Wen Jiabao bei der Eröffnung eines Wirtschafts-Forums 2011 12. Mai 2008: Ein gewaltiges Erdbeben erschüttert die zentralchinesische Provinz Sichuan. Die Regierung in Peking wird sofort informiert: Bei einer Stärke von 7,8 auf der Richterskala sind große Zerstörungen zu befürchten. Als die offiziellen Berichte noch von wenigen Toten sprechen, ist Ministerpräsident Wen Jiabao schon nach Sichuan unterwegs. Bereits wenige Stunden nach dem Beben verschafft er sich in der Bergregion einen Eindruck von dem Ausmaß der Katastrophe.
Die Bilder gingen um ganz China, der Ministerpräsident konnte angesichts der vielen Toten und Verschütteten die Tränen nicht zurückhalten. Wen sprach Überlebenden Mut zu und tröstete Verletzte; die schockierte Nation war beeindruckt. "Wen Zongli", der Ministerpräsident Wen hatte sich wieder einmal als Mann des Volkes gezeigt. Ganz anders als seine Kollegen im Politbüro und im Kabinett ist Wen Jiabao ein Führer, der sich um Volksnähe bemüht. Bei ihm geht es nicht um gestellte Bilder oder steife Besuche bei "den Massen", wie das Kommunistische Führer vor ihm zelebriert haben.
"Großvater Wen"
Wen Jiabao interessiert sich wirklich für die Nöte und Sorgen seiner Landsleute. Er hat keine Berührungsängste und kann auf Bauern und Arbeiter zugehen. Der Ministerpräsident kommt gut an und ist nebenbei auch versiert darin, seine Auftritte medienwirksam zu inszenieren. Als "Großvater Wen" stellte er sich den traumatisierten Kindern in der Erdbeben-Region vor und versprach ihnen, er werde wiederkommen und sich um sie kümmern. Dank Wen Jiabaos erhielt die chinesische Regierung nicht nur in den offiziellen Medien, sondern auch in dem für Kritik offenen Internet viel Lob für ihre Reaktion auf die Erdbeben- Katastrophe.
Wen Jiabao unterscheidet sich in Herkunft und Ausbildung von seinen Vorgängern und Genossen in der Parteiführung. Er wurde im Jahr 1942 in der nahe bei Peking gelegenen Metropole Tianjin als Sohn eines Lehrers geboren. Anders als die meisten der chinesischen Parteiführer ist er nicht Ingenieur, sondern Geologe von Beruf. Seine Parteikarriere führte ihn zu Beginn in arme Inlandsregionen Chinas. 14 Jahre lang, von 1968 bis 1982, war er in der rückständigen Provinz Gansu im Nordwesten tätig. Dass er von dort fast direkt ins Zentrum der Macht in Peking aufstieg, deutet darauf hin, dass er in Gansu wichtige Freunde und Förderer gefunden hat. Sie empfahlen ihn als fähig und zuverlässig für einen einflussreichen Posten in der Regierung.
Bereits nach zwei Jahren als stellvertretender Minister für Geologie und Ressourcen in Peking wurde Wen Jiabao im Jahr 1985 zunächst stellvertretender Leiter und wiederum ein Jahr später sogar Büroleiter des Zentralkomitees. Dieses mächtige Büro untersteht direkt dem Parteichef und stellt damit das wichtigste Arbeitsgremium in der Partei dar. Der Leiter des ZK-Büros berät und unterstützt den Parteichef und ist an allen wichtigen Entscheidungen auch in Personalien beteiligt.
Der erste Parteichef, dem Wen Jiabao diente, war Hu Yaobang, der für vorsichtige politische Reformen eintrat – in einem Zeitabschnitt, als China sich langsam öffnete und seine sozialistische Planwirtschaft aufgab. Hu Yaobang ging den orthodox-marxistischen Parteiführern zu weit. Er wurde nach Studentendemonstrationen von 1986 abgesetzt. Wen Jiabao aber, sein Büroleiter, blieb im Amt. Nach dem ruhmlosen Abgang von Hu Yaobang diente er seinem Nachfolger, Zhao Ziyang, dem tragischen Helden der Demokratiebewegung von 1989. Auch Zhao war ein Parteichef, dem es ernst war, nicht nur mit marktwirtschaftlichen Reformen für China. Er wollte ebenso politische Reformen, mehr Demokratie und Transparenz in der Partei. Er ermutigte die Intellektuellen, das westliche politische System zu studieren und ließ mehr Meinungsfreiheit im bis dahin noch streng zensierten China zu. Wen Jiabao stand an seiner Seite.
Studentenproteste am Platz des Himmlischen Friedens
Es war auch dank der Öffnungspolitik Zhao Ziyangs, dass im Jahr 1989 die Studenten in Peking wagten, ihre Regierung zu kritisieren. Im ganzen Land gärte es, Studentendemonstrationen nahmen zu. Die Studenten prangerten Korruption an und forderten demokratische Reformen für China nach dem Beispiel der Sowjetunion unter Gorbatschow. Die Machtprobe zwischen den Studenten und der Parteiführung gipfelte schließlich in einem Hungerstreik auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Mai und Juni des Jahres 1989. Die konservativen Parteiführer forderten ein hartes Vorgehen gegen die Studenten. Zhao Ziyang sympathisierte mit ihren Forderungen und war bemüht, die Lage zu entschärfen.
Am 19. Mai 1989 ging Zhao Ziyang zu den Studenten auf den Platz des Himmlischen Friedens und beschwor sie mit Tränen erstickter Stimme, nachzugeben, um eine Konfrontation zu vermeiden. Begleitet wurde er bei dieser historischen Begegnung von Wen Jiabao. Das Foto, das die "Volkszeitung" von der Begegnung auf der Titelseite veröffentlichte, zeigte Wen hinter Zhao Ziyang stehend. Die enge Verbundenheit Wens mit dem umstrittenen Parteichef war damit dokumentiert. Wenige Tage später wurde Zhao Ziyang abgesetzt und unter Hausarrest gestellt, die konservativen Parteiführer befahlen der Volksbefreiungsarmee, gegen die Studenten und andere Demonstranten in der Stadt vorzugehen. Panzer rollten auf den Platz des Himmlischen Friedens. Hunderte wurden bei dem Einsatz getötet. Deng Xiaoping bestellte einen neuen Parteichef. Nach Wochen der Unruhe und der internen Säuberungen zeigte sich, dass Wen Jiabao wiederum den Sturz seines Parteichefs überlebt hatte, er blieb Leiter des ZK-Büros.
Politischer Überlebenskünstler
Dass Wen Jiabao nach der Entlassung und Festnahme seines Parteichefs Zhao Ziyang und der anschließenden Säuberung der Partei Leiter des Büros des Zentralkomitees verbleiben konnte, ist eines der großen Rätsel um Wens Karriere, das noch der Aufklärung bedarf. Wie ist es ihm gelungen, als enger Vertrauter und Mitarbeiter von Zhao Ziyang nicht nur dessen Sturz unbeschadet zu überstehen, sondern sich sogar noch dem neuen Parteichef Jiang Zemin als rechte Hand zu empfehlen? Es gibt dazu drei Theorien. Nach der einen hat Wen Jiabao sich sogleich und genügend überzeugend von Zhao Ziyang distanziert, manche sagen, er habe seinen Chef "verraten". Andere behaupten, Wens Verbleib im Amt sei Resultat eines Kompromisses zwischen den verschiedenen Parteifraktionen. Andere Beobachter haben spekuliert, dass er wegen seiner Sachkenntnis vor allem in Wirtschaftsfragen und seiner guten Kontakte im Regierungsapparat auch für den neuen Parteichef Jiang Zemin unverzichtbar blieb.
Jedenfalls haftete Wen Jiabao nach dem Sturz von Zhao Ziyang ein Ruf des politischen Überlebenskünstlers oder auch eines Wendehalses an, der in der Lage ist, sich für alle Seiten unentbehrlich zu machen. Während Zhao Ziyang unter Hausarrest verblieb, stieg Wen im Politbüro auf. Im Jahr 1998 wurde er einer von fünf stellvertretenden Ministerpräsidenten unter Zhu Rongji und war für die Leitung der Finanz- und Wirtschaftspolitik zuständig. Als Zhu nach nur einer Amtszeit abtrat, übernahm Wen Jiabao im Jahr 2003 seine Nachfolge. Seine Ernennung zum Ministerpräsidenten fiel auch mit einem Wechsel in der Parteiführung zusammen. Nachdem der Parteikongress im Jahr 2002 Hu Jintao zum Parteichef gekürt hatte, wurde Wen Jiabao als Ministerpräsident dessen wichtigste Stütze. Beide Politiker zeigten sich bemüht, neue Akzente zu setzen und einen anderen Stil in die Politik einzuführen. Nach einer Politik, die auf hohe Wachstumszahlen, schnelle Entwicklung und Ausbau der Infrastruktur gesetzt hatte, betonten Hu Jintao und Wen Jiabao erstmals die Sozialpolitik.
Das war dringend notwendig, denn die Jahre des ungeregelten und wilden Wachstums in der Volksrepublik hatten zu gesellschaftlichen Verwerfungen geführt. Erste Schattenseiten des Dauerbooms zeigten sich. Die Kluft zwischen Arm und Reich war gewachsen. Während die Städte, besonders im Osten, vom Wirtschaftsaufschwung profitierten, hatten die Bauern in den Inlandprovinzen und die bäuerlichen Wanderarbeiter um ihr Überleben zu kämpfen.
Großprojekte in der Sozialpolitik
Präsident Hu Jintao gab als seine "Regierungsdevise" aus, "den Menschen in den Mittelpunkt stellen". Ministerpräsident Wen Jiabao wurde zum Fahnenträger einer sozialeren Ausrichtung des ungezügelten chinesischen Kapitalismus, der sich noch immer "sozialistische Marktwirtschaft" nennt. Wen Jiabao verbrachte Neujahrsabende bei "Kumpeln" in chinesischen Bergwerken, bei seinen Reisen traf er sich mit Bauern und Wanderarbeitern und ließ sich von ihren Nöten berichten. Bei Überschwemmungen und anderen Naturkatastrophen zeigte er sich am Einsatzort und gab den örtlichen Kadern Anweisungen, wie sie die Katastrophenhilfe zu gestalten hätten. Bei Verfehlungen hielt er ihnen wütende "Gardinenpredigten".
Der immer leicht bekümmert wirkende Gesichtsausdruck des Ministerpräsidenten verstärkt den Eindruck seiner Aufrichtigkeit. Nicht nur weil er gern mit erhobenem Zeigefinger redet, wirkt er oft oberlehrerhaft. Er fasst seine Reden, die eher Vorträge sind, gern in Punkte, die er penibel und ausführlich abhakt. Er ist dafür bekannt, dass er sich auch im Regierungsgeschäft um alle Details kümmert. In der Regierungszeit Wen Jiabaos sind bis jetzt einige Großprojekte der Sozialpolitik in Angriff genommen worden, auf die Reformer schon lange gedrängt hatten. So hat er es durchgesetzt, dass Chinas Kinder für die neunjährige Schulpflicht kein Schulgeld mehr bezahlen müssen, womit er den Bauernfamilien eine große Last genommen hat. Ein Gesundheitsfonds für die ländliche Bevölkerung wurde zudem eingerichtet, der den Bauern ein Mindestmaß an Versicherungsschutz im Krankheitsfall geben soll. Ihnen wird auch endlich eine staatliche Rente in Aussicht gestellt. Und die bäuerliche Bevölkerung soll durch die Beendigung des Haushaltssystems endlich die gleichen Rechte bekommen wie die Stadtbevölkerung.
Auch der internationalen Politik Chinas hat Wen Jiabao ein freundlicheres Gesicht gegeben. Er ist umgänglich und gesprächig, weicht unangenehmen Fragen nicht aus und verfügt über eine große Sachkenntnis. Gesprächspartner sind beeindruckt von der Sicherheit, mit der er über Zahlen und Daten spricht. Seine Freundlichkeit wirkt nie aufgesetzt. Gelegentlich setzt er sogar neue Akzente. Beim ersten Besuch von Angela Merkel empfing Wen Jiabao die Bundeskanzlerin zu einem Plausch mit Frühsport in einem idyllischen Park am Kaiserpalast und sorgte damit für eine lockere Atmosphäre. Für das chinesische Protokoll, das private Besuche von Staatsgästen etwa in Häusern oder Feriensitzen von chinesischen Politikern nicht kennt, war dies ein Durchbruch.
Als ein deutscher Student den chinesischen Ministerpräsidenten im Jahr 2008 bei einem Besuch in der Universität Cambridge mit einem Schuh bewarf, um seine Kritik an Menschenrechtsverletzungen in China auszudrücken, blieb Wen Jiabao unbeeindruckt und zeigte sich großzügig. Er ließ eigens wissen, dass er es nicht wünschte, dass der junge Mann bestraft würde, sondern dass man ihm Gelegenheit geben sollte, sich zu bessern und die Wahrheit über Chinas Menschenrechtslage zu lernen.
Der "freundliche Herr Wen"
Den Kritikern zuhause zeigt sich der "freundliche Herr Wen" weniger nachsichtig. Zwar hat er sich selbst wie alle Parteiführer über Fragen wie die Verfolgung von Bürgerrechtlern nicht geäußert. Doch als Nummer Drei des Politbüros ist auch der "nachsichtige Herr Wen" für Menschenrechtsverletzungen, Behördenwillkür und Rechtsbeugung in China verantwortlich. Vorhaltungen westlicher Politiker pflegt Wen Jiabao mit Hinweisen auf Verbesserungen der allgemeinen Lage zu beantworten. China habe in den vergangenen Jahren große Fortschritte bei der Achtung der Menschenrechte erzielt.
Wenn Wen Jiabao seinerzeit mit den Ideen seines früheren Vorgesetzten, des Reform-Parteichefs Zhao Ziyang, sympathisiert hat, so hat er dies zumindest nicht mehr öffentlich gezeigt. Wenn man ihn heute nach politischen Reformen fragt, so pflegt er zu erklären, dass China noch nicht "reif" genug für eine Demokratie sei. Er verweist darauf, dass man die besonderen Gegebenheiten Chinas berücksichtigen müsse, eine große Bevölkerung, verschiedene Volksgruppen und eine große ländliche Bevölkerung.
In den ersten Jahren seiner Amtszeit hat er gelegentlich angedeutet, dass er sich eine Ausweitung des Systems der direkten Dorfwahlen auf Kreise und Provinzen vorstellen könnte. Doch leitete Wen keine Schritte in diese Richtung ein, und bis zum Ende seine Amtszeit im Jahr 2012 sind sie kaum noch zu erwarten. Ob Wen Jiabaos Reformeifer am Parteichef gescheitert ist oder ob er selbst seine Meinung geändert hat, bleibt vorläufig eines der vielen Rätsel um die Vorgänge in Chinas Führungsschicht.