Die folgenden Ausführungen werden zunächst das deutsche Tarifvertragssystem in einen europäischen Vergleich stellen und die sehr große Heterogenität (Unterschiedlichkeit) zwischen den europäischen Lohnregimen aufzeigen. Daran anschließend erfolgt die Diskussion, zu welchen Problemen die Heterogenität der Lohnpolitiken führt (Stichwort: Eurokrise) und welche Ansätze und Initiativen gewählt werden können, um eine Europäisierung der Lohnpolitik herbeizuführen.
Das deutsche Tarifvertragssystem im Kurzüberblick
Das Tarifvertragssystem Deutschlands ist durch Flächen- bzw.- Branchentarifverträge geprägt, die zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ausgehandelt werden. Tarifverträge sind für bestimmte Regionen, auch deutschlandweit, bzw. für ganze Branchen gültig. Weiterhin werden zwischen den Gewerkschaften und einzelnen Unternehmen auch Firmen- und Haustarifverträge geschlossen, wenn etwa besondere spezifische Situationen der Unternehmen bestehen, die es zu berücksichtigen gilt, oder weil das Unternehmen eine sehr herausgehobene Bedeutung für den Standort hat. Mehr als die Hälfte aller abhängig Beschäftigten ist in einem tarifgebundenen Arbeitsverhältnis tätig.
Tarifverträgen gehen Tarifverhandlungen voraus, die im Regelfall jährlich stattfinden. Die Gewerkschaften kündigen - üblicherweise zu Jahresbeginn - die laufenden Tarifverträge, wodurch die Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite beginnen. Die Tarifautonomie stellt sicher, dass der Staat nicht in die Verhandlungen eingreift. Gleichwohl setzt der Staat den gesetzlichen Rahmen und es ist eine zunehmende Einflussnahme der Regierungspolitik auf die Tarifpolitik festzustellen, wofür die Diskussion um die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohnes vor, während und nach dem Bundestagswahlkampf 2013 nur ein Beispiel ist.
Wenn die Gewerkschaften und anschließend die Arbeitgeber ihre Forderungen und Vorschläge für die Tarifverhandlungen gegenseitig vorgestellt haben, beginnen die Verhandlungen. Führen die Verhandlungen nicht zu den aus Sicht der Gewerkschaften gewünschten Ergebnissen, können diese durch Warnstreiks und Arbeitskampf Druck auf die Arbeitgeberseite ausüben. Umgekehrt können die Arbeitgeber mit Aussperrungen drohen bzw. diese auch durchführen. Sollten die Verhandlungen zum Erliegen kommen, können unabhängige Schlichter eingesetzt werden, um zu vermitteln.
Deutschland im EU-Vergleich
Die Ausgestaltung der Tarifpolitik kann zwischen den EU-Staaten kaum unterschiedlicher sein. Ursächlich sind ganz verschiedene gesetzliche und ökonomische (wohlfahrtsstaatliche) Rahmenbedingungen, unterschiedliche konjunkturelle und Arbeitsmarktentwicklungen und schließlich sehr verschiedene Ausgangspunkte für die Gestaltung der Tarifpolitik in den Ländern.
Zunächst lässt sich eine Trennung der EU-Staaten in zwei Gruppen vornehmen:
Skandinavien mit einer sehr dynamischen Tariflohnentwicklung, hoher Tarifbindung der Beschäftigten und hohen gewerkschaftlichen Organisationsgraden.
Rest-Kontinental-Europa mit einer weniger dynamischen Tariflohnentwicklung, geringeren Tarifbindungs- und gewerkschaftlichen Organisationsgraden, aber mit sehr differenzierten Tarifvertragssystemen.
Differenziert man noch weiter, und stellt dabei auf die Hauptebene der Tarifverhandlungen ab, lassen sich drei Gruppen identifizieren, woraus sich wiederum Rückschlüsse auf die Bedeutung der Tarifpolitik und der Gewerkschaften ziehen lassen: Nationale Ebene, Branchenebene und Unternehmens-/Betriebsebene. Auch wenn die Hauptebenen hier als Merkmale zur Gruppierung genutzt werden, sind die weiteren Ebenen je nach nationaler Tarifpolitik nicht unbedeutend.
Verhandlungen auf nationaler Ebene
Einen stark zentralisierten Charakter besitzen die Tarifvertragssysteme Irlands, Belgiens, Finnlands sowie in weiten Teilen auch Frankreichs.
Zwischen 1987 und 2009 wurden in Irland auf nationaler Eben sogenannte Partnerschaftsabkommen verhandelt, die allerdings für die Lohnverhandlungen auf den weiteren Ebenen nicht verbindlich waren. Gerade im Zuge der Wirtschaftskrise erodierte das bestehende Tarifvertragssystem Irlands zunehmend. Nationale Verhandlungen werden zwar im öffentlichen Sektor nach wie vor auf nationaler Ebene durchgeführt; im Privatsektor ist man allerdings verstärkt auf die Unternehmensebene zurückgekehrt.
Belgien ist ein sehr klassisches Beispiel für ein stark zentralisiertes Tarifvertragssystem. Im Zwei-Jahres-Takt werden die Lohn- und Arbeitsbedingungen im Rahmen einer nationalen Vereinbarung definiert. Dabei ist vor allem der gesetzliche Rahmen stark prägend, nach dem die Lohnsteigerungen der belgischen Beschäftigten nicht höher sein dürfen als in den Nachbarländern. Zudem besteht eine an die Inflationsrate gekoppelte automatische Gehaltsindexierung. Hieraus resultiert letztlich ein nur geringer Verhandlungsspielraum, der weitere Verhandlungen auf Branchen- oder Unternehmensebene weitgehend überflüssig macht.
Auch Finnland war bis 2007 ein führendes Beispiel für stark zentralisierte Tarifverhandlungen. Die auf nationaler Ebene durchgeführten Verhandlungen gaben das Maß für Lohnerhöhungen vor, dass entsprechend auf den Ebenen der Branchen und Unternehmen anzuwenden war. Seit 2007 ist allerdings eine wachsende Verschiebung der Verhandlungen auf die Branchen- und vor allem auf die Unternehmensebenen zu beobachten gewesen. Es zeigt sich, dass in Europa lediglich in drei Staaten von zentralisierten Tarifvertragssystemen gesprochen werden kann, wobei Belgien aufgrund der Gesetzeslage als einziger Staat eine reine zentralistische Form im engeren Sinne aufweist. Sowohl in Irland als auch in Finnland ist zunehmend eine Abkehr von der zentralistischen hin zu dezentralen Formen zu beobachten.
Verhandlungen auf Ebene der Branchen
So wie in Deutschland finden Tarifverhandlungen auch in zehn weiteren EU-Staaten auf Ebene der Branchen statt. Das deutsche Tarifvertragssystem ist im EU-Vergleich also nicht einzigartig. Auch sind Firmentarifverträge nicht unüblich. Es werden zudem bundesweite Empfehlungen in den Verhandlungen auf den darunterliegenden Ebenen berücksichtigt. Zunehmend gewinnt in Deutschland allerdings die Unternehmensebene an Bedeutung. Dies ist darauf zurückzuführen, dass viele Arbeitgeber aus den Arbeitgeberverbänden ausgetreten sind bzw. diesen nicht beitreten.
Sehr ähnlich gestaltet sich das Tarifvertragssystem in den benachbarten Niederlanden, wenngleich dort die Tariflohnentwicklung in den letzten Jahren stärker zunahm und der Tarifbindungsgrad der abhängig Beschäftigten höher ist als in Deutschland. Vergleichbar ist auch die Systematik Österreichs: Dank der dortigen Pflichtmitgliedschaft der Arbeitgeber in den Wirtschaftskammern, die die Arbeitgeber in den Tarifverhandlungen vertreten, sind auch nur fünf Prozent der abhängig Beschäftigten nicht tarifgebunden tätig. Ebenso finden auch in Luxemburg Tarifverhandlungen überwiegend auf der Branchen- und Unternehmensebene statt. Italiens Tarifvertragssystem ähnelt dem in Deutschland ebenfalls sehr stark: Tarifverträge kommen durch Verhandlungen auf Branchenebene und auf Unternehmensebene zu Stande. Ebenso gestaltet sich die Situation in Zypern.
Das Tarifvertragssystem Frankreichs ist ein Mix aus allen relevanten Verhandlungsebenen. So finden Tarifverhandlungen auf nationaler, Branchen- und Unternehmensebene statt und je Ebene ist explizit definiert, wer an den Verhandlungen teilnimmt und wie eine Vereinbarung zu Stande kommt. Wichtigste Verhandlungsebene ist auch hier die Branche. Die Tarifverhandlungen in Spanien finden ebenfalls grundsätzlich auf allen Ebenen statt: Ausgehend von der nationalen Ebene werden Vorgaben gemacht, die dann auf Branchen-, aber auch auf Unternehmensebene umzusetzen sind. Ebenso ist in Portugal zwar die Hauptverhandlungsebene die Branche, jedoch werden die Tarifverträge von der Regierung in Lissabon stets als allgemeinverbindlich erklärt, woraus eine hohe Tarifbindung der Beschäftigten resultiert. Bedingt durch die Staatsschuldenkrise Portugals geriet dieses Vorgehen zunehmend in die Kritik und es wird infrage gestellt, ob eine derartig gestaltete Tarifpolitik noch finanzierbar ist angesichts der schwachen ökonomischen Rahmenbedingungen des Landes.
Slowenien gestaltete sein Tarifvertragssystem nach Vorbild seines österreichischen Nachbarn. Zum einen finden die Tarifverhandlungen auf Branchen- und Unternehmensebene statt, im öffentlichen Sektor auf nationaler Ebene. Zum anderen sind auch hier die Industrie- und Handelskammern die Verhandlungspartner, denen wiederum alle Unternehmen angehören müssen, weshalb eine Tarifbindung von 90 Prozent erreicht wird. Sowohl in der Slowakischen Republik als auch in Kroatien ist die Branchenebene die Hauptverhandlungsebene. Allerdings sind in beiden Staaten Verschiebungen hin zur betrieblichen Ebene festzustellen, die zunehmend an Bedeutung gewinnt. Ursächlich hierfür sind vor allem Flexibilisierungen des Tarifrechts.
Tarifverhandlungen auf Unternehmens- und Betriebsebene
Neben Verhandlungen auf Branchenebene gewinnt zunehmend die Unternehmens- bzw. Betriebsebene Bedeutung in den nationalen Tarifpolitiken.
Aufgrund der sehr liberalen und freien Wirtschaftsordnung besitzt die Tarifpolitik Großbritanniens eine vergleichsweise geringe Bedeutung. Nur jeder sechste Beschäftigte in der Privatwirtschaft und lediglich 66 Prozent aller im öffentlichen Sektor Beschäftigten sind tarifgebunden tätig. Insofern ist es auch nicht überraschend, dass im britischen Tarifvertragssystem die Unternehmensebene deutlich dominiert, gleichwohl im öffentlichen Sektor Branchenabschlüsse erarbeitet werden.
Auch ist in den mittel- und osteuropäischen Transformationsökonomien (Ungarn, Slowakische Republik, Tschechische Republik, Bulgarien, Rumänien, Polen und die baltischen Staaten) eine relativ geringe Bedeutung der Tarifpolitik festzustellen. So sind die Tarifbindungsgrade sehr unterdurchschnittlich (im Schnitt ist nur jeder dritte bis vierte Beschäftigte tarifgebunden tätig) und Tarifverhandlungen finden beinahe durchweg auf Unternehmens- bzw. Betriebsebene statt. Ungarns Gewerkschaften und Regierungen versuchten in den letzten Jahren verstärkt Verhandlungen auf Branchenebene durchzusetzen – bislang ohne Erfolg. In der Tschechischen Republik finden – wenn überhaupt – Verhandlungen ausschließlich auf betrieblicher Ebene statt und erst seit 2005 existieren auch wieder vereinzelte Branchenvereinbarungen mit höherer Verbindlichkeit. Auch in Polen ist das Tarifvertragssystem nur von untergeordneter Bedeutung für die Lohnbildung. Nur jeder vierte Beschäftigte ist tarifgebunden. Wenn überhaupt, dann finden Tarifverhandlungen auf Unternehmensebene statt. Gesetzlich ist aber zudem geregelt, dass Mindeststandards auch in nicht tariflichen Betrieben eingehalten werden.
In den baltischen Staaten (Litauen, Lettland und Estland) werden Tarifvereinbarungen – im sehr begrenzten Ausmaß – fast ausschließlich auf Unternehmensebene gefunden. Die Schlagkraft der Gewerkschaften ist relativ gering, entsprechend niedrig ist der Tarifbindungsgrad und auch die in Litauen geschaffenen Verhandlungsrechte für Betriebsräte nicht tarifgebundener Unternehmen blieben bislang ohne große Wirkung. In Estland wurden zudem, um die geringe Abdeckung mit Tarifverträgen zu kompensieren, gesetzliche Regelungen zum Mindestlohn geschaffen.
In Bulgarien finden die Verhandlungen überwiegend – und mit wachsender Bedeutung – auf Unternehmensebene statt, in denen die Ergebnisse von Verhandlungen auf Branchenebene berücksichtigt werden. Im öffentlichen Sektor werden, ähnlich wie in Schweden, Vereinbarungen über Lohn und Arbeitsbedingungen auf lokaler Ebene (Gemeinden) getroffen. Als Reaktion auf den wachsenden Standortwettbewerb in Mittel- und Osteuropa schaffte die rumänische Regierung das bis dahin bestehende nationale Tarifverhandlungssystem ab, um mehr Flexibilität in die Lohnbildung zu bekommen. Stattdessen wurden Regelungen eingeführt, um Tarifverhandlungen vor allem auf Unternehmens-, aber auch Branchenebene zu stärken. Hierdurch versprach man sich eine stärkere Berücksichtigung branchenspezifischer bzw. betrieblicher Aspekte in den Tarifverhandlungen und damit eine adäquatere Ausrichtung der Tarifpolitik entlang der ökonomischen Rahmenbedingungen, auch wenn die Gewerkschaften und die Position der Arbeitnehmer dadurch erheblich geschwächt wurden.
Dänemark und Schweden bilden in dieser Gruppe Ausnahmen. Hier sind sehr starke Wechselbeziehungen zwischen den Verhandlungsebenen Branche und Betrieb üblich. In Schweden finden Lohnverhandlungen vornehmlich auf lokaler Ebene statt (für elf Prozent der Beschäftigten sogar ausschließlich), aber dennoch verlaufen die Tarifverhandlungen auf Branchenebene. Ebenso ist auch in Dänemark ein starker lokaler Bezug in der Lohnbildung vorhanden, gleichwohl auch hier Tarifverhandlungen auf Branchenebene stattfinden.
Europas Lohnpolitik in der Krise
Trotz wachsender Verflechtung, eines gemeinsamen Binnenmarktes und einer gemeinsamen Währung ist die Lohnpolitik in Europa nach wie vor eine nationale Aufgabe. Letztlich ist dies über die unterschiedlichsten rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen und Strukturen der EU-Staaten zu begründen. Nichts desto trotz, das zeigt insbesondere das Beispiel Deutschland, scheint eine zunehmende Harmonisierung hin zu einer europäischen Lohnpolitik schon allein aus Stabilitätsgesichtspunkten hilfreich.
Denn dank des Binnenmarktes und der durch die Gemeinschaftswährung Euro abgebauten Wechselkursunterschiede, aber der nach wie vor nicht vergemeinschafteten Sozial- und Finanzpolitik sind Löhne der entscheidende Parameter im Standortwettbewerb der EU-Staaten geworden. So wird die Lohnbildung zum Instrument, um Wettbewerbsnachteile auszugleichen. Die nationalen Lohnpolitiken besitzen also ein erhebliches wirtschaftspolitisches Stabilitäts- und Entwicklungspotenzial in der EU.
Zwischen 2010 bis 2020 steigerten sich die Nominallöhne in der EU-27 um 16,4 Prozent, real wuchsen die Löhne um 4,9 Prozent. Generell zeigt sich europaweit ein sehr differenziertes Bild in der Lohnentwicklung. Beeinflusst ist die Lohnentwicklung von nationalen politischen Rahmenbedingungen sowie nationalen, aber auch supranationalen ökonomischen Rahmenbedingungen.
Ursachen-Wirkungs-Kreislauf: Lohnentwicklung und Eurokrise
Nun war die Eurokrise nur eines der Krisenphänomene, welches sich nachhaltig negativ auf die Leistungsfähigkeit der europäischen Staaten ausgewirkt hat. Gerade mit Blick auf die unterschiedlichen Auswirkungen der Krisen seit 2007 (Banken- und Finanzkrise, Staatsschuldenkrisen in Südeuropa und Eurokrise) lässt sich fragen, inwieweit die europäische Krisensituation "hausgemacht" ist. Oder anders: Welchen Einfluss hat die erhebliche Heterogenität in den lohnpolitischen Systemen der EU-Staaten auf die Funktionsfähigkeit des gemeinsamen Währungsraumes?
Eingangs wurde festgehalten, dass dank des Binnenmarktes, aber vor allem dank des Euros Wechselkursunterschiede nivelliert werden konnten. Dies lässt Transaktionskosten sinken, führt aber auch dazu, dass unterschiedliche volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeiten nicht mehr über die Wechselkursentwicklung abgebildet werden können. Bis zur Einführung des Euros wurden die unterschiedlichen Wettbewerbsfähigkeiten der EU-Staaten sowohl durch Wechselkursanpassungen als auch durch Lohnanpassungen ausgeglichen. Die mit dem Wegfallen des Wechselkurses entstehenden Herausforderungen sah bereits 1987 Fritz Scharpf, damals noch Fellow am Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences in Stanford (Kalifornien) und späterer Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung.
ExpertenblickFritz Scharpf
Das eigentliche Problem [einer etwaigen europäischen Währungsunion] aber ergibt sich aus der Tatsache, dass die europäischen Länder nicht einem einheitlichen Kostendruck ausgesetzt sind. Die nationalen Systeme der industriellen Beziehungen unterscheiden sich [...] grundlegend in ihrer Fähigkeit, auf gegebene makroökonomische Rahmenbedingungen ökonomisch-rational zu reagieren. [..] Das Ergebnis waren bisher unterschiedliche Steigerungsraten der Lohnstückkosten und periodische Wechselkursänderungen zum Ausgleich der sich unterschiedlich entwickelnden Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Länder. Wenn sich – unter sonst gleichen Umständen – die Wechselkurse zwischen den europäischen Ländern seit 1970 oder auch nur seit 1982 nicht hätten ändern können, hätten die Bundesrepublik und die Niederlande die übrigen Länder vom Markt gefegt.
Fritz Scharpf, ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung (1987)
Quelle: Scharpf, Fritz W., 1987: Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa, gefunden in: Höpner, Martin (2013): Externer Link: Die Verschiedenheit der europäischen Lohnregime und ihr Beitrag zur Eurokrise: Warum der Euro nicht zum heterogenen Unterbau der Eurozone passt, in: MPIfG Discussion Paper, No. 13/5, Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung.
Mit der Einführung des Euro am 1. Januar 1999 als Buchgeld (drei Jahre später, am 1. Januar 2002 erfolgte die Bargeldeinführung) blieb einzig die Lohnanpassung als Ausgleichsmechanismus übrig – und dies ohne eine zentrale europaweite Koordinationsstelle. Stattdessen, dies zeigen die vorangegangenen Ausführungen ("Das deutsche Tarifvertragssystem im europäischen Vergleich"), besteht eine erhebliche Heterogenität aus 27 nationalen Tarifvertragssystemen. Dies führte dazu, dass sich die Lohn-, aber auch die Preisniveaus zwischen den EU-Staaten auseinanderentwickelten – faktisch also zu realen Wechselkursverzerrungen. Diese realen Wechselkursverzerrungen führten wiederum zur sogenannten Eurokrise, nicht zuletzt erheblich durch Anpassungen in den nationalen Lohnregimes als Reaktion auf die Banken- und Finanzkrise induziert.
Deutschlands Modell der Lohnmoderation
Deutschland nahm und nimmt im Rahmen dieser Entwicklungen eine sehr interessante Rolle ein. Seit der Euro-Einführung (2001) und bis zum Ende der Eurokrise (2009) sanken die Reallöhne um gut sechs Prozent in Deutschland – als einziges Land in der gesamten EU. Seitdem stiegen diese zwar in der größten europäischen Volkswirtschaft um gut elf Prozent, aber eben auch nur etwas mehr als ein Prozent im Jahr.
ExkursEinführung des Mindestlohns
Während der nunmehr schon gut 20 Jahren währenden „Deutschen Lohnmoderation“ wurde der sogenannte Mindestlohn eingeführt. Mit dem am 16. August 20214 in Kraft getretene MIndeslohngesetz (MiLoG) gilt ein flächendeckender allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn für Arbeitnehmer/-innen und für die meisten Praktikant/-innen in Höhe von 9,35 Euro brutto je Zeitstunde.
Natürlich blieb weder seine Einführung noch seine Umsetzung bis heute ohne Kritik. So wurden sehr früh verfassungsrechtliche Zweifel geäußert, da man MiLoG in das Grundrecht der Tarifautonomie (Art. 9 GG) eingreifen sähe. Auch, dass das Gesetz nur vier Monate nach Inkrafttreten bereits voll gelten sollte, ging einigen zu schnell. Viele Arbeitgeber sahen sich kaum in der Lage, sich in diesem kurzen Zeitraum auf höhere Lohnkosten einrichten zu können. Darüber hinaus kam scharfe Kritik von den Gewerkschaften, dass man Langzeitarbeitslose gesetzlich benachteilige, weil man sich faktisch aus dem Mindestlohn herausnehme.
Nach nunmehr sechs Jahren lassen sich erste, auch signifikante Wirkungen des Gesetzes nachzeichnen.
Zentraler positiver Effekt ist aber, dass der Mindestlohn tatsächlich positive Lohneffekte hatte. Laut einer Analyse des IAB sei der Lohn pro betroffenen Beschäftigten um etwa zehn Prozent gestiegen, andere Analysen kommen wiederum zu Effekten auf das Lohnwachstum von vier bis acht Prozentpunkte (die Stellungnahme des IAB finden Sie unter „Zum Weiterlesen“ am Ende dieses Beitrags). Dies zeigt sich u.a. auch in der leichten Steigerung der deutschen Reallöhne.
Auch das Argument, der Mindestlohn schade der Produktivität, konnte entkräftet werden. So zeigen verschiedene Studien, dass der Mindestlohn keinen signifikanten Einfluss auf die Arbeitsproduktivität hatte. Interessant ist zudem der Nachweis, dass nach der Einführung vom Mindestlohn betroffene Beschäftigte häufiger in solche Unternehmen wechselten, „die schon vor der Mindestlohneinführung größer und stabiler waren und höhere Lohnprämien bezahlten“. Das heißt, mittelbar steigert der Mindestlohn eher die Arbeitsproduktivität, da Beschäftigte zu produktiveren Unternehmen wechseln.
Jedoch, auch das zeigen verschiedenen Untersuchungen, hatte der Mindestlohn tatsächlich negative Beschäftigungseffekte. Wenn auch zum Teil vernachlässigbarer Art.
Aber auch damit läuft die Lohnentwicklung in Deutschland deutlich der enormen Technologie- und Produktivitätsdynamik der deutschen Volkswirtschaft hinterher. Das schafft Lohnvorteile, die Deutschland seit nunmehr 20 Jahren besitzt. Der ehemals „kranke Mann Europas" ist nunmehr absoluter Superstar – und im engsten Wortsinne konkurrenzlos in Europa. Deutschlands Modell der Lohnmoderation fand in Europa und auch weltweit viel Beachtung, diese schlug dann aber recht schnell in starke Kritik um.
ExpertenblickChristine Lagarde
[..] Germany has done an awfully good job in the last 10 years or so, improving competitiveness, putting very high pressure on its labour costs. When you look at unit labour costs to Germany, they have done a tremendous job in that respect. I’m not sure it is a sustainable model for the long term and for the whole of the [Euro]group. Clearly we need better convergence.
Christine Lagarde, Direktorin des Internationalen Währungsfonds, und zuvor französische Wirtschafts- und Finanzministerien, am 15. März 2010
Quelle: Externer Link: Financial Times vom 15. März 2010
Fußnoten
Ausweg: Koordinierung und Harmonisierung der Lohnpolitiken
Angesichts der Entwicklungen in Europa sind bis heute Rufe nach einer Vergemeinschaftung der Wirtschaftspolitik zu vernehmen, um Ungleichgewichte zwischen den Staaten zu reduzieren. Um dies zu gewährleisten, ist eine gemeinsame Fiskalpolitik mit einer Bündelung und Koordinierung der Haushaltskompetenzen nötig. Zudem wird eine gemeinsam (europäisch) koordinierte Lohnpolitik gebraucht, um Verzerrungen im Standortwettbewerb zu verhindern. Um die Tarifvertragssystematik zu vereinheitlichen, werden darüber hinaus gewerkschaftliche Koordinierungen notwendig.
Ansätze europäischer Lohnkoordinierung
Vor diesem Hintergrund erscheint zunächst eine europäische Koordinierung der Lohnpolitik als ein zukunftsfähiger Ausweg aus der aktuellen Situation. Ihr Ziel ist es, den derzeitigen Unterbietungswettbewerb zwischen den Staaten zu vermeiden. Im Grunde lassen sich drei Ansätze diskutieren, die sich in den Initiativen zur europaweiten lohnpolitischen Koordinierung in Teilen wiederfinden:
Neoklassischer Ansatz: Lohnpolitik als ein Wettbewerbsinstrument. Das deutsche Modell ist hierfür ein Vorbild, dass gegebenenfalls auch auf andere Staaten übertragbar wäre ("europäische Verallgemeinerung" [Euro-Plus Pakt, Europäischer Rat, 25.3.2011]). Das heißt also starke Lohnzurückhaltung (gepaart mit dynamischer Technologisierung), Dezentralisierung der Tarifpolitik, keine Lohnindexierung und weitere Deregulierung der Arbeitsmärkte.
Keynesianischer Ansatz: Vorausschauende Lohnbildung entsprechend der Trendentwicklung der Produktivitätsrate und der EZB-Zielinflationsrate. Überschussländer, wie Deutschland, stünden in diesem System Defizitländern, wie etwa Italien, gegenüber. Aus der Verteilmasse würden Lohnsteigerungen für deutsche Beschäftigte resultieren, für italienische allerdings Stagnationen oder aber Kürzungen. Dies würde das Lohnregime stärker in den Einklang mit dem Währungsregime bringen, allerdings auch einen Verzicht auf die verteilungspolitische Funktion der Lohnpolitik bedeuten.
Gewerkschaftlicher Ansatz: Sicherung der Verteilungsfunktion der Lohnpolitik und Eindämmung des Lohnwettbewerbs sowie Erhalt der autonomen, nationalen Tarifvertragssysteme. In diesem System würde keine Verteilung zwischen den Staaten stattfinden, sondern lediglich eine national selbstbestimmte Lohnbildung erfolgen. Zudem wird eine europäische Mindestlohnpolitik gefordert.
Gewerkschaftliche Initiativen
Verschiedene Gewerkschaften europaweit versuchten und versuchen bis heute, diese Ansätze umzusetzen:
Doorner Erklärung: Europäisierung der Gewerkschaftsarbeit
Gewerkschaftliche Arbeit europäisiert sich kontinuierlich. So gingen die deutschen Gewerkschaften länderübergreifende Zusammenarbeiten mit französischen, belgischen, niederländischen oder polnischen Gewerkschaften ein. Wie etwa in der Initiative von Doorn, in der sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) gemeinsam mit dem belgischen und niederländischen Gewerkschaftsbünden für ein Abschlussvolumen einsetzte, um Preisanstiege und Produktivitätszunahme über entsprechende Lohnerhöhungen zu kompensieren. Die stärkere Vernetzung der Gewerkschaften über Landesgrenzen hinweg ist sicher ein erstes probates Mittel, um auf den Einfluss der Globalisierung angemessen zu reagieren und so Harmonisierungen in der Tarifpolitik herbeizuführen, die grenzüberschreitendes Lohndumping verhindern und eine angemessene Sicherung der Arbeitsverhältnisse zwischen den Ländern zu unterstützen.
Koordinationsregel des Europäischen Metallgewerkschaftsbundes (EMB)
Die Koordinationsregel des Europäischen Metallgewerkschaftsbundes (EMB) ist eine zweite Alternative, die von den Gewerkschaften ins Leben gerufen wurde. Ebenso wie die Doorner Erklärung definiert die Koordinationsregel eine europaweiten Verhandlungsbreite, die sich aus der Inflations- und gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung ergibt. Ausgehend von dieser Verhandlungsmasse können die Gewerkschaften auf nationaler Ebene selbstständig definieren, welche Regelungsbereiche (Löhne bzw. Arbeitsbedingungen) sie auf nationaler Ebene verhandeln werden. Dadurch können weiterhin die sich sehr differenzierenden Tarifvertragssysteme erhalten bleiben und die Gewerkschaften agieren eigenverantwortlich auf nationaler bzw. darunter liegender Ebene.
Ein Mehr-Ebenen-System der europäisierten Arbeits- und Tarifvertragsbeziehungen könnte wie folgt aussehen: