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Das Jahrhundert der Demütigung | China | bpb.de

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Das Jahrhundert der Demütigung China und der Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert

Klaus Mühlhahn

/ 14 Minuten zu lesen

Der "Arrow-Vorfall", als Qing-Beamte die britische Flagge eines Handelsschiffs niederrissen, sollte zum Auslöser des Zweiten Opiumkriegs werden. (© picture alliance / CPA Media Co. Ltd)

Die gesteigerte Rivalität der europäischen Großmächte im Kampf um Einflusssphären und Stützpunkte in Asien brachte China ab 1840 auf die Bühne der europäischen Machtpolitik. Die gewaltsame Öffnung durch die Opiumkriege (1840 und 1860), die Etablierung fremdbestimmter Einflusssphären in wohlhabenden chinesischen Provinzen, das Abtreten kolonialer Stützpunkte (Hongkong, Qingdao, Port Arthur) und exterritorialer ausländischer Niederlassungen (Shanghai, Hankou, Tianjin) wurden gegen chinesischen Widerstand und unter Gewaltanwendung durchgesetzt. Sie offenbarten eine grundlegende Schwäche des Qing-Reiches (1644-1911).

Diese Ereignisse gehören zu einer in China als „Jahrhundert der nationalen Demütigung“ (bainian guochi, 百年国耻) bekannten Ära von 1839 bis 1949, eine Zeit voller unerbittlicher Kriege, Besetzungen und Revolten in der Geschichte des Landes. Das Wort „Nationale Demütigung“ wurde noch vor der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas bereits geprägt. Der Begriff taucht 1915 erstmals auf, als Reaktion auf Japans 21 Forderungen – territoriale, wirtschaftliche und politische Zugeständnisse –, die am 7. Mai jenes Jahres an China gestellt und am 9. Mai akzeptiert wurden. Mit diesen Forderungen wollte sich Japan einen weitgehenden Einfluss auf China sichern. Diese beiden Tage, der 7. und der 9. Mai wurden noch in der Republikzeit zu nationalen Feiertagen erklärt und jährlich unter der Bezeichnung des „Nationalen Demütigungstages“ begangen.

Der Begriff verschwindet aber weitgehend aus dem politische Vokabular nach 1949. Als Interner Link: Mao Zedong Interner Link: 1949 verkündete, dass China endlich „aufgestanden“ sei, beanspruchte er zugleich, für das Ende der nationalen Demütigung gesorgt zu haben. Erst im Gefolge Interner Link: des Tiananmen Massakers 1989 und der darauffolgenden Rückbesinnung auf den Nationalismus wird eine Patriotische Erziehungsbewegung im Jahr 1991 ins Leben gerufen, die zur Wiederbelebung des Diskurses über nationale Demütigung führt. Seither ist der Ausdruck der nationalen Demütigung oder Schmach fest im politisch-historischen Vokabular verankert. Er findet nicht nur Verwendung im Geschichtsunterricht, sondern wird auch bei großen politischen Veranstaltungen von der politischen Führung aufgerufen. Dabei wird ein Narrativ verbreitet, nachdem nur durch Interner Link: die entschlossene Führung der Kommunistischen Partei Chinas die nationale Demütigung des 19. Jahrhunderts überwunden werden konnte und China jetzt seinen Wiederaufstieg begonnen hat.

Das Reich der Großen Qing

Seit 1644 wurde China von der Dynastie der Qing regiert. Es handelte sich dabei um eine sogenannte Fremddynastie, die aus der kriegerischen Eroberung Chinas durch das Volk der Mandschuren hervorgegangen war. In den Provinzen und Landkreisen aber wurde das Reich von einer mit Chinesen besetzten Bürokratie weitgehend selbständig verwaltet, die hinsichtlich ihrer Tätigkeit und ihres Selbstverständnisses chinesischen Traditionen verpflichtet war. Die Herrschaft der Qing brachte dem Reich der Mitte Interner Link: im 17. und 18. Jahrhundert eine lange Zeit des Friedens sowie an den Reichsgrenzen eine immense territoriale Expansion, die durch kriegerische Eroberungen durchgesetzt wurde. Stabilität, Wirtschaftswachstum, Zugewinn an Anbauflächen durch Ausweitung des Reichsgebietes und technologische Errungenschaften läuteten eine beispiellose Blütezeit im 18. Jahrhundert ein.

Im 19. Jahrhundert bahnten sich jedoch Veränderungen an, die zunächst die innere Ordnung als auch später die Weltmachtstellung des Qing Reichs in Frage stellten. Die innere Krise hatte verschiedene Ursachen: Das durch die Blütezeit des 18. Jahrhunderts ausgelöste Bevölkerungswachstum hatte einen präzedenzlosen Raubbau der natürlichen Ressourcen ausgelöst und dadurch eine ökologische Krise provoziert. Besonders von Überschwemmungen waren Millionen von Menschen betroffen. Verschlimmert wurde die Situation durch eine Finanzkrise, die die Fähigkeit des Staates, auf diese Katastrophen mit Hilfsmaßnahmen zu reagieren, stark einschränkte. Ihre Ursachen reichten von kostspieligen Feldzügen in Zentralasien bis zu Korruption und zurückgehenden Steuereinahmen. Hinzu kam eine Anfang des 19. Jahrhunderts spürbar einsetzende Wirtschaftsrezession, ausgelöst durch die steigenden Opiumimporte vor allem seitens Großbritanniens. Seit 1773 belieferte die britische East India Company China mit Opium. Das Ergebnis war eine schwere Deflation, die weite Bevölkerungskreise verarmen ließ.

Untrügliches Anzeichen für die schwere Krise des kaiserlich-konfuzianischen Chinas war die zunehmende Häufigkeit von Aufständen. Insgesamt vier große Rebellionen erschütterten das Reich der Mitte. Zwei davon – der christlich inspirierte Taiping-Aufstand (1851-1864) in Zentral- und Südchina und der Nian-Aufstand (1851-1868) in Nordchina – hatten von ihrer Größe und Ausdehnung her das Potential, die Qing-Dynastie zu stürzen. Erst nach anderthalb Jahrzehnten des Krieges gelang es der Qing-Regierung beide fast zeitgleich stattfindende Aufstände mit Gewalt niederzuschlagen, jedoch nur zum Preis großer Zerstörungen und erheblicher Verluste an Menschenleben – alleine im Kontext des Taiping-Aufstands circa 30 Millionen Todesopfer.

Die Ankunft des europäischen Imperialismus

Die Rolle christlicher Ideen oder der erwähnte Import von Opium aus der britischen Kolonie Indien verweisen bereits auf die sich ankündigenden Auswirkungen, die die Ankunft der europäischen Mächte in China zeitigen würde. Der historische Wendepunkt lässt sich ziemlich genau im Jahr 1793 datieren, als der chinesische Kaiser einen Handelsvertrag mit den Briten höflich, aber bestimmt ablehnte, mit der Begründung, China habe keinerlei Bedarf an ausländischen Produkten. Die Briten stellten sich in der Folgezeit darauf ein, China mit Waffengewalt dem britischen Handel und britischen Produkten zu öffnen. Eine zunehmende Konfrontation Chinas mit den europäischen Großmächten im 19. Jahrhundert war nun vorprogrammiert. Die europäischen Mächte agierten in China im Bewusstsein ihrer Industrialisierungs- und Expansionserfolge und sahen sich als Quelle von Fortschritt, Modernität und universaler Zivilisation an. War China vom gelehrten Europa der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert noch bewundert worden, wurde es nun gleichsam „entzaubert“, galt als rückständig, borniert und geriet zum Objekt europäischer Begehrlichkeiten.

Die gewaltsame Öffnung Chinas

Die konkreten Ziele der Europäer bestanden zunächst in der gewaltsamen Öffnung Chinas für westliche Produkte, wobei insbesondere Großbritannien in Ermangelung anderer absetzbarer Güter weiterhin und immer mehr indisches Opium nach China einführte. Europäische Beobachter sprachen immer häufiger vom enormen Absatzmarkt in China für europäische Waren. Es wurde auch vermutet, dass später ganze Industrieanlagen und -technologien (vor allem Bergbau, Stahlproduktion, Eisenbahnbau, Dampfschifffahrt) ebenso wie Rüstungsgüter in großem Maßstab an China verkauft werden könnten.

In China trachteten die imperialistischen Staaten daher vor allem danach, über den Freihandel hinaus verlässliche Bedingungen zu schaffen für die Investition europäischen Kapitals. Pachtgebiete, städtische Konzessionen (Residenzgebiete unter ausländischer Verwaltung) sowie Interessensphären (Gebiete, in denen einem bestimmten Staat Rechtstitel zur Finanzierung und Realisierung von Eisenbahn- und Bergwerksunternehmen zugesprochen wurden) stellten die Mittel dar, die die europäischen Mächte zur Durchsetzung ihrer Interessen anwandten.

Mit Hilfe diplomatischen Drucks und militärischer Drohung wurde ein wirkungsvoller Interventionsmechanismus geschaffen, der es erlaubte das chinesische Reich zu Zugeständnissen zu zwingen. Institutionalisiert wurde dieser informelle Imperialismus durch ein System von Verträgen, das im Laufe des 19. Jahrhunderts geschaffen wurde. Diese Verträge waren das Ergebnis zweier kriegerischer Auseinandersetzungen um die Einfuhr von Opium, die die Schwäche und Verwundbarkeit des Qing-Reiches offenbarten.

Die Zerstörung illegalen Opiums durch chinesische Behörden 1839. (© picture alliance / CPA Media Co. Ltd)

Die Einfuhr von Opium nach China hatte tiefgreifende und verheerende Auswirkungen auf die chinesische Gesellschaft. Der Opiumkonsum führte zu einer weit verbreiteten Abhängigkeit, die nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die kaiserlichen Truppen und Beamten erfasste. Diese Abhängigkeit schwächte die militärische und administrative Effizienz des Reiches erheblich. Korruption unter den Beamten förderte den illegalen Handel und die Verbreitung des Opiums im ganzen Land. Aus diesen Gründen erließ der Kaiser bereits 1729 ein striktes Verbot von Opium, um der zunehmenden sozialen und wirtschaftlichen Destabilisierung entgegenzuwirken. Die Zahl der Opiumabhängigen stieg jedoch weiterhin, was die Notwendigkeit dieses Verbots unterstrich.

Die britischen Kaufleute waren jedoch auf den Absatz von Opium angewiesen, um aus den Erlösen in Europa stark nachgefragte Waren wie Seide, Porzellan oder Tee zu erwerben. Umgekehrt gab es in China kaum Interesse an europäischen Industriegütern und anderen Handelswaren. Folglich mussten die Europäer chinesische Produkte mit Gold oder Silber bezahlen. Der Opiumhandel, der unter chinesischen Abhängigen eine stetige Nachfrage nach importiertem Opium schuf, löste dieses chronische Handelsungleichgewicht zugunsten des britischen Empires. Der Anteil des Opiums am britischen Export stieg erheblich, was die wirtschaftliche Abhängigkeit von diesem lukrativen, wenn auch verheerenden Handel verdeutlichte. Wurden zwischen 1820 und 1830 jährlich circa 10.000 Kisten Opium nach China eingeführt, stieg die Zahl auf rund 40.000 Kisten im Jahr 1838, was das Handelsbilanzdefizit Chinas zugunsten Britanniens umkehrte.

Der Konflikt mündete schließlich im Ersten Opiumkrieg (1840-1842). Für Großbritannien ging es dabei um die Öffnung Chinas für westliche Produkte und auch westliche Missionare. Für China ging es neben der Verhinderung der Einfuhr schädlichen Opiums auch um die Wahrung der chinesischen Souveränität. Das chinesische Reich, das über keine militärischen Machtmittel zu Wasser verfügte, unterlag der aus zwanzig beweglichen Schiffen bestehenden britischen Flotte schnell. 1842 wurde im Vertrag von Nanjing der Konflikt beigelegt. China musste weitgehende Zugeständnisse machen: Der Vertag erlaubte es ausländischen Kaufleuten, sich in fünf Hafenstädten (Shanghai, Ningbo, Fuzhou, Amoy, Kanton) niederzulassen und Handel zu treiben. Wichtig war außerdem Interner Link: die Abtretung Hongkongs an Großbritannien, die Gewährung von Extraterritorialität für alle Ausländer gegenüber Rechtsansprüchen des chinesischen Staates sowie die Meistbegünstigungsklausel, nach der alle anderen in China präsenten Mächte in den Genuss derselben Privilegien gelangten. Für China bedeutete dieser Vertrag einen erheblichen Verlust von Souveränität und Handlungsfreiheit.

Britische und französische Streitkräfte plündern den Kaiserlichen Palast in Beijing 1860 im Zuge des Zweiten Opiumkriegs. (© picture alliance / Mary Evans Picture Library)

Die Umsetzung der Vertragsbestimmungen wurde in der Folgezeit seitens des chinesischen Reiches immer wieder verzögert oder verweigert, was zu einem weiteren Waffengang führte. Der so genannte Zweite Opiumkrieg (1858-1860) wurde von Großbritannien und Frankreich geführt. Wider unterlagen die chinesischen Truppen. Der Vertrag von Tianjin (1860) legte diesen Konflikt bei. Doch war der Vertrag noch ungünstiger für China, weil er die ausländischen Privilegien festigte und ausbaute. Nunmehr wurde nicht nur die Opiumeinfuhr legalisiert, sondern elf weitere Häfen und Städte für ausländischen Handel geöffnet. Eine Seezollbehörde unter ausländischer Leitung wurde errichtet. Allen Ausländern wurde Reise- und Missionsfreiheit zugestanden. China musste auch die Errichtung ausländischer diplomatischer Vertretungen in der Hauptstadt Peking und die Gründung eines eigenen “Amtes zur Regelung der auswärtigen Angelegenheiten” (Zongli Yamen) zusagen. Seit 1861-62 waren Großbritannien, Frankreich, Russland und die USA in Peking mit Gesandten vertreten, Preußen folgte 1864.

Das Vertragssystem

Ausländische Stützpunkte im Hafen von Guangzhou, Sunqua, circa 1830. (© picture alliance / CPA Media Co. Ltd)

Die ungleichen, weil nur unter Gewaltanwendung zustande gekommenen Verträge waren britisch von ihrem Ursprung und ihrer Konzeption her, aber die Aufnahme der Meistbegünstigungsklausel ließ alle westlichen Mächte in China zu und gab ihnen die gleichen Rechte wie Großbritannien. 23 Länder, darunter auch Preußen, später das Deutsche Reich, standen auf diese Weise in vertraglicher Beziehung mit China. Die wichtigste ökonomische Regelung des Vertragssystems, die den westlichen Mächten einen großen Eingriff in die wirtschaftlichen Verhältnisse Chinas erlaubte, war neben der Legalisierung der Opiumeinfuhr der Verlust der Tarifautonomie: Die Zolltarife durften von China nicht mehr unabhängig festgelegt werden, sondern wurden von der britisch geleiteten Seezollbehörde bestimmt. Damit war der chinesischen Regierung die Möglichkeit genommen, eigene Industrien durch das Verhängen von Zöllen zu schützen und sich Einnahmen für den Staatshaushalt zu sichern.

Auch die sogenannten Missionszwischenfälle, in denen christliche Missionen im Landesinnern gewaltsam angegriffen oder verfolgt wurden, stellten einen erheblichen Destabilisierungsfaktor für die chinesischen Außenbeziehungen dar. Immer wieder boten sie Anlass für Drohungen oder Interventionen westlicher Staaten zum Zwecke chinesischer Zugeständnisse nicht nur im Bereich der Mission, sondern auch der Politik und des Handels. Die Beziehungen Chinas zu den europäischen Großmächten waren somit von einem stetigen chinesischen Verlust an territorialer Hoheit, an Souveränitätsrechten, an staatlicher und militärischer Sicherheit sowie wirtschaftlicher Selbstbestimmung gekennzeichnet.

Selbststärkung

Infolge der Niederlage Chinas im Ersten Chinesisch-Japanischen Krieg 1895 kam es zu einem regelrechten Wettlauf um Einflusssphären in China (“scramble for concessions”). Frankreich betrachtete Indochina und Südchina als seine Interessensphäre. Großbritannien sah die Gebiete am unteren Yangzi als seine Einflusssphäre an. Auf die Mandschurei, die nun vorläufig Japan zugesprochen worden war, hegte auch das Russische Zarenreich Absichten. In dieser Situation, in der die Aufteilung Chinas – jedenfalls in informelle Interessensphären – bald vollendet schien, wollte auch das Deutsche Reich seine Interessen gewahrt wissen. 1897 besetze Deutschland die Jiaozhou-Bucht in der nordchinesischen Provinz Shandong.

Die Reaktion des chinesischen Kaiserhofes auf die zunehmende Schwächung bestand in einer Politik des “gehegten Konflikts”, bei der eine größere militärische Auseinandersetzung mit einer europäischen Macht zunächst verhindert werden sollte. Zeitgleich sollte China mit einer weitgehend auf militärisches Gebiet beschränkten Modernisierung im Zuge der “Selbststärkungsbewegung” in den Stand versetzt werden, militärisch und technologisch mit den westlichen Staaten gleichzuziehen. Durch ein Ausbalancieren der ausländischen Interessen sollte China die notwendige politische Stabilität für die militärische Modernisierung erhalten.

Der Boxer Krieg

Dem bedrängten kaiserlichen Staat gelang es mit seinen traditionellen administrativen Instrumentarien immer weniger, die Infrastruktur und Ordnung aufrechtzuerhalten. Ursächlich daran beteiligt war der ausländische Imperialismus. Die Kriegsführung gegen inländische Rebellionen und ausländische Staaten, die zwangsweise Zahlung großer Kriegsentschädigungen ebenso wie die Durchführung der Modernisierungsvorhaben vor allem im Bereich der Rüstung engten die finanziellen Handlungsmöglichkeiten des chinesischen Staates ein.

Als Ergebnis des Rückzuges des Staates aus seinen traditionellen Aufgabengebieten wie Wasserkontrolle, Katastrophenhilfe und karitative Hilfe kam es zu einer Verarmung weiter Bevölkerungsteile in Nordchina. Hinzu kamen schlimme Naturkatastrophen in den Jahren 1898 und 1899. Im heißen Sommer des Jahres 1900 entluden sich diese vielfältigen sozialen Spannungen sodann im spontanen Boxeraufstand.

Die „Vereinigung der Rechtschaffenen“ (Yihetuan), im Westen bekannt als Boxer-Bewegung oder auch Boxer Rebellion (1899–1900), war eine spontane Massenbewegung, die alle Fremden vertreiben und die Qing-Dynastie stärken (fu Qing mie yang) wollte. Die Boxer, die aufgrund ihrer Praxis traditioneller chinesischer Kampfkünste vermutlich von Missionaren erstmals so bezeichnet wurden , setzten sich vor allem aus armen Bauern, Saisonarbeitern und ehemaligen Kanalarbeitern zusammen, die ihre Arbeit verloren hatten. Im Zuge großer Überschwemmungen konnte diese Geheimgesellschaft mit Selbstverteidigungs- und Heilversprechen in den von Katastrophen heimgesuchten Dörfern und Gemeinden eine große Anhängerschaft gewinnen.

Die scheinbar mächtigen Boxer wurden von den Qing-Beamten stillschweigend geduldet und manchmal sogar ermutigt, insbesondere Missionare und deren Einrichtungen anzugreifen. Im Frühjahr und Frühsommer 1900 breiteten sich die Boxer über den Norden Chinas aus und zerstörten Bahngleise und Kirchen. Zehntausende strömten nach Tianjin und Peking, durchkämmten die Stadtviertel nach westlichen Missionaren und chinesischen Christen. Spannungen eskalierten, als die Boxer begannen, Gebäude von westlichen Banken oder Firmen anzuzünden und zu plündern.

Die Ausländer, darunter Diplomaten, verlangten Schutz durch das ausländische Militär. Nach der demütigenden Niederlage der Seymour Expedition, einer Hilfstruppe von 2000 Marinesoldaten unter britischem Kommando, durch die Boxer und Qing Armee, schien es, als hätte die Qing-Dynastie mit Unterstützung der aufgebrachten Massen eine Chance, die Imperialisten zu besiegen.

Als Reaktion auf die Ankunft massiver Verstärkungen der ausländischen Mächte erklärte der kaiserliche Hof diesen den Krieg. Nordchina befand sich im Kriegszustand. Die Boxer griffen das Diplomatenviertel in Peking an und belagerten die ausländischen Gesandtschaften, töteten rund 250 Ausländer, hauptsächlich Missionare, sowie Zehntausende von Chinesen, die meisten von ihnen Christen. Anfang August marschierte eine multinationale Truppe aus 19.000 Soldaten von Tianjin nach Peking, beendete die Belagerung des Gesandtschaftsviertels und besetzte das Pekinger Zentrum. Die Kaiserinwitwe Cixi und der Guangxu-Kaiser waren zur Flucht gezwungen.

Die 22.000 von Wilhelm II. entsandten deutschen Truppen kamen zu spät, um bei der Verteidigung der Botschaften in Peking zu helfen. Stattdessen führten sie zahlreiche Strafexpeditionen durch, bei denen Tausende getötet wurden. In großem Maßstab kam es zu Plünderungen, insbesondere von Kunstwerken und Kulturgütern. Auch Diplomaten und Missionare beteiligten sich daran.

Von 1900 bis 1902 wurden Peking und Tianjin unter ausländische Besatzung gestellt. Das Boxer-Protokoll, das 1901 unterzeichnete Abschlussdokument des Krieges, beinhaltete drakonische Strafen, darunter Todesurteile für hochrangige Beamte, die Entwaffnung von Festungen und ein Verbot von ausländerfeindlichen Gesellschaften. China musste zudem eine enorme Entschädigung von 450 Millionen Tael zahlen, was die Finanzen der Qing-Regierung über Jahrzehnte belastete und den Einfluss ausländischer Mächte auf die chinesischen Einnahmen verstärkte.

China 1839–1911 (die Karte als Interner Link: png-Download; mit einem Rechtsklick können Sie sie speichern) (bpb, mr-kartographie, Gotha) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Die japanische Expansion

Mit dem Vordringen der europäischen Mächte brach die traditionelle Weltordnung in Ostasien zusammen. Die westlichen Länder drängten im 19. Jahrhundert auch Japan dazu, sich dem internationalen Handel zu öffnen. In den 1850er und 60er Jahren unterzeichnete Japan mehrere ungleiche Verträge, die das Land öffneten und teilweise seine Souveränität beschränkten. Angesichts dieser als Schwächung empfundenen Verträge begann Japan, sich selbst als koloniale Macht neu zu erfinden und zu expandieren. Es übernahm die Kontrolle über Taiwan nach dem Sieg im Ersten Chinesisch-Japanischen Krieg (1894–1895) und etablierte nach dem Russisch-Japanischen Krieg (1904–1905) ein Protektorat über Korea, das es 1910 formell annektierte.

Im frühen 20. Jahrhundert weitete das Land seine Einflusssphäre in Asien aus. Interner Link: Die Versailler Friedenskonferenz 1919 schlug auf japanisches Drängen hin die ehemalige deutsche Kolonie Kiautschou Japan zu, so dass Japan nun über einen Stützpunkt in Nordchina verfügte. In den 1930er Jahren errichtete Japan den Marionettenstaat Mandschukuo in der Mandschurei, einem Gebiet, das zuvor zu China gehört hatte. Dies war Teil einer umfassenderen Strategie Japans, Kontrolle über Asien auszubauen, besonders als die europäischen Kolonialmächte durch wirtschaftliche Krisen und den Aufstieg des Nationalsozialismus in Europa geschwächt waren.

Japans imperialistische Bestrebungen führten schließlich zu einer Eskalation der Spannungen in der Region. 1937 marschierten japanische Truppen in Nordchina ein. Es begann ein langer und blutiger Krieg, bei dem China erbitterten Widerstand leistete und Japan Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an der chinesischen Bevölkerung verübte. Der Zweite Chinesisch-Japanische Krieg endete erst 1945 mit der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg.

China 1912–1945 (die Karte als Interner Link: png-Download; mit einem Rechtsklick können Sie sie speichern) (bpb, mr-kartographie, Gotha) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Das Jahrhundert der Demütigung?

Das „Jahrhundert der Demütigung“ wurde und wird in China als wichtiger Wendepunkt gesehen. Viele Chinesen deuteten die zahlreichen Rückschläge – die harten diplomatischen Auflagen durch die europäischen Mächte, die Niederlagen des chinesischen Militärs, die ausländischen Besetzungen der großen Städte einschließlich der Hauptstadt, die unzähligen Menschen, viele von ihnen Zivilisten, die ihr Leben verloren, die Zerstörung von Städten und Kulturschätzen, – als Demütigung des einst stolzen Kaiserreichs sowie als Beweis für die tiefgreifende Schwäche der chinesischen Nation.

China zeigte jedoch auch eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit. Es litt unter der Phase des Imperialismus, überstand diese jedoch besser als große Teile der Welt, da es territorial weitgehend intakt blieb und die Grundlagen für die künftige Entwicklung legen konnte. Interner Link: Im 20. Jahrhundert versuchten die chinesischen Regierungen, bestehende Regierungsinstitutionen zu reformieren und wieder aufzubauen, wobei sie sich zunächst auf ein staatliches Industrialisierungsprogramm mit Schwerpunkt auf Verteidigungsindustrie und Infrastruktur stützten. Es dauerte jedoch bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts, bis die Ziele des Wiederaufstiegs und Wiederherstellung der alten Größe in greifbare Nähe rückten und das Zeitalter der Demütigung endgültig überwunden schien.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wang, Zheng, Never Forget National Humiliation: Historical Memory in Chinese Politics and Foreign Relations, New York: Columbia University Press, 2012; Magnus, George, Red Flags: Why Xi’s China Is in Jeopardy, New Haven: Yale University Press, 2018, S. 14-29.

  2. Luo, Zhitian "National Humiliation and National Assertion: The Chinese Response to the Twenty-one Demands". In: Modern Asian Studies, 27 (2), 1993, S. 297-319.

  3. Zu den Mandschuren und ihrem Herrschaftsverständnis siehe Crossley, Pamela K., A Translucent Mirror. History and Identity in Qing Imperial Ideology, Berkeley 1999; Elliott, Mark C., The Manchu Way: The Eight Banners and Ethnic Identity in Late Imperial China, Stanford 2001.

  4. Mühlhahn, Klaus, Geschichte des modernen China. Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart, München 2021, S. 71-82.

  5. Harrell, Stevan, An Ecological History of Modern China, Seattle 2023; Elvin, Mark, The Retreat of the Elephants. An Environmental History of China, London 2004.

  6. Siehe hierzu die Fallstudie von Leonard, Jane K., Controlling from Afar. The Daoguang Emperor’s Managment of the Grand Canal Crisis, 1824-26, Ann Arbor 1996; Kaske E u. Lin M-L, "Public Finance". In: Ma, Debin u. von Glahn, Richard (Hrsg.), The Cambridge Economic History of China. Cambridge: Cambridge University Press, 2022, S. 244-279.

  7. Wong, Bin R, China Transformed. Historical Change and the Limits of European Experience, Ithaca 1997, S. 156ff.

  8. Hevia, James L., Cherishing Men from Afar. Qing Guest Ritual and the Macartney Embassy of 1793, Durham 1995.

  9. Osterhammel, Jürgen, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998.

  10. Siehe hier und im Folgenden, Leutner, Mechthild u. Mühlhahn, Klaus, "Interkulturelle Handlungsmuster: Deutsche Wirtschaft und Mission in China in der Spätphase des Imperialismus". In: dies. (Hrsg.), Deutsch-chinesische Beziehungen im 19. Jahrhundert: Mission und Wirtschaft in interkultureller Perspektive, Münster 2001, S. 9-42.

  11. Baumler, Arthur, Modern China and Opium, A Reader, Ann Arbor 2001; Fairbank, John K., Trade and Diplomacy on the China Coast: The Opening of the Treaty Ports, 1842-1854, Cambridge (Mass.) 1953.

  12. Mühlhahn 2021, S. 107.

  13. Mühlhahn 2021, S. 109.

  14. Perry, Elizabeth J., Rebels and Revolutionaries in North China, 1845-1945, Stanford 1983, S. 62-74.

  15. Mitter, Rana, China’s War with Japan, 1937-1945: The Struggle for Survival, London 2013.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-SA 4.0 - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor/-in: Klaus Mühlhahn für bpb.de

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ist Professor für Moderne China-Studien sowie Präsident und Geschäftsführer der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. 2021 erschien sein Buch "Geschichte des modernen China. Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart".
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