Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Taiwan
2024
Klaus Bardenhagen
/ 14 Minuten zu lesen
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Am 13.01.2024 hat Taiwan einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament gewählt. Doch was zeichnet den Wahlsieger Lai Ching-te aus? Wie funktioniert das Wahlsystem in Taiwan? Wofür stehen die unterschiedlichen Parteien? Und wie schaut China auf die Wahl?
Interner Link: Taiwan ist eine Insel 180 km vor der chinesischen Küste und agiert seit 1949 als Interner Link: de facto souverän regierter Staat. Trotzdem erkennt fast kein Land der Welt diesen an. Das hängt mit Interner Link: der komplexen Geschichte Chinas zusammen: Ab 1912 regierte die damalige Staatspartei Kuomintang, KMT (Chinesische Nationale Volkspartei) über ganz China, damals noch unter dem Staatsnamen „Republik China“. Am Ende des Chinesischen Bürgerkriegs (1927 bis 1949) flüchtete jedoch die geschlagene Regierung der Republik China auf Taiwan, während die siegreiche Kommunistische Partei Chinas auf dem Festland die Volksrepublik China ausrief. Sowohl die kommunistische Regierung der Volksrepublik China als auch die KMT-geführte Regierung der Republik China beharrten infolge auf einem „Ein-China-Prinzip“, wonach nur ein einziges China existiert, das Festlandchina und Taiwan umfasst. Beide Regime beanspruchten für sich, dieses eine China zu repräsentieren.
Mit der Zeit nahmen allerdings immer mehr Staaten diplomatische Beziehungen zur weitaus größeren und bevölkerungsreichen Volksrepublik China auf. Eine Bedingung dafür ist, alle offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Taiwan zu unterlassen, weshalb Taiwan heute von den wenigsten Staaten offiziell anerkannt wird. Seit den 1970er Jahren auch nicht von den USA, die jedoch eine „strategische Ambivalenz“ verfolgen, mit der sie sowohl China als auch Taiwan im Unklaren darüber lassen, ob die USA im Fall einer nicht friedlichen Änderung des Status quo in der Taiwanstraße militärisch intervenieren würden oder nicht. Während Taiwan heute vom Anspruch auf das chinesische Festland abgerückt ist, beharrt die Volksrepublik China weiterhin auf dem „Ein-China-Prinzip“ und reklamiert Taiwan als Teil davon. Dabei ist es die strategische Ambivalenz der USA, Interner Link: die China von einer Eroberung Taiwans abhält, weshalb die Vereinigten Staaten als Schutzmacht von Taiwan gelten.
Als Interner Link: Status quo wird die aktuelle Situation bezeichnet, in der weder Taiwan seine Unabhängigkeit ausruft, noch China militärisch auf der Insel interveniert. Laut einer jüngsten Umfrage (Juni 2023) möchten in der taiwanischen Bevölkerung die allerwenigsten möglichst bald die „Wiedervereinigung“ mit China (1,6%) oder die Unabhängigkeit Taiwans (4,5%). Die große Mehrheit spricht sich für eine Fortführung des Status quo aus (87,9%), der größte Teil sogar auf unbegrenzte Zeit (32,1%).
Bei der Präsidentschaftswahl am 13. Januar 2024 konnte sich der Kandidat der DPP und bisherige Vize-Präsident Taiwans Lai Ching-te durchsetzen. Nach acht Jahren unter der Präsidentschaft von Tsai Ing-wen stellt die DPP somit zum dritten Mal infolge den Präsidenten. Der vorläufigen Stimmenauszählung zufolge musste die DPP im Parlament allerdings zehn Sitze abgeben, während beide Oppositionsparteien zulegen konnten. Mit 51 Sitzen hat die DPP voraussichtlich einen Sitz weniger als die KMT und verliert somit die Mehrheit im Parlament. Da keine der beiden großen Parteien die absolute Mehrheit gewinnen konnte, wird der TPP mit ihren acht Sitzen eine Schlüsselrolle bei Mehrheitsbildungen im neuen Parlament zukommen.
Das taiwanische Wahlsystem
Die Verfassung der Republik China – so nach wie vor die offizielle Bezeichnung des Staates, der Taiwan regiert – von 1947 gilt bis heute in Taiwan. Die Verfassung wurde ab den frühen 1990er Jahren jedoch mehrfach ergänzt, als das Land sich nach Jahrzehnten des verhängten Kriegsrechts unter autoritärer Einparteienherrschaft Interner Link: zur Demokratie wandelte.
Zu den Verfassungsorganen zählen unter anderem der Präsident oder die Präsidentin, das Regierungskabinett (Exekutiv-Yuan) und das Parlament (Legislativ-Yuan).
Der Präsident
Der Präsident wird alle vier Jahre direkt gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er ernennt den Premierminister (offizieller Titel: Vorsitzender des Exekutiv-Yuans). Diesen muss das Parlament nicht bestätigen. Es ist also möglich, dass die Regierungspartei Präsident und Premier stellt, sich aber einer Mehrheit der Opposition im Parlament gegenübersieht. Das war von 2000 bis 2008 der Fall und führte dazu, dass die Regierung viele Vorhaben nicht realisieren konnte. Nach der Wahl 2024 konnte keine Partei die absolute Mehrheit im Parlament für sich behaupten, weshalb parteiübergreifende Allianzen für die kommende Legislaturperiode entscheidend sein werden. Gegen vom Legislativ-Yuan beschlossene Gesetze kann der Präsident kein bindendes Veto einlegen.
Die erste freie und direkte Präsidentschaftswahl fand 1996 statt und gilt als Geburtsstunde der taiwanischen Demokratie. Es gibt keine Stichwahl, weshalb ein Kandidat auch mit weniger als 50 Prozent der Stimmen gewählt werden kann. So konnte sich 2024 Lai Ching-te von der Democratic Progressive Party, DPP (Demokratische Fortschrittspartei) mit etwas mehr als 40 Prozent der Stimmen gegen seine Konkurrenten der Kuomintang, KMT (Chinesische Nationale Volkspartei) und der Taiwan People’s Party, TPP (Taiwanische Volkspartei) durchsetzen. Das war zuvor nur 2000 der Fall, als zwei Kandidaten das Lager der KMT spalteten und der Kandidat der DPP mit weniger als 40 Prozent der Stimmen Präsident wurde. Dies war Taiwans erster friedliche Machtwechsel. Weitere folgten 2008 und 2016, was als Beleg für die Akzeptanz und Stabilität des demokratischen Systems gilt.
Der Legislativ-Yuan
Taiwans erste freie Parlamentswahl fand 1992 statt. Der Legislativ-Yuan wird nach einigen Reformen derzeit alle vier Jahre gewählt und hat eine Kammer mit 113 Abgeordneten. Wähler haben zwei Stimmen. Mit der ersten wählen sie in 73 Wahlkreisen je einen Abgeordneten oder eine Abgeordnete direkt. Mit der Zweitstimme wählen sie eine Parteiliste. Über diese paritätisch zu besetzenden Listen werden 34 Sitze anteilig besetzt. Dabei gilt eine Fünf-Prozent-Hürde. Die restlichen sechs Mandate werden von den Angehörigen der indigenen Minderheiten Taiwans gewählt, die etwa zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Während sich das Parlament unmittelbar nach der Wahl im Januar konstituiert, tritt der neue Präsident das Amt erst im Mai an. Bis Mai 2024 bleibt also die seit 2016 regierende DPP-Politikerin Tsai Ing-wen im Amt.
2020 gelang Tsai die Wiederwahl zur Präsidentin mit 57 Prozent der Stimmen. Vizepräsident wurde der frühere Premierminister Lai Ching-te, der nun zu ihrem Nachfolger gewählt wurde. 2020 konnte die DPP mit 61 Sitzen die absolute Mehrheit im Parlament verteidigen, die KMT erhielt 38 Sitze. Die TPP wurde bei ihrem erstmaligen Einzug ins Parlament mit fünf Sitzen drittstärkste Kraft. Die restlichen Mandate gingen an kleinere Parteien und unabhängige Kandidaten.
Die Wahlbeteiligung lag 2020 bei 74,9 Prozent. 2024 wird sie etwas geringer auf 71,9 Prozent geschätzt.
Wofür stehen die Parteien?
Taiwans Parteiensystem gliedert sich nicht entlang eines klassischen Links-Rechts-Spektrums, sondern nach der Frage der persönlichen Zuordnung zu einer taiwanischen oder zu einer chinesischen Identität. Alle maßgeblichen Parteien verfolgen im Grunde eine unternehmensfreundliche Politik mit sozialer Abfederung und einer dirigistischen Rolle des Staates. Gemeinsame Merkmale sind die Förderung der Exportwirtschaft und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit durch relativ niedrige Steuersätze und Arbeitskosten beziehungsweise Löhne. Im Gegenzug ermöglichen staatseigene Anbieter mit quasi Monopolstellung künstlich niedrige Energiepreise und damit erschwingliche Lebenshaltungskosten.
Das Parteienspektrum teilt sich nach den Farben der beiden großen Parteien in ein „blaues“ und ein „grünes“ Lager.
Kuomintang, KMT (Chinesische Nationale Volkspartei)
Blau ist die Farbe der KMT. Sie definiert sich über die Tradition der Republik China, die ursprünglich als Verkörperung der KMT-Ideologie entstand. Die Staatsflagge trägt bis heute in einer Ecke das Parteiemblem, die weiße Sonne auf blauem Grund. Die KMT wurde 1912 (im selben Jahr wie die Republik China) in China gegründet, als Taiwan noch eine japanische Kolonie war (1895 bis 1945). Die KMT herrschte über China bis zur Gründung der Volksrepublik 1949 durch die Kommunistische Partei Chinas. Noch heute betrachtet die KMT sich selbst und Taiwan als im Grunde chinesisch – was jedoch weder eine Unterordnung noch eine Zugehörigkeit zur Volksrepublik impliziert. Denn nach dem Sieg der Kommunistischen Partei Chinas im Chinesischen Bürgerkrieg vertreib diese die KMT nach Taiwan. Dass die KMT wohl nie wieder das chinesische Festland regieren wird, hat die Partei als Realität akzeptiert. Sie legt dennoch großen Wert auf die Symbole und den Staatsnamen der Republik China sowie darauf, dass Taiwan streng genommen nur ein Teil davon ist. So fordert die KMT beispielsweise auch für den Schulunterricht weiterhin einen Schwerpunkt auf klassische chinesische Literatur und Geschichte.
Grün ist die Farbe der DPP. Sie entstand in den 1980er Jahren aus dem Widerstand gegen die autoritäre Herrschaft der KMT und dem Bestreben, Taiwan selbstständig zu regieren, statt sich einem von außerhalb gekommenen Regime unterzuordnen. Für die DPP hat Taiwan eine eigenständige kulturelle und politische Identität, was sowohl dem „Ein-China-Prinzip“ der Volksrepublik als auch der KMT widerspricht. Ursprünglich wollte die Partei Taiwans formelle Unabhängigkeit, was eine neue Verfassung und einen anderen Staatsnamen wie „Republik Taiwan“ bedeuten würde. Als die DPP 2000 erstmals die Regierung stellte, rückte sie von diesem Ziel jedoch ab – so ein Schritt würde Peking einen willkommenen Vorwand für militärische Aggression liefern. Die DPP tritt nunmehr als Verfechterin des Interner Link: Status quo auf, worunter sie versteht, dass die Taiwaner ihren Weg ohne Einfluss von außen – vor allem durch die Volksrepublik – selbst bestimmen sollen.
Im blauen beziehungsweise grünen Lager besetzen KMT und DPP jeweils zentristische Positionen. An den Enden des Spektrums gibt es kleinere „dunkelblaue“ oder „dunkelgrüne“ Parteien, denen die Positionen der beiden Großen zu gemäßigt sind. Historisch konnten sie stets nur wenige Abgeordnete stellen und keine entscheidende Rolle spielen.
Die weiße Parteifarbe der TPP symbolisiert, dass sie sich keinem Lager zuordnet. Die TPP verspricht, sich auf die pragmatische und unideologische Lösung von Problemen zu konzentrieren. Damit will sie in der politisch gespaltenen Landschaft eine Alternative für „hellblaue“ und „hellgrüne“ Wechselwähler sein, die von identitätspolitischen Lagerkämpfen abgestoßen werden. Nach ihrem ersten Einzug ins Parlament 2020 konnte die TPP ihren Status als dritte Kraft 2024 ausbauen. Zwar hat die Partei lediglich Listenmandate und kein einzigen Wahlkreis gewonnen. Trotzdem konnte die TPP genügend Sitze erringen, um zum Zünglein an der Waage zu werden, auf das sowohl DPP als auch KMT für Mehrheiten im Parlament angewiesen sind.
Wer trat zur Präsidentschaftswahl an?
Nach acht Jahren mit Tsai Ing-wen als Präsidentin stand schon vor der Wahl 2024 fest, dass Taiwans nächstes Staatsoberhaupt ein Mann würde. Alle drei Kandidaten waren oder sind Bürgermeister bedeutender taiwanischer Regionen.
Der künftige Präsident Lai Ching-te (auch: William Lai) ist als Kandidat der DPP angetreten und war zuvor Vizepräsident Taiwans. Der 64-jährige ausgebildete Arzt war zunächst Abgeordneter, ab 2010 Bürgermeister der DPP-Hochburg Tainan und von 2017 bis 2019 Premierminister. Vor der Wahl 2020 forderte Lai seine amtierende Parteifreundin Tsai für die Präsidentschaftskandidatur heraus. Er unterlag, doch machte Tsai ihn anschließend zu ihrem Vizepräsidenten. Im Januar 2023 übernahm er den Parteivorsitz der DPP. In seiner ersten Rede als Premier vor dem Parlament bezeichnete Lai sich als „Politikarbeiter, der für Taiwans Unabhängigkeit eintritt“. Gleichzeitig betonte er, Taiwan sei als Republik China bereits unabhängig und müsse daher nicht offiziell seine Unabhängigkeit ausrufen. Trotzdem hat die chinesische Regierung ihn seitdem zum „Separatisten“ erklärt. Vor diesem Hintergrund ist unklar, ob Lai den austarierenden Kurs von Tsai gegenüber China fortsetzen oder für weitere Unruhen zwischen China und Taiwan sorgen könnte. Eine Befürchtung, die besonders die USA beunruhigen, die sich als inoffizielle Schutzmacht Taiwans verstehen.
Seine Mitstreiterin für den Posten der Vizepräsidentin wählte Lai wohl auch aus, um solche Bedenken zu zerstreuen: Hsiao Bi-khim war von 2020 bis Ende 2023 Taiwans inoffizielle Botschafterin in Washington. Die 52-jährige frühere Abgeordnete galt dort als gut vernetzte Diplomatin, die im US-Kongress parteiübergreifend um Unterstützung für Taiwan warb. Auch Hsiaos persönliche Biografie steht für Internationalität: Ihre Mutter ist US-Amerikanerin, geboren wurde sie in Japan. Viele Beobachter halten es für möglich, dass Hsiao in Zukunft selbst für die Präsidentschaft kandidieren könnte.
Um eine Wiederwahl der DPP zu verhindern, war zwischen KMT und TPP lange eine Allianz im Gespräch. Die Verhandlungen scheiterten jedoch in letzter Minute, da die Parteien sich nicht einigen konnten, wer bei einem Wahlsieg den Präsidenten und wer den Vizepräsidenten gestellt hätte. So ist die Opposition letztlich gespalten angetreten.
Für die KMT kandidierte Hou Yu-ih. Der 66-jährige hat ursprünglich als Polizist Karriere gemacht und wurde 2006 der ranghöchste Kriminalbeamte Taiwans. 2010 wurde er zum stellvertretenden Bürgermeister von New Taipei City berufen, einer der bevölkerungsreichsten Regionen Taiwans rund um die Hauptstadt. 2018 und 2022 gewann er dort die Wahl zum Bürgermeister. Hou gilt als volksnah und war der erste Präsidentschaftskandidat der KMT seit der Jahrtausendwende, dessen Vorfahren nicht erst 1949 nach Taiwan kamen, sondern seit vielen Generationen vor Ort leben. Beim alten Parteiadel in der KMT-Hierarchie ist er damit nicht besonders populär, was seine Führungsrolle offenbar einschränkt. So trat Hou bei den Verhandlungen über eine gemeinsame Kandidatur der Opposition nicht allein auf, sondern wurde stets vom KMT-Parteivorsitzenden Eric Chu flankiert.
Nach dem Scheitern der Verhandlungen mit der TPP ernannte die KMT Jaw Shau-kong zum Vizepräsidentschafts-Kandidaten. Der 73-jährige war zwischen 1987 und 1994 Abgeordneter. Damals hatte er die KMT verlassen und sich der abgespaltenen radikaleren New Party angeschlossen, die eine engere Bindung an China verlangte. Später wurde er Medienunternehmer und TV-Moderator. Erst 2021 trat er der KMT wieder bei. Die Entscheidung für ihn galt als Signal an Hardliner im blauen Lager, denen Jaw ideologisch nähersteht als Hou. Damit entschied sich die KMT, eher Stammwähler zu mobilisieren, als um unentschlossene Wechselwähler zu werben.
Kandidat der TPP war der Parteigründer und -vorsitzende Ko Wen-je. Der 64-jährige Arzt war einer der angesehensten Chirurgen Taiwans, bis er 2014 mit Unterstützung der DPP als parteiloser Quereinsteiger die Bürgermeisterwahl in Taipeh gewann. Während er sich zunächst als „hellgrün“ positionierte, sendete er später immer mehr Signale ins blaue Lager, etwa mit Bemerkungen, Taiwan und China gehörten zur gleichen „Familie“. Die DPP distanzierte sich von Ko, der 2019 die TPP gründete. Ko betont noch immer sein Image als politischer Außenseiter, der mit unkonventionellen Vorschlägen überrascht. Seine Botschaft, er könne Taiwans Probleme einfach und pragmatisch lösen, wenn er an der Macht und das alte Lagerdenken überwunden sei, hat populistische Züge. Einige seiner Äußerungen wurden wiederholt als frauenfeindlich oder stigmatisierend kritisiert.
Als Signal an jüngere und weibliche Wähler machte Ko die 45-jährige Cynthia Wu zu seiner Vize-Kandidatin. Sie kommt aus einer Familie von Finanzunternehmern, war erst Ende 2022 für die TPP ins Parlament nachgerückt und ist politisch ein eher unbeschriebenes Blatt.
Was waren die Themen im Wahlkampf?
Wie bei jeder Präsidentschaftswahl seit 1996 dominierten Interner Link: die Beziehungen zu und der Umgang mit China den Wahlkampf. Peking spricht Taiwan jede Staatlichkeit ab und verfolgt das erklärte Ziel, es unter seine Kontrolle zu bringen und der Volksrepublik nach dem Vorbild Hongkongs einzugliedern. Im August 2022 probte die Volksrepublik mit großen Militärmanövern eine Blockade, schickt seitdem deutlich regelmäßiger als zuvor Kampfflugzeuge Richtung Taiwan und führt mit seiner Marine Operationen rund um die Insel durch.
Aus Taiwans Sicht stellt sich die Frage, welche China-Strategie einen Konflikt unwahrscheinlicher macht, um Freiheiten und Selbstbestimmung auf der Insel zu erhalten. Die Ansätze der DPP und KMT unterscheiden sich entsprechend ihrer Ideologien, wobei beide den Schutz Taiwans als Ziel angeben.
Obwohl sich Taiwans Regierung seit 2016 offen für Verhandlungen auf Augenhöhe gezeigt hat, kappte die chinesische Regierung die Gesprächskanäle mit der Begründung, die DPP sei eine Separatisten-Organisation. So verlagerte die DPP ihre Strategie darauf, China möglichst wenig Vorwände für Provokationen zu liefern und zugleich Taiwans Beziehungen zur restlichen Welt zu stärken. Dazu zählen die USA als inoffizielle Schutzmacht Taiwans sowie Südostasien und Indien als alternative Produktionsstandorte und Absatzmärkte zu China. Die EU spielt vor allem als Wirtschaftspartner eine Rolle.
Russlands Angriff auf die Ukraine wurde in Taiwan als Weckruf wahrgenommen. Die DPP-Regierung forciert seitdem militärische Bereitschaft, Maßnahmen gegen chinesische Einflussnahme, den Kauf von Waffen vor allem in den USA und die Entwicklung eigener Waffensysteme. Das Versprechen ist, Taiwan durch eigene Stärke und Verbindungen in die Welt vor einem Angriff Chinas zu schützen, also durch Abschreckung. Laut Wahlsieger Lai sei die Wahl eine Entscheidung über Taiwans Zukunft als Demokratie oder Autokratie gewesen.
Für die KMT macht die Strategie der DPP eine Eskalation nur wahrscheinlicher. Sie nannte die Wahl eine Entscheidung zwischen Krieg und Frieden – mit der gegenwärtigen Regierungspartei als Kriegsrisiko und sich selbst als Friedensgarant. Die DPP verweigere sich dem Dialog mit Peking. Hauptargument der KMT war, dass Chinas Führung sich mit ihr an den Verhandlungstisch setzen würde, wie von 2008 bis 2016. Die damalige KMT-Regierung setzte auf engere wirtschaftliche Verflechtungen und versprach, politische Fragen auszuklammern. Hou betonte im Wahlkampf die Notwendigkeit von Dialog, um wieder Vertrauen aufzubauen. Im Gegensatz zu Peking sagte er allerdings auch, Taiwans Zukunft solle von den 23 Millionen Taiwanern entschieden und die Verteidigungsfähigkeit weiter ausgebaut werden. Insofern wird heute die Volksrepublik in Taiwan lagerübergreifend als Bedrohung betrachtet.
Die TPP versuchte, statt der Chinapolitik wirtschaftliche und soziale Fragen ins Zentrum des Wahlkampfes zu stellen. Damit fand sie besonderen Anklang bei Taiwanerinnen und Taiwanern unter 40 Jahren. Diese sorgen sich besonders um stagnierende Löhne, astronomische Immobilienpreise und die zunehmende soziale Ungleichheit. Als ein Symptom davon heiraten viele verhältnismäßig spät oder gar nicht, Taiwans Geburtenrate ist eine der niedrigsten der Welt.
Eigentlich gelten die jüngeren Wahlberechtigten nicht als wahlentscheidend, weil sie einen kleineren Teil der Bevölkerung ausmachen als ältere Jahrgänge und ihre Wahlbeteiligung zudem niedriger ist. Allerdings wurde angesichts der drei Präsidentschaftskandidaten 2024 ein knappes Rennen erwartet. Weil sie oft noch keine gefestigte politische Positionen haben, stellten junge Menschen die größte Gruppe unentschiedener Wähler und wurden deshalb doch von allen Parteien umworben.
Nach acht Jahren an der Regierung stellt die DPP für viele Jüngere das Establishment dar, von dem sie sich keine Verbesserungen erhoffen. Sie sind ebenso wenig zur KMT hingezogen, die als „Alte-Männer-Partei“ gilt. Viele fühlen sich von der TPP angesprochen, deren Kandidat Ko ihre Sorgen offen adressiert und die etablierten Parteien KMT und DPP für die schwierigen Verhältnisse verantwortlich macht. Die TPP nutzte im Wahlkampf erfolgreich die bei Jüngeren beliebte Video-Plattform TikTok, während die DPP diese wegen ihrer chinesischen Herkunft boykottiert. Allerdings hatte auch Ko keine Patentrezepte anzubieten und blieb bei der Frage nach konkreten Vorhaben vage. Alle drei Kandidaten versprachen zahlreiche einzelne Fördermaßnahmen und Erleichterungen. Statt kohärenter und grundlegender Sozialreformen wollten sie aber eher an Stellschrauben drehen.
Der TPP gelang es nur bedingt, den Fokus des Wahlkampfes weg von der Chinafrage zu lenken. Die Auswahl der polarisierenden Vize-Kandidaten von DPP und KMT rückte die Frage, ob Taiwans Zukunft eher in der Kooperation mit den USA oder mit China liegt, wieder stärker in den Vordergrund. Auch Ko vollzog im Wahlkampf einen erneuten Schwenk und bezeichnete sich als „im Herzen dunkelgrün“: Er hätte als Präsident zwar den Dialog mit Peking suchen wollen, aber die Außen- und Verteidigungspolitik der vorherigen acht Jahre fortgeführt.
Wie schaut die Volksrepublik China auf die Wahlen?
Pekings Priorität war eine Abwahl der DPP. Um das Vertrauen der Taiwaner in ihre Regierung zu zerrütten, versuchten chinesische Akteure über verschiedene Wege Einfluss zu nehmen: etwa durch politische Äußerungen, militärische und wirtschaftliche Provokationen sowie Desinformationskampagnen. Als erste Reaktion auf das Wahlergebnis wiederholte Peking nochmals die von der Volksrepublik angestrebte "Wiedervereinigung" mit Taiwan und behauptete die DPP könne, angesichts des Mehrheitsverlusts im Parlament, nicht die allgemein öffentliche Meinung auf der Insel repräsentieren. In Anbetracht des Wahlsiegs von Lai Ching-te wird die Volksrepublik wohl ihren bisherigen Kurs fortführen: Taiwan politisch isolieren, jeglichen Dialog ablehnen, militärische Manöver hochfahren, Taiwans Verteidigungsfähigkeit zermürben und Interner Link: mit der Möglichkeit eines Angriffs drohen. Über Wahrscheinlichkeit und Zeitrahmen einer Eskalation gibt es unter Experten keine Einigkeit. Sollte die erneute DPP-Regierung durch den Verlust der Parlamentsmehrheit politisch gelähmt sein, würde das Peking entgegenkommen.
Im Fall eines Regierungswechsels hätte Peking vermutlich die offensichtlichen Provokationen heruntergefahren und mit einer von Hou oder Ko geführten Regierung Gespräche geführt – sofern diese sich grundsätzlich zum „Ein-China-Prinzip“ bekannt hätten. Zu bedenken ist aber, dass China in jedem Fall weiterhin sein Hauptziel verfolgt hätte: Die Kontrolle über Taiwan. Das vermeintliche Ausklammern politischer Differenzen hätte den grundlegenden Konflikt um Chinas Machtanspruch nicht gelöst. In Pekings Taiwanpolitik der vergangenen 20 Jahre findet sich kein Beispiel für einen Kompromiss, der nicht gleichzeitig China seinem Ziel nähergebracht hätte. Zugleich festigt sich bei vielen Taiwanerinnen und Taiwanern mittlerweile die eigene nationale Identität, während ein Zusammengehen mit der Volksrepublik immer unattraktiver erscheint.
Auch wenn Taiwan – aufgrund vermeintlicher Entspannung – zunächst wieder aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit gerät, wird es ein möglicher Konfliktherd bleiben, an dem sich auch die Rivalität zwischen der Volksrepublik China und den USA entzünden könnte – unabhängig vom Wahlausgang.
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