Seit etwa 2017, als erste Berichte über massenweise Einweisungen in Umerziehungslager aus der Region Xinjiang ins Ausland drangen, hat sich Chinas Umgang mit den dort lebenden Uigur:innen zu einem Dauerthema entwickelt. Wie die chinesische Regierung diese überwiegend muslimische, turksprachige Ethnie behandelt, beeinflusst zunehmend die Wahrnehmung Chinas in der („westlichen“) Welt. Die chinesische Regierung rechtfertigt ihr Vorgehen als Maßnahme zur Deradikalisierung einer von außen beeinflussten und zu Terrorakten angestachelten Minderheit sowie als wirtschaftliche Unterstützungsmaßnahme zur Armutsbeseitigung. Im Westen werden ein (kultureller) Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit diskutiert, Vorwürfe, die u.a. von Wissenschaftler:innen, Menschenrechtsaktivist:innen und uigurischen Exilorganisationen erhoben und teilweise von Parlamenten im Ausland übernommen wurden. Bei den Vorwürfen von NGOs, ehemaligen Inhaftierten und am System Beteiligten geht es nicht nur um die „Umerziehungslager“, in denen sexueller Missbrauch bis hin zu Massenvergewaltigungen und systematische Folter stattfinden sollen, sondern auch um Zwangsarbeit, Zwangssterilisation zur Geburtenbegrenzung, Einschränkungen der Religionsfreiheit und andere Eingriffe in die Freiheitsrechte der betroffenen Ethnien. Dieser Beitrag erläutert die Hintergründe des Xinjiang-Konflikts, analysiert die Dynamik der Eskalation, die im letzten Jahrzehnt stattgefunden hat, und ordnet die Informationen ein, die zum Vorgehen der chinesischen Regierung in Xinjiang vorliegen.
Hintergründe des Xinjiang-Konflikts
Die Autonome Region der Uiguren Xinjiang (so der offizielle Name) ist eine Verwaltungseinheit auf Provinzebene im äußersten Nordwesten Chinas. Geografisch und kulturhistorisch gehört sie zu Zentralasien und grenzt an die Mongolei, Russland, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Pakistan und Indien. Mit 1,66 Millionen km² Fläche ist Xinjiang etwa dreimal so groß wie Frankreich. Es handelt sich um ein strategisch wichtiges Gebiet, das über zahlreiche Bodenschätze verfügt und seit 2013 in der von Partei- und Staatschef Xi Jinping ausgerufenen „Neuen Seidenstraßeninitiative“ eine herausragende Rolle als Drehscheibe des internationalen Handels zugewiesen bekommen hat.
Historisch betrachtet wurde die „Westregion“ (xiyu) zwar seit der Han-Dynastie im zweiten und ersten vorchristlichen Jahrhundert mehrfach von aus dem chinesischen Kernland kommenden Armeen eingenommen. Diese konnten sich aber immer nur in Teilen der heutigen Region (v.a. im Norden und Osten) etablieren und phasenweise dort halten. Erst der mandschurischen Qing-Dynastie gelang in der Mitte des 18. Jahrhunderts die dauerhafte Angliederung der gesamten Region an ein Reich, das von Beijing aus regiert wurde. Nach Aufständen, Abspaltungsversuchen und einer russischen Invasion, die sich diese Unruhen Ende des 19. Jahrhunderts zunutze machte, konnte die Region militärisch zurückerobert werden – ein seltener Erfolg der damals geschwächten Kaiserherrschaft. Ab 1884 wurde die „Westregion“ in die „Provinz Xinjiang“ umgewandelt (der Namen bedeutet übersetzt „Neue Grenze/Grenzregion“). Damit wurde die bis dahin praktizierte indirekte Herrschaft durch lokale Machthaber, welche der Hof in Beijing anerkannte, mit der direkten Kontrolle durch entsandte Han-chinesische Beamte ersetzt. Statt einer Angliederung ans Kaiserreich kann man jetzt von einer Eingliederung sprechen, die in ihren Wesenszügen kolonialistischem Vorgehen ähnelte. Der Zusammenbruch der Qing-Dynastie 1911 verhinderte, dass dieses Programm, das auch die kulturelle Assimilation der muslimischen Bevölkerung vorsah, weit gedeihen konnte.
Die Republikzeit (1912-49) nach dem Ende des Kaiserreichs war auch in Xinjiang von zahlreichen Bürgerkriegen und äußeren Bedrohungen geprägt. Bemerkenswert ist die zweimalige Gründung einer „Republik Ostturkestan“. Auch wenn die erste 1933-34 nur wenige Monate Bestand hatte, und auch die zweite 1944-49 primär von der Sowjetunion abhängig blieb, stellen diese Versuche der Eigenstaatlichkeit bis heute Vorbilder für exiluigurische Organisationen und Schreckensvisionen für die KPCh-Führung in Beijing dar. Mit der Gründung der Volksrepublik China (VRCh) gab die Sowjetunion ihre Unterstützung für eine separate Republik Ostturkestan auf, und die gesamte Region wurde fester als je zuvor in den neu gebildeten chinesischen Staat integriert.
Damit veränderten sich auch die demografischen Gewichte dramatisch. Zu Beginn der VRCh in den frühen 1950er Jahren waren rund drei Viertel der Bewohner:innen uigurischer Ethnizität und 10 Prozent Kasach:innen. Dafür lebten weniger als zehn Prozent Han-Chines:innen in der Region, obwohl sie an der Gesamtbevölkerung des Landes über 90 Prozent ausmachen. Nach drei Jahrzehnten hatten sich aufgrund einer gezielten Ansiedlungspolitik der Zentralregierung die Anteile der drei größten Gruppen auf 46 Prozent Uigur:innen, 40 Prozent Han und 7 Prozent Kasach:innen verschoben (Zensusdaten des Jahres 1982). Den Rest machten und machen jeweils kleinere, meist muslimische Gruppen wie Hui, Kirgis:innen u.a. aus. Nach der letzten Volkszählung Ende 2020 wurden die Bevölkerungsanteile der Uigur:innen mit 45 Prozent und der Han mit 42 Prozent angegeben. Die Zahl der kurzfristigen Migrant:innen von außerhalb der Region wird offiziell mit 3,39 Millionen angegeben. Es ist davon auszugehen, dass dies überwiegend Han sein dürften. Zählt man diese zur dauerhaften Bevölkerung hinzu, ergibt sich ein Han-Anteil von 49 Prozent, derjenige der uigurischen Bevölkerung sinkt dagegen auf knapp 40 Prozent. Während der Mao-Ära wurden vor allem demobilisierte Soldat:innen und Jugendliche aus den Städten Ostchinas, aber auch politische Gefangene nach Xinjiang geschickt. Bei ihrer Aufnahme spielte das Xinjiang Produktions- und Aufbaukorps eine große Rolle, das die Funktionen einer Miliz zur Sicherung des Grenzgebiets, mit Wirtschaftsaufbau, Ressourcengewinnung und territorialer Verwaltung verbindet. Seit Beginn der 1980er Jahre kamen dagegen viele Han-chinesische Migrant:innen aus eigenem Antrieb in die Region.
In der Mao-Ära wurden die Kulturen der minorisierten Ethnien der Region vor allem ab den späten 1950ern stark unterdrückt. In dieser Hochphase des Maoismus galten sie als „rückständig“ und damit anti-sozialistisch. Erst unter Deng Xiaopings Reform- und Öffnungspolitik ab den späten 1970ern wandelte sich der Umgang wieder und es kam zu einer kulturellen Wiederbelebung, die auch den Islam als am weitesten verbreitete Religion in Xinjiang einschloss. Hierzu trugen auch vermehrte Außenkontakte zu Pakistan bei. Als mit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion 1991 in direkter Nachbarschaft zu Xinjiang neue unabhängige Republiken in Zentralasien entstanden, deren namensgebenden Ethnien auch in Xinjiang beheimatet sind, verbanden sich religiöse und ethnonationalistische Motive zu einem ausgeprägten Unruhepotenzial. Auch das Gefühl , durch Han-chinesische Staats- und Wirtschaftsakteure ausgebeutet zu werden, die in der Region durch Ölförderung u.a. Aktivitäten Gewinne machten, ohne die lokale Bevölkerung angemessen zu beteiligen, spielte hierbei eine Rolle. Tatsächlich wuchsen nun auch im landwirtschaftlich geprägten, uigurisch dominierten Süden der Region einige Zentren der Ölförderung (z.B. Korla), die fast ausschließlich Han beschäftigten, während die uigurische Bevölkerung in weiten Teilen in Armut verharrte. So kam es in den 1990er Jahren zu einer Reihe von Protesten, teils mit gewaltsamen Ausschreitungen, die von den Sicherheitskräften mit harter Hand niedergeschlagen wurden. Zudem wurden einige sogenannte „rote Imame“, die in den Augen ihrer Kritiker zu eng mit der Regierung zusammengearbeitet hatten, Opfer von Anschlägen, und es gab Anfang 1997 sogar einige Bombenattentate auf die Zivilbevölkerung. Die chinesische Regierung begann daher von den „drei Übeln des Terrorismus, Extremismus und Separatismus“ zu sprechen, die die Region destabilisieren würden. Mit „Hart zuschlagen“-Kampagnen, die Ende der 1990er Jahre durchgeführt wurden, konnte diese erste Welle an ethnischen Unruhen gewaltsam gebrochen werden. Sie umfassten viele Verhaftungen und schnelle und harte Urteile (inkl. der Todesstrafe). In den frühen 2000er Jahren blieben weitere Widerstandsaktionen aus, obwohl die Regierung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ihr Vorgehen in der Region als Teil des von den USA ausgerufenen „Globalen Kriegs gegen den Terror“ darzustellen versuchte. Dabei gerieten Uigur:innen sowohl bei Sicherheitsbehörden als auch in der allgemeinen Öffentlichkeit Chinas leicht unter einen Generalverdacht, dem Extremismus oder Terrorismus zuzuneigen.
Ab 2000 setzte Beijing zusätzlich zur Repression auch Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung ein: Mit dem Programm zur „Großen Entwicklung des Westens“ pumpte die Regierung viele Investitionen in große Infrastrukturprojekte wie Eisenbahnen und Überlandstraßen, um die Region noch enger ans Kernland anzubinden. So gelangten immer mehr Han-Chines:innen nach Xinjiang, was mittelfristig das Gefühl der Einheimischen verstärkte, sozial und wirtschaftlich marginalisiert zu werden. Auch wenn es über Jahre oberflächlich ruhig blieb, wuchsen so die Unzufriedenheit und Distanz zwischen den Ethnien.
Die Eskalation der Auseinandersetzungen
Am 5. Juli 2009 brachen die Spannungen in der Regionalhauptstadt Urumqi schließlich in offene Gewalt aus. Eine zunächst friedliche Kundgebung gegen gewaltsame anti-uigurische Unruhen mit zwei uigurischen Todesopfern in der südostchinesischen Provinz Guangdong eskalierte in Ausschreitungen, bei denen nach offiziellen chinesischen Angaben 197 Personen getötet und 1.700 verletzt wurden, darunter in der Mehrzahl Han-Chines:innen. In den Folgetagen kam es nicht nur zu offenbar willkürlichen Verhaftungen, sondern auch zu Racheakten an Uigur:innen durch Han-chinesische Zivilisten. Diese Gewalt und Gegengewalt kann als Ausgangspunkt der Eskalationsspirale gelten, die sich in den folgenden Jahren immer weiter drehte und schließlich ab 2017 zu einer Umerziehungskampagne in bisher nie dagewesenem Ausmaß führte. Zunächst reagierte der Parteistaat nach dem bekannten Muster mit Zuckerbrot und Peitsche. Eine Welle von Verhaftungen, schnellen und harten Urteilen gegen (vermeintliche) uigurische Unruhestifter:innen wurde ergänzt um neue Fördermaßnahmen für die Regionalwirtschaft. Letztere brachten abermals Han-Chines:innen in die Region, nachdem viele zunächst geschockt von der Gewalt aus Xinjiang abgewandert waren. Doch gerade durch das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte, die jede Form von Unmutsäußerungen der muslimischen Lokalbevölkerung als „terroristischen Akt“ verstanden, wurde weiterer Widerstand provoziert. Die staatliche Seite behauptete zudem immer wieder eine „externe Anstiftung“ durch radikal-islamische Kräfte, blieb Beweise hierfür jedoch schuldig. Es ist allerdings davon auszugehen, dass Gruppierungen wie al-Kaida oder „Islamischer Staat“ zumindest Inspiration für radikale Einzeltäter oder Kleingruppen boten, die ab 2013 zu Terroranschlägen auf zivile Ziele übergingen. Besonders dramatisch fielen Attacken in weit entfernten Landesteilen wie Beijing und Kunming aus, die sowohl viele Opfer forderten als auch hohe symbolische Bedeutung besaßen.
Angesichts dieser Zuspitzung rief der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) Xi Jinping persönlich bei einem Besuch in Urumqi einen „Volkskrieg gegen den Terror“ aus und verschärfte so die Gangart erheblich. Als dies immer noch keine Beruhigung brachte, wurde im August 2016 mit Chen Quanguo ein Hardliner als Parteisekretär der Region eingesetzt, der bereits in Tibet eine Strategie der „Versicherheitlichung“ (securitization) eingeführt hatte und damit aus Sicht Beijings erfolgreich war. So ließ er die Polizeikräfte massiv aufstocken und ein engmaschiges Kontrollsystem einrichten, das Straßenkontrollen und digitale Überwachung umfasste und in dessen Rahmen sogar staatliche Han-Angestellte als 'Verwandte' für eine längere Dauer in uigurischen Haushalten platziert wurden. Ab Frühjahr 2017 wurden unzählige Angehörige der muslimischen Ethnien Xinjiangs, die sich in irgendeiner Form des „Extremismus“ verdächtig gemacht hatten, in Umerziehungslager eingewiesen. Dabei war es Anlass genug, wenn jemand regelmäßig betete, Anrufe aus dem Ausland erhielt, eine verbotene App auf dem Mobiltelefon oder gegen die Geburtenplanung verstoßen hatte usw. Die genaue Zahl der Eingesperrten lässt sich nicht beziffern, aber Schätzungen gehen von Hunderttausenden bis zu über einer Million aus. Bei aller Vorsicht, die bei solchen Hochrechnungen geboten ist, besteht kein Zweifel daran, dass die Umerziehungskampagne beispiellose Dimensionen erreichte. Die Non-Profit-Organisation Xinjiang Victims Database sammelt auf ihrer Webseite [Externer Link: https://shahit.biz] Informationen zu mittlerweile rund 60.000 Betroffenen, die identifiziert wurden.
Die Berichte aus den Lagern sind erschütternd, da sie von teils unmenschlichen Haftbedingungen, Erniedrigungen, Folter, sexualisierter Gewalt etc. handeln. Die chinesische Regierung, die zunächst die Existenz der Lager insgesamt leugnete, schwenkte ab Oktober 2018 auf eine neue Linie um und bezeichnete sie als „Berufstechnische Ausbildungszentren“, die der Extremismusbekämpfung dienten. Tatsächlich erhielten die Insassen zunächst Ausbildung in der chinesischen Sprache, gefolgt von politisch-rechtlicher Indoktrinierung und erst am Ende ergänzt durch berufliche Ausbildungselemente. Dass eine Ausbildung nicht im Vordergrund stehen konnten, zeigt sich auch daran, dass praktisch die gesamte kulturelle, geistliche und wirtschaftliche uigurische Elite in den Lagern verschwand, also Personen, denen es keineswegs an beruflichen Qualifikationen mangelte. Außerdem waren auch andere Volksgruppen wie die kasachische von den Einweisungen betroffen, obwohl es aus dieser Gemeinschaft keinerlei terroristische Bedrohung gegeben hatte. Vielmehr muss diese Kampagne im Zusammenhang mit der insgesamt auf Assimilation von Minderheiten und „Sinisierung der Religionen“ abzielende Politik unter Xi Jinping verstanden werden.
Die Umerziehungskampagne in dieser offensichtlichen Version erreichte 2019 ihren Höhepunkt. Angesichts wachsender internationaler Kritik erklärte die Regionalregierung Ende dieses Jahres überraschend, alle „Schüler:innen“ der „Berufsschulen“ hätten ihren „Abschluss gemacht“ und seien somit entlassen worden. Ein Ende der Unterdrückung von Uigur:innen bedeutet dies allerdings nicht, sondern nur eine Verlagerung hin zu „unsichtbarer Repression“. Das heißt, dass die Straßensperren aus dem Stadtbild verschwunden sind und durch Überwachungskameras ersetzt wurden. Das Ziel ist es weiterhin, die minorisierten Ethnien an die Han-Chinesen anzupassen und in allen Lebensbereichen zu kontrollieren. Auch wenn die Zahl der Lager und deren Insassen vermutlich zurückgegangen ist, haben diese längst nicht alle die Freiheit erlangt. Stattdessen sind zahlreiche lange Haftstrafen verhängt worden, während eine große Zahl mutmaßlich zur Zwangsarbeit in Fabriken entlassen wurde. Zusätzlich zu diesen Entlassenen wurden Hunderttausende v.a. aus dem uigurisch geprägten und verarmten Süden Xinjiangs als „ländliche Überschussarbeitskräfte“ rekrutiert und im Zuge der Armutsbeseitigung auf industrielle Arbeitsplätze transferiert, wo sie leichter zu überwachen sind. Diese staatlichen Maßnahmen verfolgen nicht nur ökonomische Ziele, sondern dienen auch dazu, die Betroffenen zu „modernen sozialistischen Menschen“ umzuformen. Kulturelle Eigenheiten der uigurischen Gemeinschaft, die aus Sicht des Parteistaats problematisch sind, bleiben dabei ganz bewusst auf der Strecke.
Neben dem Arbeitsleben stellt auch die Reproduktion ein Feld staatlicher Eingriffe dar. Lange galten für die ethnischen Minderheiten Ausnahmen von der für Han-Chinesen strengen Geburtenkontrolle (im Extremfall „Ein-Kind-Politik“). Gleichzeitig zur Lockerung für Han wurden die Regeln für minorisierte Gruppen in Xinjiang aber verschärft und strenger durchgesetzt. Zu viele Kinder zu haben galt als Anzeichen von Extremismus. In den Jahren 2017 und 2018 wurde eine Kampagne von Sterilisationen unter Uigurinnen und Kasachinnen durchgeführt, die einen drastischen Rückgang der Geburtenrate der gesamten Region zur Folge hatte. Sie sank von 15,88 Promille 2017 auf nur noch 8,14 Promille 2019. Im Jahr 2022 fiel sie weiter auf 6,53 Promille. Ein so dramatischer Einbruch der Geburtenrate lässt sich nicht durch Faktoren wie steigende Einkommen, Bildung und Urbanisierung erklären, die von chinesischen Offiziellen angeführt wurden, da sie alle nur mittelfristig wirken. Um die Kinder noch früher auf Hochchinesisch zu unterrichten und politisch zur Loyalität gegenüber Partei und Staat zu erziehen, wurde zudem der Bereich der Vorschulen – teils als Internate – drastisch ausgebaut. Diese und andere Maßnahmen zielen eindeutig auf kulturelle Assimilation an Han-chinesische Standards ab und können in ihrer Summe als kultureller Genozid bezeichnet werden. Damit soll das erreicht werden, was der Genozid-Historiker A. Dirk Moses als „dauerhafte Sicherheit“ (permanent security) bezeichnet, wobei er das staatliche Streben danach als Ursache für viele Völkerrechtsverbrechen ausmacht.
Zwar wurde der Hardliner Chen Quanguo Ende 2021 durch den Technokraten Ma Xingrui als Xinjiangs Parteisekretär abgelöst, und die neue Regionalführung legt größeren Wert auf Wirtschaftsentwicklung, u.a. durch Förderung des Tourismus. Doch bleibt es bei den Einschränkungen für Religionsausübung, Freizügigkeit und viele Formen des kulturellen Ausdrucks, die Beijing suspekt erscheinen. Die Betonung der Politik liegt weiter darauf, die minorisierten Ethnien mit den Han zu verschmelzen, sodass sie – in den Worten Xi Jinpings – „so eng verbunden sind wie die Kerne eines Granatapfels“. Dahinter steht die Überzeugung, dass nur eine geeinte „chinesische Nation“ (Zhonghua minzu), in der die einzelnen Ethnien aufgehen, die Basis für die von der KPCh propagierte Renaissance Chinas bilden könne. Mit anderen Worten stehen die politischen Zeichen weiterhin auf Assimilation der minorisierten Ethnien.