Afghanistan verfügt über eine lange Geschichte städtischer Siedlungen. Unter bestimmten Dynastien erblühten kleinere Städte und wurden zu mächtigen Reichs- und Kulturzentren. Ehemals bedeutende Städte sanken zu Provinzstädten herab oder verschwanden fast völlig von der Landkarte. Ein Beispiel für Ersteres ist etwa die Geschichte Ghaznis – 120 km westlich von Kabul – unter den Ghaznaviden im 11. und 12. Jahrhundert. Ein Beispiel für die zweite Entwicklung bietet Balkh, das bis zu seiner Zerstörung durch Dschingis Khan im 13. Jahrhundert zu den blühenden Städten gehörte, sich aber nach seiner Zerstörung bis heute jedoch nicht wieder erholt hat.
Die Entwicklung des afghanischen Städtewesens lässt sich nicht als lineares Wachstum begreifen. Sie basiert vielmehr den kulturgeografischen Bedingungen des Landes und der Abhängigkeit von klimatischen und natürlichen Gegebenheiten. Als weitgehend gebirgiges Wüsten- und Halbwüstenland boten lediglich jene Gebiete oder Oasen günstige Voraussetzungen für das Wachsen von Städten, die die städtische Bevölkerung aus dem Umland mit Nahrung versorgen konnten. Das heißt sie mussten über genügend ausgedehntes Ackerland mit entsprechender Bewässerung verfügen. Derartige Gebiete gibt es im Westen um die Stadt Herat herum, im Süden zwischen Lashkargah, Kandahar und Kalat-e Ghilzai. Im Osten umfassen sie das Kabul-Tal und Jalalabad sowie im Norden die turkmenische Tiefebene.
Die erst im 20. Jahrhundert zu Städten gewordene Ansiedlungen wie etwa Baghlan oder Kunduz im Norden des Landes sind über Jahrtausende Zentren dieser Gebiete gewesen.Die Reichsgründung der Paschtunen im 18. Jahrhundert vereinigte sämtliche dieser Gebiete erstmals seit dem 12. Jahrhundert wieder unter einer einheimischen Reichsherrschaft mit Kandahar und ab 1772 Kabul als Hauptstadt.
Die koloniale Politik der Großmächte Russland und England im 19. Jahrhundert reduzierte – neben internen Fehden – das ehemalige Großreich auf die heutigen Grenzen und klammerte das Land zugleich aus Fortschritt und Entwicklung aus. Ende des 19. Jahrhunderts lebten in Kabul ca. 60.000 bis 80.000 Menschen, in Kandahar und Herat jeweils ca. 10.000 bis 15.000. Städtische Siedlungen wie Jalalabad, Mazar-e Sharif oder Ghazni zählten etwa 1.000 bis 5.000 Einwohner. Mit dem Erhalt der vollen staatlichen Souveränität 1919 und dem Beginn einer allgemeinen Modernisierungspolitik seit den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die dann nach dem Zweiten Weltkrieg durch internationale Entwicklungshilfe entscheidend angekurbelt wurde, erfuhr das Städtewesen einen langsamen Aufschwung. Durch stetiges Bevölkerungswachstum, den Ausbau staatlicher Dienstleistungssektoren sowie die allmähliche Sesshaftigkeit der Nomaden erhielten die traditionell bedeutenden Städte teilweise neue Funktionen und wurden zum Ausgangspunkt der Modernisierungsmaßnahmen.
Diese Maßnahmen trafen die einzelnen Städte allerdings sehr unterschiedlich: Kabul als Hauptstadt und Sitz der Regierung bekam den Löwenanteil aller Investitionen im Infrastrukturbereich. Herat und Kandahar, die beiden nächst wichtigen Provinzzentren, erlebten vor allem auch aufgrund der Bemühungen einer einheimischen Beamten- und Händleroberschicht einen kontinuierlichen Aufschwung. Jalalabad profitierte vor allem von seiner Lage an der Hauptstraße zum indischen Südkontinent. Mazar-e Sharif wurde durch das Interesse der Kabuler Zentralregierung an einer engeren Anbindung der nördlichen Provinzen an Kabul aufgewertet und gewann seit den sechziger Jahren vor allem als Zentrum abbauwürdiger Gasvorkommen an Bedeutung. An der unterschiedlichen Geschichte dieser fünf Städte lässt sich paradigmatisch die Kontinuität des afghanischen Städtewesens ablesen und anhand ihres Ausbaus der Wandel bis heute erfassen.
Nach 25 Jahren Bürgerkrieg sind diese großen Zentren jedoch zerstört und die Kontinuität kaum mehr zu erkennen. Erst durch die Vertreibung des Taliban-Regimes wurde die Chance für eine Neugründung einer städtebaulichen Neuorientierung als Vision geboren. Allen Fehlentwicklungen, die vor der Zerstörung auch in der Stadtentwicklung vorhanden waren, wird durch ein Gesamtkonzept (Masterplan) und gezielter fachlicher Planung entgegengewirkt.Im Gegensatz zu den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts aber konnte die wirtschaftliche Hilfe der Geberländer, die 2002 in Tokio beschlossen wurde, das Stadtwesen in Afghanistan nicht verbessern.
Die massive Zerstörung der großen Zentren einerseits und die hohe Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsexplosion im ländlichen Raum anderseits haben dazu geführt, dass viele Menschen ihr gewohntes Umfeld verlassen mussten, um in den großen Städten Wohnraum und Arbeit zu finden. Die Zentralregierung in Kabul hat die Risiken einer Verstädterung nicht rechtzeitig erkannt und somit dazu beigetragen, dass die großen Städte, insbesondere die Hauptstadt Kabul, eine Bevölkerungsexplosion erfahren haben, die in der Geschichte Afghanistans einmalig ist.
Aufgrund knapper Baugrundstücke und mangelhafter Planung haben sich viele Zuwanderer illegale Notunterkünfte an den Berghängen gebaut. Diese Entwicklung hat in den vergangenen zehn Jahren rapide zugenommen und die Stadt Kabul, die in ihrer Expansion ohnehin aus topografischen Gründen eingeschränkt ist, zu einem Kessel werden lassen, der sich unkontrolliert weiter füllt, bis er überläuft.
Kabul in den Jahren 1965-72
Es gibt zwar Lösungsansätze, um das Problem des unkontrollierten Wachstums langfristig in den Griff zu bekommen. Die Verantwortlichen sind oaber ft Laien und haben keine Vorstellung davon, wie man solche Probleme mit gezielten städtebaulichen Plänen beheben kann. Alles, was in Kabul oder anderen Städten in den vergangenen zehn Jahren gebaut wurde, entbehrt jeglichen Grundlagen städtebaulicher Entwicklung. Das Ministerium für Städtebau und Siedlungswesen verwendet beispielsweise immer noch den alten Masterplan von 1965, der von den Russen für die Stadt Kabul entwickelt wurde, als Grundlage für die Stadtentwicklung. Anstatt für die aktuellen Probleme der Stadt Kabul Lösungen anzubieten, werden oft die gleichen Fehler wiederholt, obwohl es auch Alternativvorschläge gibt.
Das Hauptproblem der Stadt Kabul ist die Kanalisation. Obwohl verschiedene technische Möglichkeiten bestehen, einen unterirdischen Kanal für das Abwasser zu bauen, setzt man immer noch auf die obsoleten offenen Entwässerungsgräben, die nie richtig funktionieren. Die Kosten von zwei Wassergräben entlang der Straße sind genauso hoch wie der Bau von einem geschlossenen unterirdischen Abwasserkanal.
Nach aktuellen Informationen leben in der Stadt Kabul ca. fünf Millionen Menschen, für die zu wenig Wohnraum und eine ungenügende Infrastruktur vorhanden ist. Es mangelt an primären Grundlagen wie einem Bebauungsplan, einer Kataster-Registrierung für Grundstücke und funktionierenden Vermessungseinrichtungen. Es fehlen ferner Baunormen und eine Standardisierung der Baustoffe.
Aus westlicher Sicht kann man ohne diese Angaben überhaupt nicht arbeiten. In Afghanistan ist das Alltag. Es wird sehr viel gebaut, und zwar ohne die oben erwähnten Grundlagen. Viele Exil-Afghanen aus den USA und Europa versuchten Vorschläge zur Verbesserung der städtebaulichen Entwicklung für die Stadt Kabul zu unterbreiten, bislang allerdings ohne Erfolg. Beispielsweise fand 2003 im Lycée Esteqlal Kabul (französische Schule) eine Veranstaltung statt, zu der ca. 300 Experten weltweit eingeladen wurden. Sie haben Vorschläge zur Urbanisierung von Kabul, Herat, Mazar-e – Sharif und Kandahar unterbreitet. Sie landeten jedoch in der Schublade und wurden nie realisiert.
Die Geberländer, die in den vergangenen zehn Jahren Milliarden in den Wiederaufbau Afghanistans investiert haben, machten dies zum großen Teil ohne ein klares Konzept oder eine klare Analyse. Die Mittel, die für die Projekte bereit gestellt wurden, haben nicht den afghanischen Bedürfnisse entsprochen. Sie haben sogar zu massiven neuen Problemen geführt, die Afghanistan in Zukunft zu bewerkstelligen hat, wie z.B. Bodenspekulationen und Preissteigerungsraten.
Trotz der fehlenden Infrastruktur sind die Baulandpreise in Kabul mit denen in westlichen Industrienationen vergleichbar. Durch die Präsenz der Nichtregierungsorganisationen, die ein höheres Budget haben, sind die Preise in die Höhe geschnellt, vor allem da, wo sie sich niedergelassen haben. Im Stadtzentrum sind die Preise deshalb am höchsten. Der Grundstückspreis für eine Bebauung (ohne Erschließung) kostete in Kabul im 2010 ca. 600-800 USD/qm. In Frankfurt am Main kostete zu dem Zeitpunkt der Quadratmeter 300-500 € (voll erschlossen).
Die Bauprojekte sind ohne Ausschreibungen an einflussreiche Afghanen vergeben worden, obwohl sie keinerlei Kompetenzen vorweisen konnten.
Die Projekte, die durch die NRO in Afghanistan realisiert wurden, sind zum großen Teil Schulprojekte, die von der Kostenaufteilung ca. 20% der Gesamtmittel beansprucht haben. 80% der Mittel wurden für die eigenen Ausgaben der jeweiligen NRO ausgegeben. An diesem Beispiel wird eindrucksvoll sichtbar, warum Afghanistans Probleme bis heute nicht gelöst wurden. Vielmehr wachsen die Probleme täglich an. Von einer Kontinuität im afghanischen Städtewesen kann nicht gesprochen werden.
Die Hauptstadt Kabul und andere Zentren leiden massiv unter der Luftverschmutzung und dem Mangel an Fachkräften. Die Probleme der Stadtentwicklung können ohne Impulse aus dem Ausland alleine nicht bewerkstelligt werden. Auch die kollektive Verantwortungslosigkeit der Entscheidungsträger Afghanistans ist ein Hindernis, das ein gesundes Wachstum der Städte behindert. Es bleibt zu hoffen, dass die im Juli 2012 auf der Tokio-Konferenz versprochenen 14 Milliarden US-Dollar sinnvoller als bisher ausgegeben werden.