnung Chinas
Die konkreten Ziele der Europäer bestanden zunächst in der gewaltsamen Öffnung Chinas für westliche Produkte, wobei insbesondere Großbritannien in Ermangelung anderer absetzbarer Güter weiterhin und immer mehr indisches Opium nach China einführte. Europäische Beobachter sprachen immer häufiger vom enormen Absatzmarkt in China für europäische Waren.
In China trachteten die imperialistischen Staaten daher vor allem danach, über den Freihandel hinaus verlässliche Bedingungen zu schaffen für die Investition europäischen Kapitals. Pachtgebiete, städtische Konzessionen (Residenzgebiete unter ausländischer Verwaltung) sowie Interessensphären (Gebiete, in denen einem bestimmten Staat Rechtstitel zur Finanzierung und Realisierung von Eisenbahn- und Bergwerksunternehmen zugesprochen wurden) stellten die Mittel dar, die die europäischen Mächte zur Durchsetzung ihrer Interessen anwandten.
Mit Hilfe diplomatischen Drucks und militärischer Drohung wurde ein wirkungsvoller Interventionsmechanismus geschaffen, der es erlaubte das chinesische Reich zu Zugeständnissen zu zwingen. Institutionalisiert wurde dieser informelle Imperialismus durch ein System von Verträgen, das im Laufe des 19. Jahrhunderts geschaffen wurde.
Die Einfuhr von Opium nach China hatte tiefgreifende und verheerende Auswirkungen auf die chinesische Gesellschaft. Der Opiumkonsum führte zu einer weit verbreiteten Abhängigkeit, die nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die kaiserlichen Truppen und Beamten erfasste. Diese Abhängigkeit schwächte die militärische und administrative Effizienz des Reiches erheblich. Korruption unter den Beamten förderte den illegalen Handel und die Verbreitung des Opiums im ganzen Land. Aus diesen Gründen erließ der Kaiser bereits 1729 ein striktes Verbot von Opium, um der zunehmenden sozialen und wirtschaftlichen Destabilisierung entgegenzuwirken. Die Zahl der Opiumabhängigen stieg jedoch weiterhin, was die Notwendigkeit dieses Verbots unterstrich.
Die britischen Kaufleute waren jedoch auf den Absatz von Opium angewiesen, um aus den Erlösen in Europa stark nachgefragte Waren wie Seide, Porzellan oder Tee zu erwerben. Umgekehrt gab es in China kaum Interesse an europäischen Industriegütern und anderen Handelswaren. Folglich mussten die Europäer chinesische Produkte mit Gold oder Silber bezahlen. Der Opiumhandel, der unter chinesischen Abhängigen eine stetige Nachfrage nach importiertem Opium schuf, löste dieses chronische Handelsungleichgewicht zugunsten des britischen Empires. Der Anteil des Opiums am britischen Export stieg erheblich, was die wirtschaftliche Abhängigkeit von diesem lukrativen, wenn auch verheerenden Handel verdeutlichte. Wurden zwischen 1820 und 1830 jährlich circa 10.000 Kisten Opium nach China eingeführt, stieg die Zahl auf rund 40.000 Kisten im Jahr 1838, was das Handelsbilanzdefizit Chinas zugunsten Britanniens umkehrte.
Der Konflikt mündete schließlich im Ersten Opiumkrieg (1840-1842). Für Großbritannien ging es dabei um die Öffnung Chinas für westliche Produkte und auch westliche Missionare. Für China ging es neben der Verhinderung der Einfuhr schädlichen Opiums auch um die Wahrung der chinesischen Souveränität. Das chinesische Reich, das über keine militärischen Machtmittel zu Wasser verfügte, unterlag der aus zwanzig beweglichen Schiffen bestehenden britischen Flotte schnell. 1842 wurde im Vertrag von Nanjing der Konflikt beigelegt. China musste weitgehende Zugeständnisse machen: Der Vertag erlaubte es ausländischen Kaufleuten, sich in fünf Hafenstädten (Shanghai, Ningbo, Fuzhou, Amoy, Kanton) niederzulassen und Handel zu treiben. Wichtig war außerdem
Britische und französische Streitkräfte plündern den Kaiserlichen Palast in Beijing 1860 im Zuge des Zweiten Opiumkriegs. (© picture alliance / Mary Evans Picture Library)
Britische und französische Streitkräfte plündern den Kaiserlichen Palast in Beijing 1860 im Zuge des Zweiten Opiumkriegs. (© picture alliance / Mary Evans Picture Library)
Die Umsetzung der Vertragsbestimmungen wurde in der Folgezeit seitens des chinesischen Reiches immer wieder verzögert oder verweigert, was zu einem weiteren Waffengang führte. Der so genannte Zweite Opiumkrieg (1858-1860) wurde von Großbritannien und Frankreich geführt. Wider unterlagen die chinesischen Truppen. Der Vertrag von Tianjin (1860) legte diesen Konflikt bei. Doch war der Vertrag noch ungünstiger für China, weil er die ausländischen Privilegien festigte und ausbaute. Nunmehr wurde nicht nur die Opiumeinfuhr legalisiert, sondern elf weitere Häfen und Städte für ausländischen Handel geöffnet. Eine Seezollbehörde unter ausländischer Leitung wurde errichtet. Allen Ausländern wurde Reise- und Missionsfreiheit zugestanden. China musste auch die Errichtung ausländischer diplomatischer Vertretungen in der Hauptstadt Peking und die Gründung eines eigenen “Amtes zur Regelung der auswärtigen Angelegenheiten” (Zongli Yamen) zusagen. Seit 1861-62 waren Großbritannien, Frankreich, Russland und die USA in Peking mit Gesandten vertreten, Preußen folgte 1864.
Das Vertragssystem
Ausländische Stützpunkte im Hafen von Guangzhou, Sunqua, circa 1830. (© picture alliance / CPA Media Co. Ltd)
Ausländische Stützpunkte im Hafen von Guangzhou, Sunqua, circa 1830. (© picture alliance / CPA Media Co. Ltd)
Die ungleichen, weil nur unter Gewaltanwendung zustande gekommenen Verträge waren britisch von ihrem Ursprung und ihrer Konzeption her, aber die Aufnahme der Meistbegünstigungsklausel ließ alle westlichen Mächte in China zu und gab ihnen die gleichen Rechte wie Großbritannien. 23 Länder, darunter auch Preußen, später das Deutsche Reich, standen auf diese Weise in vertraglicher Beziehung mit China. Die wichtigste ökonomische Regelung des Vertragssystems, die den westlichen Mächten einen großen Eingriff in die wirtschaftlichen Verhältnisse Chinas erlaubte, war neben der Legalisierung der Opiumeinfuhr der Verlust der Tarifautonomie: Die Zolltarife durften von China nicht mehr unabhängig festgelegt werden, sondern wurden von der britisch geleiteten Seezollbehörde bestimmt. Damit war der chinesischen Regierung die Möglichkeit genommen, eigene Industrien durch das Verhängen von Zöllen zu schützen und sich Einnahmen für den Staatshaushalt zu sichern.
Auch die sogenannten Missionszwischenfälle, in denen christliche Missionen im Landesinnern gewaltsam angegriffen oder verfolgt wurden, stellten einen erheblichen Destabilisierungsfaktor für die chinesischen Außenbeziehungen dar. Immer wieder boten sie Anlass für Drohungen oder Interventionen westlicher Staaten zum Zwecke chinesischer Zugeständnisse nicht nur im Bereich der Mission, sondern auch der Politik und des Handels. Die Beziehungen Chinas zu den europäischen Großmächten waren somit von einem stetigen chinesischen Verlust an territorialer Hoheit, an Souveränitätsrechten, an staatlicher und militärischer Sicherheit sowie wirtschaftlicher Selbstbestimmung gekennzeichnet.
Selbststärkung
Infolge der Niederlage Chinas im Ersten Chinesisch-Japanischen Krieg 1895 kam es zu einem regelrechten Wettlauf um Einflusssphären in China (“scramble for concessions”). Frankreich betrachtete Indochina und Südchina als seine Interessensphäre. Großbritannien sah die Gebiete am unteren Yangzi als seine Einflusssphäre an. Auf die Mandschurei, die nun vorläufig Japan zugesprochen worden war, hegte auch das Russische Zarenreich Absichten. In dieser Situation, in der die Aufteilung Chinas – jedenfalls in informelle Interessensphären – bald vollendet schien, wollte auch das Deutsche Reich seine Interessen gewahrt wissen. 1897 besetze Deutschland die Jiaozhou-Bucht in der nordchinesischen Provinz Shandong.
Die Reaktion des chinesischen Kaiserhofes auf die zunehmende Schwächung bestand in einer Politik des “gehegten Konflikts”, bei der eine größere militärische Auseinandersetzung mit einer europäischen Macht zunächst verhindert werden sollte. Zeitgleich sollte China mit einer weitgehend auf militärisches Gebiet beschränkten Modernisierung im Zuge der “Selbststärkungsbewegung” in den Stand versetzt werden, militärisch und technologisch mit den westlichen Staaten gleichzuziehen. Durch ein Ausbalancieren der ausländischen Interessen sollte China die notwendige politische Stabilität für die militärische Modernisierung erhalten.
Der Boxer Krieg
Dem bedrängten kaiserlichen Staat gelang es mit seinen traditionellen administrativen Instrumentarien immer weniger, die Infrastruktur und Ordnung aufrechtzuerhalten. Ursächlich daran beteiligt war der ausländische Imperialismus. Die Kriegsführung gegen inländische Rebellionen und ausländische Staaten, die zwangsweise Zahlung großer Kriegsentschädigungen ebenso wie die Durchführung der Modernisierungsvorhaben vor allem im Bereich der Rüstung engten die finanziellen Handlungsmöglichkeiten des chinesischen Staates ein.
Als Ergebnis des Rückzuges des Staates aus seinen traditionellen Aufgabengebieten wie Wasserkontrolle, Katastrophenhilfe und karitative Hilfe kam es zu einer Verarmung weiter Bevölkerungsteile in Nordchina.
Die „Vereinigung der Rechtschaffenen“ (Yihetuan), im Westen bekannt als Boxer-Bewegung oder auch Boxer Rebellion (1899–1900), war eine spontane Massenbewegung, die alle Fremden vertreiben und die Qing-Dynastie stärken (fu Qing mie yang) wollte. Die Boxer, die aufgrund ihrer Praxis traditioneller chinesischer Kampfkünste vermutlich von Missionaren erstmals so bezeichnet wurden , setzten sich vor allem aus armen Bauern, Saisonarbeitern und ehemaligen Kanalarbeitern zusammen, die ihre Arbeit verloren hatten. Im Zuge großer Überschwemmungen konnte diese Geheimgesellschaft mit Selbstverteidigungs- und Heilversprechen in den von Katastrophen heimgesuchten Dörfern und Gemeinden eine große Anhängerschaft gewinnen.
Die scheinbar mächtigen Boxer wurden von den Qing-Beamten stillschweigend geduldet und manchmal sogar ermutigt, insbesondere Missionare und deren Einrichtungen anzugreifen. Im Frühjahr und Frühsommer 1900 breiteten sich die Boxer über den Norden Chinas aus und zerstörten Bahngleise und Kirchen. Zehntausende strömten nach Tianjin und Peking, durchkämmten die Stadtviertel nach westlichen Missionaren und chinesischen Christen. Spannungen eskalierten, als die Boxer begannen, Gebäude von westlichen Banken oder Firmen anzuzünden und zu plündern.
Die Ausländer, darunter Diplomaten, verlangten Schutz durch das ausländische Militär. Nach der demütigenden Niederlage der Seymour Expedition, einer Hilfstruppe von 2000 Marinesoldaten unter britischem Kommando, durch die Boxer und Qing Armee, schien es, als hätte die Qing-Dynastie mit Unterstützung der aufgebrachten Massen eine Chance, die Imperialisten zu besiegen.
Als Reaktion auf die Ankunft massiver Verstärkungen der ausländischen Mächte erklärte der kaiserliche Hof diesen den Krieg. Nordchina befand sich im Kriegszustand. Die Boxer griffen das Diplomatenviertel in Peking an und belagerten die ausländischen Gesandtschaften, töteten rund 250 Ausländer, hauptsächlich Missionare, sowie Zehntausende von Chinesen, die meisten von ihnen Christen. Anfang August marschierte eine multinationale Truppe aus 19.000 Soldaten von Tianjin nach Peking, beendete die Belagerung des Gesandtschaftsviertels und besetzte das Pekinger Zentrum. Die Kaiserinwitwe Cixi und der Guangxu-Kaiser waren zur Flucht gezwungen.
Die 22.000 von Wilhelm II. entsandten deutschen Truppen kamen zu spät, um bei der Verteidigung der Botschaften in Peking zu helfen. Stattdessen führten sie zahlreiche Strafexpeditionen durch, bei denen Tausende getötet wurden. In großem Maßstab kam es zu Plünderungen, insbesondere von Kunstwerken und Kulturgütern. Auch Diplomaten und Missionare beteiligten sich daran.
Von 1900 bis 1902 wurden Peking und Tianjin unter ausländische Besatzung gestellt. Das Boxer-Protokoll, das 1901 unterzeichnete Abschlussdokument des Krieges, beinhaltete drakonische Strafen, darunter Todesurteile für hochrangige Beamte, die Entwaffnung von Festungen und ein Verbot von ausländerfeindlichen Gesellschaften. China musste zudem eine enorme Entschädigung von 450 Millionen Tael zahlen, was die Finanzen der Qing-Regierung über Jahrzehnte belastete und den Einfluss ausländischer Mächte auf die chinesischen Einnahmen verstärkte.