Steuerungsoptimismus, "aktive Gesellschaft" und der "dritte Weg"
Die Arbeitsmarktpolitik der Bundesrepublik Deutschland stützte sich bis 1969 im Wesentlichen auf zwei Säulen: die Arbeitsvermittlung und die Arbeitslosenversicherung. Mit dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) wurde 1969 eine dritte Säule eingeführt: die aktive Intervention in den Arbeitsmarkt mit dem Ziel der Verhinderung und Verminderung von Arbeitslosigkeit, vor allem durch prognosebasierte Maßnahmen der beruflichen Fort- und Weiterbildung sowie Umschulung.
Unter der Fahne "aktive Arbeitsmarktpolitik" vereinten sich diverse Vorstellungen von einer planbaren und bewusst gestaltbaren Arbeitsmarktpolitik, die weit über die Schnittlinie "linker" Parteipolitik hinaus reichten. Bezeichnenderweise wurden die Begriffe "Arbeitsmarktpolitik" und etwas später auch "aktive Arbeitsmarktpolitik" erst in dieser Zeit zur gängigen Münze. Gemeinsam mit den in Mode kommenden Begriffen wie Strukturpolitik, Regionalpolitik, Bildungspolitik oder Bildungsökonomie wurde Arbeitsmarktpolitik zur mikropolitischen Kehrseite des makropolitischen Keynesianismus, d.h. des Glaubens an die Steuerbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft, die in dieser Phase ihren Zenit erreichte.
Die Institutionen der Vorausschau und planenden Koordination beschränkten sich nicht auf die mittelfristige Finanzplanung. Im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung wurde 1968 zur Ausarbeitung von umfassenden Konzepten eine Grundsatz- und Planungsabteilung eingerichtet. Die Bundesanstalt für Arbeit wurde gestärkt und erhielt 1967 eine große Forschungsabteilung, das "Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung" (IAB). Das Stabilitätsgesetz von 1967 sah Gremien und Instrumente zur Einbeziehung von Ländern und Gemeinden in die Konjunkturpolitik vor. Aber auch inhaltlich waren neue Akzentsetzungen erkennbar, an denen sich Planung und Gestaltung des Arbeitsmarkts orientieren sollten. Willy Brandt prägte in seiner Regierungserklärung von 1969 den Begriff der "Humanisierung des Arbeitslebens", und erstmalig wurde die "Gleichberechtigung von Frauen und Männern" im Arbeitsleben thematisiert.
Ab Mitte der 1960er Jahre war in den entwickelten westlichen Industrieländern die Vorstellung weit verbreitet, dass die Gesellschaft sich in einem tiefgreifenden Umbruch befände und der wissenschaftlich gestützten Steuerung und Regelung bedürfe. Der Begriff der "Planung" erlebte eine neue Konjunktur, erhielt aber einen spezifischen Inhalt. In Abgrenzung an die zentralistische bürokratische Planung des realexistierenden Sozialismus dachte man an Globalsteuerung makroökonomischer Parameter (Zinsen, Wechselkurse, Steuern, Löhne). Und stark beeinflusst von der amerikanischen Diskussion zur rationaleren Verwendung staatlicher Ressourcen (Finanzen) auf der Basis von neueren betriebswirtschaftlichen Management-Techniken sprachen sich alle Parteien im Bundestag für ein umfassendes politisches Planungssystem aus. Es war also der "Zeitgeist", der keineswegs auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkt war, sondern viele westeuropäische Länder "ergriffen" hatte.
In dieser Aufbruchstimmung gab es in der politischen Klasse von "links" bis "rechts" zeitweise einen Konsens über einen "dritten Weg" zwischen "laisser faire" Marktwirtschaft und bürokratischem Sozialismus. Eine solide wirtschaftliche und finanzielle Grundlage der Sozialpolitik, auf welcher der seit den fünfziger Jahren vorangetriebene Ausbau der Leistungssysteme weitergeführt werden konnte, schien gesichert. Der Ausbau der sozialen Sicherung galt in dieser Zeit auch als zentraler Indikator für wirtschaftlichen Fortschritt und Steigerung des Allgemeinwohls.
Internationale Einflüsse der Reform der Arbeitsmarktpolitik
Die Wende von der "reaktiven" zur "aktiven" Arbeitsmarktpolitik wurde wesentlich von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und insbesondere von der OECD angestoßen. Das Übereinkommen Nr. 122 der ILO vom 9.7.1964 – in Kraft getreten am 15.7.1969 – verpflichtete die Mitgliedsstaaten dazu, eine aktive Beschäftigungspolitik zu betreiben. Empfehlungen der OECD von 1964 an die Regierungen ihrer Mitgliedstaaten beriefen sich auf Reformen, die in Schweden in den fünfziger Jahren umgesetzt wurden. Einer der beiden Chefökonomen der schwedischen Gewerkschaften, Gösta Rehn, leitete von 1962 bis 1974 die Abteilung "Manpower and Social Affairs Committee" bei der OECD. Zum Verständnis des damaligen OECD-Ansatzes "aktiver Arbeitsmarktpolitik" muss daher vorausgeschickt werden, dass er nicht auf die Situation hoher konjunktureller oder struktureller Arbeitslosigkeit zugeschnitten war, sondern auf die herrschende Vollbeschäftigung bei partiellen Arbeitskräfteengpässen und starken regionalen Ungleichgewichten. Für Gösta Rehn stand die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale durch keynes'sche Globalsteuerung im Vordergrund. Da auf Arbeitsmärkten immer wachsende und schrumpfende Sektoren nebeneinander existieren, führt expansive Finanzpolitik schnell zu Engpässen von qualifizierten Arbeitskräften. Die Löhne und damit auch die Preise in den expandierenden Sektoren steigen dann schnell, so dass es zu einer lohninduzierten Inflation kommt. Durch Mobilisierung der Arbeitskräfte in den schrumpfenden Sektoren, sei es durch Fortbildung oder Umschulung, sei es durch regionale Mobilitätszuschüsse, können gleichzeitig auf der einen Seite diese Engpässe beseitigt und auf der anderen Seite Arbeitslosigkeit vermieden werden; erst dann kann moderate expansive Fiskalpolitik oder gezielte regionale Strukturpolitik das Wachstum ankurbeln.
Obwohl in den entsprechenden Dokumenten durchgehend die ökonomischen Funktionen der aktiven Arbeitsmarktpolitik betont wurden, rückte die OECD auch zwei sozialpolitische Komponenten der Arbeitsmarktpolitik stärker als bisher in den Vordergrund: Arbeitsmarktpolitik sollte zum einen auch die individuelle Freiheit der Arbeitsplatz- und Berufswahl erhöhen und zum anderen die Arbeits- und Berufsmöglichkeiten bisher vernachlässigter Zielgruppen - wie ältere Personen, Behinderte, verheiratete Frauen mit oder ohne Familienverpflichtungen, Menschen in ländlichen Regionen sowie Einwanderer - fördern.
Die Problemlage der Bundesrepublik kam - abgesehen von der kleinen Rezession 1967 - der schwedischen Situation nahe: Bei hohem Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften, regionalen Ungleichgewichten und Preissteigerungen mit Inflationsängsten fielen die OECD-Empfehlungen auf fruchtbaren Boden. Die deutsche Version "aktiver Arbeitsmarktpolitik" legte dann allerdings die Betonung auf berufliche und weniger auf regionale Mobilität, denn die föderative Verfassung gab dem Ausgleich regionaler Lebensverhältnisse bereits hohe Priorität. Die Nichtförderung regionaler Mobilität von Inländern wurde einerseits durch regionale Kapitalförderung und andererseits durch ausländische Arbeitsmigranten teilweise kompensiert (link zu Ausweitung des Arbeitskräfteangebots durch die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften). Das wesentliche Moment der "aktiven Arbeitsmarktpolitik" war aber nicht die inhaltliche Stoßrichtung, sondern das Bewusstsein und der Wille, die Kohärenz verschiedener Politiken, insbesondere die Koordination zwischen ökonomischer Globalsteuerung, regionaler oder sektoraler Strukturpolitik, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik herzustellen.
Die Rolle der Arbeitsmarktpolitik im beschäftigungspolitischen Koordinationsspiel
Das Leitbild dieser Koordination kristallisierte sich in nahezu idealtypischer Weise im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967, dessen konkrete Ausgestaltung eine Antwort auf die erste (kleine) Nachkriegsrezession 1966/67 war. Zum ersten Mal wurden Bund, Länder und Gemeinden mit dem "Magischen Viereck" gesetzlich neben angemessenem Wirtschaftswachstum, Preisstabilität und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht auch auf einen hohen Beschäftigungsstand verpflichtet.
Dafür stellte das Gesetz zahlreiche Instrumente bereit, darunter die antizyklische Fiskalpolitik. Um zu vermeiden, dass die Fiskalpolitik durch das Verhalten anderer zentraler Akteure der Beschäftigungspolitik konterkariert wird, etablierte das Gesetz darüber hinaus Gremien zur sachlichen wie sozialen Koordinierung: den Konjunkturrat, den Finanzplanungsrat und die Konzertierte Aktion.
Mit der "Konzertierten Aktion" wurde eine neue Arena der Interaktion geschaffen, in der Regierung, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände sich zur Koordinierung ihrer Maßnahmen zusammenfanden. Es handelte sich um ein Kooperationsspiel mit Verteilungskonflikten. Im Gegenzug für das Versprechen der späteren Rückkehr zur sozialen Symmetrie akzeptierten die Gewerkschaften niedrige Lohnabschlüsse. Die Bundesbank gab ihre restriktive Politik auf. Staatliche Investitionsprogramme wurden beschlossen. Im Ergebnis wurde die erste Rezession rasch überwunden. Allerdings tauchten auf staatlicher Ebene Probleme auf, die vor allem der spezifischen föderativen Struktur der bundesdeutschen Verfassung geschuldet sind: Die Länder und vor allem aber die Gemeinden hatten Probleme bei der antizyklischen Ausgabengestaltung. Umsetzungs- und Wirkungsverzögerungen führten dazu, dass die Instrumente teilweise erst griffen, nachdem der Aufschwung schon begonnen hatte.
Die von Keynes inspirierte antizyklische Globalsteuerung schlug sich auch in der Arbeitslosenversicherung durch erweiterte Inklusion nieder: Zum einen wurde die Leistungsbemessungsgrenze und zum anderen die Versicherungspflicht auf alle Angestellten, mit Ausnahme der leitenden Angestellten, ausgedehnt. Darüber hinaus wurden trotz des sprunghaften Anstiegs der Zahl der Leistungsempfänger im Jahr 1967 Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Familienzuschläge sowie Schlechtwetter- und Kurzarbeitergeld erhöht und das Unterhaltsgeld für Teilnehmer an beruflichen Bildungsmaßnahmen eingeführt.
Der aktiven Arbeitsmarktpolitik, im Stabilitätsgesetz zwar noch nicht explizit angesprochen aber implizit angedacht, kam die Rolle der flankierenden Feinsteuerung, insbesondere die Zuführung qualifizierter Arbeitskräfte bei der Wachstumsförderung und beim regionalpolitischen Ausgleich sowie in der Bewältigung des Strukturwandels zu.
Die Entstehungsgeschichte des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG)
Der Gesetzentwurf zum AFG ging aus der Arbeit an einer umfassenden Reform des im Kern 1927 entstandenen und 1956 umfangreich veränderten Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) hervor. Sowohl 1927 als auch 1956 stand der Gesetzgeber unter dem Eindruck aktueller, gerade überwundener bzw. drohender Massenarbeitslosigkeit. Es ist daher erklärlich, dass das AVAVG nach Gliederung und Betonung ein sozialpolitisch orientiertes Gesetz zur Behebung von Arbeitslosigkeit war. In den acht Änderungsgesetzen zum AVAVG und mehr noch in den Richtlinien und Erlassen der Selbstverwaltungsorgane der Bundesanstalt zeichnete sich bereits eine Neuorientierung der Politik von der Hilfe für Arbeitslose in Richtung auf Maßnahmen zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit und Förderung von gefährdeten Arbeitnehmern ab.
Die neue Orientierung der staatlichen Wirtschaftspolitik und die Anstöße internationaler Organisationen (siehe oben) trugen dazu bei, die Bildungs- und Mobilitätsförderung in den Mittelpunkt einer Reform der Arbeitsmarktpolitik zu stellen. Legitimiert und empfohlen wurde diese Neuorientierung auch durch den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. In seinem zweiten Gutachten 1965 schrieb er unter Bezugnahme auf amerikanische Erfahrungen: "Mit dem wachstumsbedingten Strukturwandel der Wirtschaft vollzieht sich ein Wandel im Bedarf an beruflichen Qualifikationen" und "wenn sich der technische Fortschritt beschleunigt, nimmt der Bedarf an Mobilität zu."
Im Januar 1966 beantragte eine Gruppe von Abgeordneten der CDU/CSU Fraktion im Deutschen Bundestag, "das Instrumentarium der Maßnahmen nach dem AVAVG so auszugestalten, dass unerwünschte soziale Folgen, die sich aus dem technischen Fortschritt und den Strukturveränderungen infolge der internationalen wirtschaftlichen Verflechtung ergeben können, durch gezielte Beschäftigungs- und Berufspolitik" verhindert werden. Aber der Beschluss des Deutschen Bundestages, mit dem die Bundesregierung im Juni 1966 beauftragt wurde, einen weiteren Novellierungsentwurf vorzulegen, lag noch auf der Linie, das bestehende AVAVG in angepasster Form fortzuschreiben. Immerhin war bereits in dem Ausschussbericht die Absicht deutlich geworden, der Arbeitsverwaltung vorbeugende Instrumente für eine vorausschauende Arbeitsmarktpolitik an die Hand zu geben. Im August des gleichen Jahres legte die SPD-Fraktion den Entwurf eines "Arbeitsmarktanpassungsgesetzes" vor, in dessen § 1 vier Ziele gesetzt wurden: Förderung der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Anpassung der Berufsausbildung an die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, Förderung der beruflichen Bildung der Arbeitnehmer und die Vermeidung unterwertiger Beschäftigung aus Anlass von Betriebsänderungen.
Während dieser SPD-Entwurf an einen früheren DGB-Entwurf angelehnt war, zog die CDU/CSU/FDP mit einem eigenen Entwurf vom 25. Oktober 1966 (Berufsausbildungsgesetz) nach; die Arbeiten hierzu hatte im Wesentlichen das Wirtschaftsministerium sowie auch partiell das Arbeitsministerium geleistet. Am 16. November 1967 legte dann die Bundesregierung auftragsgemäß ihren Entwurf eines neuen Arbeitsförderungsgesetzes vor. Dieser wurde von den Sprechern aller Parteien begrüßt und zusammen mit dem SPD-Entwurf nach der ersten Lesung an den Ausschuss für Arbeit zur gemeinsamen Beratung überwiesen. Mit der Ablösung der CDU/CSU-FDP Koalition durch die "Große Koalition" waren die Erfolgschancen erheblich gestiegen.
Nach rund zweijähriger Beratung, in deren Verlauf einige Vorwegregelungen durch Änderungen des AVAVG erfolgten, wurde das Arbeitsförderungsgesetz am 13. Mai 1969 vom Bundestag einstimmig verabschiedet und trat am 1. Juli 1969 in Kraft.
Akteure und Debatten
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände hatten im Gesetzgebungsprozess zum AFG unterschiedlichen Einfluss. Die Gewerkschaften waren eine wesentliche Triebkraft bei der Reform der Arbeitsmarktpolitik. Dies galt vor allem für den DGB, der bereits Mitte der sechziger Jahre immer wieder mit Blick auf die Auswirkungen des technischen Fortschritts auf den Arbeitsmarkt beim Bundesministerium für Arbeit (BMA) eine grundlegende Reform des AVAVG anregte.
Auf Arbeitgeberseite vertraten die BDA die Interessen in sozial- und tarifpolitischen Fragen, während der BDI für wirtschaftspolitische Themen "zuständig" war. Die BDA hatte kein unmittelbares Interesse an einer Reform der Arbeitsmarktpolitik. Die Unternehmer und ihre Verbandsvertreter betrachteten den technischen Fortschritt und die Automatisierung als Entwicklungen, die in erster Linie zu Produktivitätssteigerungen führten, und beschäftigen sich mit ihren sozialpolitischen Auswirkungen nur deshalb, weil sie Unruhen innerhalb der Belegschaften vermeiden wollten. Dieses geringe Interesse an einer Arbeitsmarktreform führte auch dazu, dass die BDA keine dezidierte konzeptionelle Gegenposition zu Referentenentwurf und Ausschussvorlage entwickelten, sondern gezielt versuchten, auf die Veränderung einzelner Regelungen hinzuwirken.
Einig waren sich DGB und BDA in der Ablehnung der Einführung einer Pflichtleistung auf berufliche Weiterbildung (sowie in der Beibehaltung der Finanzierung der Leistungen einseitig zu Lasten der Beitragszahler; hierzu Modul Existenzsicherung). Der BDA ging die Zielsetzung, die Bundesanstalt zu einem wirkungsvollen Instrument der beruflichen Bildungspolitik der Bundesregierung zu machen, wie es in der Begründung des Regierungsentwurfs hieß, zu weit. Die Maßnahmen der Förderung der beruflichen Bildung, die der Gesetzentwurf der Regierung vorsah, so die Arbeitgeber, sollten nur zulässig sein, wenn die Maßnahmen nach Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes zweckmäßig seien. Auch der DGB wandte sich in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf gegen den Rechtsanspruch auf berufliche Förderung. Dieser sei nur gerechtfertigt, wenn für die Finanzierung der versicherungsfremden Leistungen ein gesondertes, alle Einkommensbezieher umfassendes Finanzierungssystem geschaffen werde.
Auch das BMA war lange Zeit kein Befürworter einer großen Reform. Erst als im Oktober 1965 mit Hans Katzer ein neuer Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ins Amt kam, gingen auch Impulse von dem Ministerium aus.
Die Bundesanstalt für Arbeit (BA) wandte sich während der Arbeit am AFG vorwiegend dann an das BMA bzw. an Abgeordnete des Deutschen Bundestages, wenn es entweder galt, ihre Expertise bei der konkreten Durchführung der Arbeitsmarktpolitik in den Gesetzgebungsprozess einzubringen, oder wenn gemeinsame Punkte des Arbeitnehmer- und Arbeitgeberlagers durchgesetzt werden sollten, die auf anderem Wege keine Berücksichtigung gefunden hatten.
In der Bundestagsdebatte fanden die Kernpunkte der neuen arbeitsmarktpolitischen Konzeption – Förderung der beruflichen Bildung, Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen, Arbeitsmarkt- und Berufsforschung – Zustimmung von allen Seiten. Auch hier war die Frage der Finanzierung der am kontroversesten diskutierte Aspekt.
Der "Sozialexperte" der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Adolf Müller sprach von einem "mutigen Schritt in einen neuen Abschnitt moderner Gesellschaftspolitik" und sein Kollege von der SPD-Fraktion, Hermann Buschfort, von einem "lebendigen und guten Gesetz". Der Konsens umfasste allerdings unterschiedliche Vorstellungen "aktiver Arbeitsmarktpolitik". So verstand die Bundesanstalt alles als "aktiv", was über die reine Versicherungsleistung Arbeitslosengeld hinausging, während der Bundestagsausschuss mit dem AFG zukünftig vor allem Strukturkrisen wie die von Kohle und Stahl und deren innenpolitischen Konsequenzen vermeiden wollte; das Bundesministerium für Arbeit schließlich sah die "vorausschauende Arbeitsmarktpolitik" viel genereller als flankierende Strategie zur Politik der Globalsteuerung und der sozialen Integration durch Wachstum. Die einstimmige Verabschiedung des AFG war so nur möglich, weil sich der Gesetzgeber auf eine allgemeine, vielseitig deutbare Zielformulierung beschränkt hatte und weil der überwiegend angebotssteuernde Maßnahmenkatalog die Entscheidungs- und Verfügungsfreiheit Betriebe als der Arbeitskräftenachfrager unangetastet ließ.
Bilanzierend wurde das AFG mit Vorschusslorbeeren geradezu überhäuft. Beispielhaft charakterisierte ein maßgeblich an der Ausarbeitung Beteiligter das AFG wie folgt: "Der Bundestag hat mit diesem Gesetz einen Markstein in der Geschichte der Arbeitsverwaltung (...) gesetzt; dabei haben alle drei Parteien nach Kräften initiativ mitgewirkt. Die neuen großzügigen Normen für eine umfassende Beschäftigungspolitik sprechen jeden einzelnen deutschen Staatsbürger im Bereich von Arbeit und Beruf an und dürften auf Jahrzehnte – wohl über das Jahr Zweitausend hinaus – reiche Frucht tragen."
ZitatErwin Schönefelder: Das Arbeitsförderungsgesetz
Der Bundestag hat mit diesem Gesetz einen Markstein in der Geschichte der Arbeitsverwaltung (…) gesetzt; dabei haben alle drei Parteien nach Kräften initiativ mitgewirkt. Die neuen großzügigen Normen für eine umfassende Beschäftigungspolitik sprechen jeden einzelnen deutschen Staatsbürger im Bereich von Arbeit und Beruf an und dürften auf Jahrzehnte – wohl über das Jahr Zweitausend hinaus – reiche Frucht tragen.
Schönefelder, E. (1969): Das Arbeitsförderungsgesetz – Instrument der Beschäftigungspolitik. Vom Bundestag am 13. Mai 1969 einstimmig beschlossen. In: Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe 29; S. 157.
Grundzüge der arbeitsmarktpolitischen Konzeption des AFG
Das AFG gliederte sich in neun Abschnitte. Im ersten Abschnitt wurden die Ziele genannt und die Aufgaben der Bundesanstalt aufgezählt. Die Abschnitte zwei bis vier enthielten eine Regelung der verschiedenen Aufgaben der Bundesanstalt und die Ansprüche der Bürger. Der fünfte Abschnitt regelte das Verfahren, der sechste Beiträge und Umlagen, der siebte die Organisation der Bundesanstalt; am Ende folgten noch Straf- und Bußgeldvorschriften. Die ersten beiden Paragraphen enthielten Handlungsrichtlinien und Auslegungsmaßstäbe für die Bundesanstalt. Nach § 1 AFG waren die Maßnahmen darauf auszurichten, dass ein hoher Beschäftigungsstand erzielt und aufrechterhalten, die Beschäftigungsstruktur ständig verbessert und damit das Wachstum der Wirtschaft gefördert wird. Nach § 3 wurde die Bundesanstalt für Arbeit als Träger der Maßnahmen in die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Bundesregierung eingebunden.
Neben dieser Integration in die allgemeine staatliche Globalsteuerung formulierte das AFG in § 2 sieben Ziele, die sich unmittelbar auf die Interessen der von Arbeitslosigkeit betroffenen bzw. bedrohten Personen bezogen:
Weder Arbeitslosigkeit und unterwertige Beschäftigung noch ein Mangel an Arbeitskräften soll eintreten oder fortdauern.
Die berufliche Beweglichkeit der Erwerbstätigen soll gesichert und verbessert werden.
Nachteilige Folgen, die sich für die Erwerbstätigen aus der technischen Entwicklung oder aus wirtschaftlichen Strukturwandlungen ergeben können, sollen vermieden, ausgeglichen oder beseitigt werden.
Die berufliche Eingliederung körperlich, geistig oder seelisch Behinderter soll gefördert werden.
Frauen, deren Unterbringung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erschwert ist, weil sie verheiratet oder aus anderen Gründen durch häusliche Pflichten gebunden sind oder waren, sollen beruflich eingegliedert werden.
Ältere und andere Erwerbstätige, deren Unterbringung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erschwert ist, sollen beruflich eingegliedert werden.
Die Struktur der Beschäftigung soll nach Gebieten und Wirtschaftszweigen verbessert werden.
Zur Realisierung dieser Zielsetzungen sah das AFG ein Ensemble von Maßnahmen vor. Kernstück der im Abschnitt 2 (§§ 4-62) aufgelisteten Maßnahmen war die Förderung der beruflichen Bildung. Entscheidender Unterschied zum AVAVG war, dass auf die vormals als Kann-Leistungen definierten Hilfen nunmehr unter bestimmten Voraussetzungen ein Rechtsanspruch bestand. Dieser beinhaltete vor allem die Sicherung des Lebensunterhaltes des Arbeitnehmers jeder Altersstufe während der Zeit der Bildungsmaßnahme. Durch die Maßnahmen der beruflichen Ausbildung und Fortbildung sollte Arbeitslosigkeit präventiv vermieden werden. Daher ging nach § 5 AFG neben der Vermittlung von Arbeit auch die Förderung der beruflichen Bildung der Zahlung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe vor. Die Zahlung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe sollte nur als letztes Mittel der Sicherung der Existenz bei Arbeitslosigkeit eingreifen.
Der Dritte Abschnitt (§§ 63-99) befasste sich mit den Leistungen der Arbeitslosenversicherung zur Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen. Dabei wurde das Kurzarbeitergeld erheblich aufgewertet und ausgeweitet. Die Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft wurde umstrukturiert, mit einer Konzentration auf die Zuschussförderung an Bauunternehmer nach Maßgabe der Mehrkosten des Baus in der Schlechtwetterzeit. Des Weiteren schuf das AFG die Möglichkeit, allgemeine Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung sowie Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung für ältere Menschen durchzuführen. Im vierten Abschnitt (§§ 100-141) waren die Regelungen des AVAVG über die Gewährung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe im Prinzip auch im AFG beibehalten worden.
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
Eine wesentliche organisatorische Änderung, die mit der Reform der Arbeitsmarktpolitik verbunden war, wurde 1967 mit der Gründung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bereits vorweggenommen. Dieses Institut sollte als behördliches Forschungsinstitut die damalige Lücke im Bereich der wissenschaftlichen Erforschung des Arbeitsmarktes schließen und die informatorischen Voraussetzungen für die aktive Arbeitsmarktpolitik schaffen, insbesondere durch mittelfristige Arbeitsmarktprojektionen, an denen sich dann die Planung von Qualifizierungsmaßnahmen ausrichten sollte.
Es gab in der Bundesrepublik erhebliche Defizite (im Gegensatz beispielsweise zu den USA, Schweden, Frankreich oder den Niederlanden) auf dem Gebiet der Arbeitsmarktforschung. In der Zeit der ordoliberalen Wirtschaftspolitik hatte man weitgehend auf die Selbstregulierungskräfte des Marktes vertraut, und man war davon ausgegangen, dass auch in Zukunft Angebot und Nachfrage nach Arbeit sich ausgleichen würden. Die Knappheit an Arbeitskräften einerseits, die Strukturkrisen andererseits, sowie die zunehmende Überwindung ideologischer Standpunkte führten auch in der Bundesrepublik zu einem wachsenden Interesse an Arbeitsmarktforschung. Zudem hatte sich die Bundesrepublik als Unterzeichner des Übereinkommens Nr. 88 (aus dem Jahr 1948!) der Internationalen Arbeitsorganisation verpflichtet, Informationen über die Lage des Arbeitsmarktes und über seine voraussichtliche Entwicklung zu sammeln und zu untersuchen und diese Informationen systematisch und schnellstens den zuständigen öffentlichen Einrichtungen, den Arbeitgeber- und Arbeitnehmer- Organisationen und der allgemeinen Öffentlichkeit zukommen zu lassen. Mit dem "Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung" (IAB), das am 2. Mai 1967 seine Arbeit aufnahm, kam die Bundesrepublik (wenn auch spät) dieser Verpflichtung nach.
Im AFG wurde die Arbeitsmarkt- und Berufsforschung dann als Aufgabe der Bundesanstalt gesetzlich verankert. Organisatorisch wurde das IAB als Abteilung in die Hauptstelle der Bundesanstalt für Arbeit eingebunden.
Quellentext§ 6 Abs. 1 AFG
"Die Bundesanstalt hat Umfang und Art der Beschäftigung sowie Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes, der Berufe und der beruflichen Bildungsmöglichkeiten im allgemeinen und in den einzelnen Wirtschaftszweigen, auch nach der sozialen Struktur, zu beobachten, zu untersuchen und für die Durchführung der Aufgaben der Bundesanstalt auszuwerten (Arbeitsmarkt- und Berufsforschung)."
Mit der Gründung des Instituts waren große Hoffnungen verbunden. Symptomatisch für den damaligen Glauben an die Prognosefähigkeit waren Äußerungen des Bundesarbeitsministers Hans Katzer:
ZitatHans Katzer
Lassen Sie mich damit einen dritten Punkt ansprechen: die Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Mit der Aufgabe einer systematischen Förderung der beruflichen Mobilität ergibt sich für die Bundesanstalt eine Erweiterung der Grundlagen ihrer Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik. Die Bundesanstalt soll in Zukunft regelmäßig statistische Erhebungen über die Beschäftigten durchführen und die Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ausbauen, um zu längerfristigen Voraussagen zu kommen. Denn gerade auch derjenige, der schon länger im Berufsleben steht, soll die Möglichkeit haben, sich in Zukunft laufend Rat zu holen.
Deutscher Bundestag – 5. Wahlperiode – 143. Sitzung. Bonn, 13. Dezember 1967, S.7403.
Der faktische Schwerpunkt der Arbeit des Instituts lag aber in den Anfangsjahren bei der Informationsgewinnung im weitesten Sinne. Dabei erwies sich der Mangel an brauchbarem statistischem Material, der von allen verantwortlichen Stellen beklagt wurde, als schweres Handicap. Inhaltlich schälte sich allerdings heraus, der Bundesanstalt vor allem Grundlagen für vorbeugende vorausschauende Maßnahmen auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes zu liefern; die Nachfrageseite wurde als Angelegenheit der Wirtschaftspolitik außerhalb der Arbeitsverwaltung betrachtet. Weitere Schwerpunkte waren die Gewinnung eines wissenschaftlichen Überblicks über den Stand der Forschung und die Herstellung und Unterhaltung von Informations- und Arbeitskreisen. Dies belegt, auf welcher grundsätzlichen Basis damals mit der Arbeitsmarktforschung begonnen werden musste.
Der Abschied von der Leitidee einer aktiven Arbeitsmarktpolitik
Die aktive Arbeitsmarktpolitik hatte nur für kurze Zeit Gelegenheit, sich unter den Bedingungen zu bewähren, für die sie konzipiert worden war: hohem Wirtschaftswachstum, moderaten Lohnsteigerungen, niedriger Arbeitslosigkeit und der Automatisierung als scheinbarem Hauptproblem. Daher war der "Weg der aktiven Arbeitsmarktpolitik" spätestens seit 1974/75 vor allem ein Weg der Kürzungen und Einschränkungen (nachgezeichnet in den Modulen "Vermittlung", "Arbeitsförderung" und "Arbeitslosenversicherung"). Aber erst in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre begann sich auch die grundlegende Philosophie des Arbeitsförderungsgesetzes zu ändern.
Mit der Überführung des Arbeitsförderungsgesetzes in das Sozialgesetzbuch 1997/98 (als SGB III) wurden nicht nur viele Regelungen und Zielvorgaben neu formuliert. Es änderten sich auch die Philosophie und der grundlegende Charakter des deutschen Arbeitsförderungsrechts. Der alte Anspruch des AFG, mit Arbeitsmarktpolitik einen Beitrag zur Globalsteuerung zu leisten, wurde beiseite gelegt. Nach § 1 SGB III sollen die Leistungen der Arbeitsförderung dazu beitragen, daß ein hoher Beschäftigungsstand erreicht und die Beschäftigungsstruktur ständig verbessert wird. Die Förderleistungen sollen insbesondere den Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt unterstützen, die zügige Besetzung offener Stellen ermöglichen, die individuelle Beschäftigungsfähigkeit fördern, unterwertiger Beschäftigung entgegenwirken und zur Weiterentwicklung der regionelen Beschäftigungs- und Infrastruktur beitragen. Der damalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm charakterisierte diesen Bruch folgendermaßen:
ZitatNorbert Blüm
Die Hauptfrage ist: Wie bekommt er wieder Arbeit, wenn er arbeitslos ist? Ich gestehe, dass sie sich etwas unterscheidet von der Philosophie des Arbeitsförderungsgesetzes 1969. Damals war man noch der Meinung, Arbeitsmarktpolitik sei ein allgemeiner Beitrag der Strukturförderung. Das Ergebnis zeigt, dass die Erwartungen an die Arbeitsförderung zu hoch sind.
Die Neuorientierung der Arbeitsmarktpolitik fand in der Einführung neuer Instrumente (Trainingsmaßnahmen, Existenzgründungshilfen, Freie Förderung), in neuen Regelungen zum Begriff der Zumutbarkeit, die geltende Status- und Berufsschutzrechte zurücknahmen, und in der Aufgabe von Rechtsansprüchen auf Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik ihren deutlichsten Ausdruck.