China ist nicht einfach zu verstehen. Historische, kulturelle, politische Faktoren und die Heterogenität innerhalb Chinas erschweren dies. Um einen besseren Einblick in die Logik des Systems zu bekommen, beschäftigt sich dieser Beitrag mit vier Themen: (1) der Modernisierungsmission der politischen Führung; (2) der Funktionalität des Staates, (3) der traditionellen Rolle des Staates im Unterschied zu Europa und (4) der Disziplinierungsfunktion des Staates. Mit Staat ist im Folgenden der
1. Modernisierungsmission des Staates
Mit dem Machtantritt von Xi Jinping im Jahre 2012 hat sich Chinas Innen- und Außenpolitik stark verändert: innenpolitisch autoritärer und ideologieorientierter, außenpolitisch herausfordernder. Es stellt sich die Frage, wie sich die gegenwärtige Politik systemisch einordnen und interpretieren lässt. Welche Handlungslogik liegt der politischen Führung und ihrem Agieren zugrunde?
2017 hat Xi, der starke Mann Chinas, erstmals einen konkreten Modernisierungsfahrplan vorgetragen: Bis 2021 soll die Armut beseitigt und "moderate Lebensstandards" für alle gewährleistet sein, bis 2035 ist die "grundlegende Modernisierung" zu realisieren, um die führende Wirtschaftsmacht in der Welt zu werden sowie die dominierende Kraft in zehn Zukunftstechnologien. Auch soll die Umweltproblematik auf Basis eines nachhaltigeren Entwicklungsmodells gelöst werden. Das Ziel für 2049/50 ist es, dass die allseits entwickelte Nation und Weltmacht gleichauf mit den USA ist.
Dieses visionäre Programm ("Chinas Traum"), das von den meisten Chinesinnen und Chinesen geteilt wird, soll nicht durch Übernahme "westlicher" Institutionen (Demokratie, Gewaltenteilung, etc.) realisiert werden, sondern auf "chinesischem Weg" – eine eindeutige Absage an die Hoffnung, China werde in kurzer Zeit einen Weg Richtung Demokratie einschlagen.
Die politische Führung glaubt, dass der rasche Öffnungs- und Reformprozess seit Ende der 1970er Jahre nicht nur Vorteile, sondern auch Risiken mit sich gebracht habe: Korruption und Zerfall der Disziplin und Ideologie unter Parteifunktionärinnen und -funktionären, der moralische Zerfall der Gesellschaft, Verlust der Kontrolle über die Wirtschaft durch den raschen Privatisierungsprozess, das Fehlen eines funktionierenden, gesellschaftlichen Ordnungssystems könnten die Erreichung der genannten Ziele bis 2050 unmöglich machen. Nicht zuletzt resultiert diese Furcht aus dem Zerfall der
2. Funktionalität des Staates
Um die Logik der gegenwärtigen Führung zu verstehen, müssen wir uns mit der Funktionalität des Staates auseinandersetzen. Die Auffassung, die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) sei nur an Machterhalt interessiert, ist allzu simpel. Zwei Faktoren leiten das politische Handeln: die Funktion des Staates als "Entwicklungsstaat" sowie seine Funktion als "Disziplinierungsorgan".
Das Konzept des Entwicklungsstaates (developmental state) wurde von dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Chalmers Johnson Anfang der 1980er Jahre zur Erklärung der raschen Modernisierung Japans entworfen.
3. Traditionelle Rolle des Staates
Der chinesische Staat spielte im Hinblick auf die ordnungspolitische Gestaltung und die Moralerziehung eine andere Rolle als in Europa, wo lange Zeit der Staat für die Organisation und Kontrolle des Gemeinwesens zuständig war und die Kirche für Moralerziehung. Daneben entwickelte sich in Europa eine Bürgerkultur mit vom Adel relativ unabhängigen Städten und Bürgerorganisationen ("Zivilgesellschaft"). In China war der Staat, basierend auf einer durch Staatsprüfung ausgewählten Beamtenschaft ("Gentry"), traditionell und idealtypisch für die Gewährleistung von Ordnung sowie der nationalen Einheit, die Sicherstellung der Wohlfahrt des Volkes u n d die Moralerziehung zuständig. Die Städte und die Wirtschaft wurden durch den Kaiserhof und seine Beamten streng kontrolliert. Zivilgesellschaftliche Prozesse im westlichen Sinne bildeten sich erst im 20. Jahrhundert in Ansätzen heraus. Erwies sich ein Herrscher als unfähig, den Erwartungen des Volkes gerecht zu werden, besaß das Volk ein Recht, ihn zu stürzen oder – wie es in der traditionellen Ordnungsvorstellung hieß – der Herrscher verwirkte sein "Mandat" zum Herrschen. Moderne Prozesse in China verstehen zu wollen – ohne den Rückbezug auf die Geschichte –, gleicht, wie der China-Historiker John Fairbank einmal schrieb, einem "Blindflug im Gebirge".
4. Modernisierung der Verhaltensweisen
Modernisierung bezieht sich nicht nur auf politische, ökonomische oder gesellschaftliche Prozesse, sondern auch auf kognitive. Soziologen wie Max Weber, Norbert Elias oder Michel Foucault und Historiker wie Gerhard Oestreich haben diese Prozesse für Europa untersucht, wo vor allem zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert ein Prozess der "Sozialdisziplinierung" stattgefunden hat, mit dem die Denk- und Verhaltensweisen der Menschen grundsätzlich verändert und an die Moderne angepasst werden sollten. Einen solchen Prozess finden wir auch im gegenwärtigen China, allerdings unter dem Stichwort "Zivilisierung". 2011 hat der damalige Premier
5. Fazit
Was bedeuten diese Erkenntnisse nun für die europäische Sicht auf China und die künftige Kooperation?
Durch einen gewaltigen Reformprozess seit Ende der 1970er Jahre hat sich China innenpolitisch modernisiert, stabilisiert und globalpolitisch zu einer Großmacht entwickelt. Es hat die Armut weitgehend beseitigt, ist zur zweitgrößten
Dabei sollten wir nicht unsere Werte, Interessen und Vorstellungen zugunsten eines "Verständnisses des Anderen" in den Hintergrund treten lassen. Es verdeutlicht aber die Notwendigkeit des Dialogs miteinander. Auch wenn der Autoritarismus in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat, so gibt es innerhalb Chinas gleichwohl sehr unterschiedliche und kritische Stimmen im Hinblick auf die Gestaltung der Innen- und Außenpolitik, die Beurteilung des "Westens" oder Kooperation mit dem Ausland. Ein großer Teil der Intellektuellen ist kritisch gegenüber einzelnen Politiken, unterstützt aber zugleich den nationalen Aufstieg und die Vision der Parteiführung. Die Notwendigkeit von "Ordnung", "Stabilität" und inner-gesellschaftlichem Vertrauen wird von den meisten Chinesinnen und Chinesen geteilt.