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Zahlen, Daten, Fakten: Tarifverhandlungen und Tarifverträge

Guido Zinke

/ 6 Minuten zu lesen

Zwischen Deutschland und anderen EU-Staaten bestehen, trotz Harmonisierungsanstrengungen, erhebliche Unterschiede in der Ausgestaltung der Tarifpolitiken. Dies hat vor allem Ursachen in der unterschiedlichen Bedeutung und Tradition der Tarifpolitik als sozialpolitischem Instrument und im Kontext der individuellen makroökonomischen Situationen in den jeweiligen Staaten. Im Ergebnis führt dies zu sehr unterschiedlichen Auswirkungen auf die Entwicklung der Tariflöhne.

Mitglieder der zweitgrößten französischen Gewerkschaftsvereinigung CGT unterstützen streikende Mitarbeiter eines Hotels, 22.10.2015. Im europäischen Vergleich gelten die Französinnen und Franzosen als am streikfreudigsten. (© picture-alliance, abaca)

Der folgende Abschnitt skizziert diese Unterschiede zwischen Deutschland und ausgewählten EU-Staaten zunächst am Beispiel des Abdeckungsgrads von Tarifverträgen. Hier wird dargestellt, wie viele Beschäftigte überhaupt tariflich gebunden sind und wie hoch der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist. Beides sind Anhaltspunkte, die Rückschlüsse auf die Bedeutung der nationalen Tarifpolitik und auch Ableitungen in Richtung der tarifpolitischen Tradition zulassen. In einer Lang- und Kurzfristperspektive werden anschließend die Tariflohnentwicklungen dargestellt. Neben den Auswirkungen, die sich aus den nationalen tarifpolitischen Eigenheiten ergeben, steht diese Entwicklung natürlich auch unter dem Eindruck internationaler Krisen wie der Banken- und Finanzkrise oder der Corona-Pandemie.

Abdeckungsgrad durch Tarifverträge

Wichtige Indikatoren für die Bedeutung der Tarifpolitik sind vor allem der Abdeckungsgrad durch Tarifverträge und der gewerkschaftliche Organisationsgrad. Während der Abdeckungsgrad durch Tarifverträge anzeigt, wie viele Beschäftigte tariflich gebunden sind, also für wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die tariflichen Vereinbarungen eines Tarifvertrages gelten, zeigt der gewerkschaftliche Organisationsgrad an, wie viele Beschäftigte überhaupt Mitglieder einer Gewerkschaft sind.

Zunächst sei der Blick auf Deutschland gerichtet. Waren Anfang des Jahrtausends noch gut 67 Prozent der Beschäftigten in Tarifverträgen gebunden, sank der Grad der Tarifbindung je Dekade um rund zehn bis elf Prozent; auf zunächst 61 Prozent in 2010 und bis 2018 (letzter Stand der Erhebung) auf 54 Prozent. Dabei unterscheidet sich die Tarifbindung zwischen Ost und West stark. Noch 2000 waren 70 Prozent der westdeutschen Beschäftigten tariflich gebunden, zuletzt (2018) 56 Prozent. Während im Osten Deutschlands Anfang des Jahrtausends nur 55 Prozent der Beschäftigten tariflich gebunden waren, waren es 2018 nur noch 45 Prozent. Gleichzeitig ist auch der Anteil der tarifgebundenen Betriebe von 48 (in 2000) auf 29 Prozent (2018) gesunken.

Zudem variiert die Tarifbindung sehr stark zwischen den Wirtschaftszweigen. Hohe Tarifbindungsgrade weisen die Branchen des öffentlichen Sektors auf. Allen voran ist die öffentliche Verwaltung zu nennen, in der beinahe jeder Beschäftigte tarifgebunden ist. Überdies lassen sich hohe Tarifbindungsgrade im Bereich der Erbringung von Finanzdienstleistungen feststellen, nicht zuletzt auch zurückzuführen auf den hohen Anteil öffentlicher bzw. gemeinwohlorientierter Unternehmen in dieser Branche (Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken, Landesbanken sowie Investitions- und Förderbanken des Bundes und der Länder). Außerdem hat die Energieversorgung, Wasserver- und -entsorgung sowie der Bergbau traditionell einen hohen Grad der Tarifbindung.

Geringer und differenzierter sind die Tarifbindungen in anderen Wirtschaftszweigen. Die ebenfalls typischerweise sehr stark durch Tarifverträge dominierten Wirtschaftszweige, wie die des produzierenden Gewerbes, besaßen Branchentarifbindungsgrade zwischen 46 und 61 Prozent. Branchentarifverträge stehen aber gerade in diesen Branchen zunehmend in Konkurrenz zu Firmentarifverträgen, auch nimmt die Bedeutung betrieblicher Vereinbarungen zu. Deutlich anders ist die Situation in den Bereichen zur Erbringung von Informations- und Kommunikationsdienstleistungen. Hier überwiegt eine Nicht-Tarifbindung der Beschäftigten. So sind gerade einmal 18 Prozent der Beschäftigten in diesem Bereich tarifgebunden.

Im Vergleich zu ausgewählten EU-Staaten ist der Tarifbindungsgrad als auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad Deutschlands unterdurchschnittlich. Höchste Tarifbindungsgrade lassen sich in Frankreich, Belgien, Portugal, Finnland, Österreich und Slowenien finden – auch ohne, dass dort auch der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder unter den Beschäftigten (gewerkschaftlicher Organisationsgrad) gleichzeitig sehr überdurchschnittlich hoch ist. All diese Staaten haben Tarifbindungsgrade von 90 Prozent und mehr. Die Gründe für die hohen Tarifbindungsgrade sind zwischen den Staaten allerdings durchaus unterschiedlich. So resultiert der hohe Tarifbindungsgrad Belgiens daraus, dass Tarifverhandlungen ausschließlich auf nationaler Ebene geführt werden und gut die Hälfte aller Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert ist. Dies ist aber in Frankreich keineswegs der Fall. Dort finden die Tarifverhandlungen ähnlich zu Deutschland, vor allem auf der Branchen- und Unternehmensebene statt und es besteht eine hohe Rivalität zwischen den Gewerkschaften. Aber genau die ist – dank des daraus resultierenden Wettbewerbs – der Grund, dass es zu einem hohen Tarifbindungsgrad kommt. Hinzu kommt, dass die französische Volkswirtschaft durch einen sehr beschäftigungsintensiven öffentlichen Sektor, eine hohe Zahl sehr großer, meist staatlicher und teilstaatlicher Unternehmen und eine sehr ausgeprägte tarifpolitische Tradition geprägt ist.

Höchste gewerkschaftliche Organisation hat im EU-Vergleich Schweden, gefolgt von Finnland und Norwegen. Hier sind zwischen 64 und 74 Prozent aller Beschäftigten Mitglieder einer Gewerkschaft. In Deutschland hingegen trifft dies nur auf ein Fünftel der Beschäftigten zu.

Insgesamt zeigt sich zudem, dass sowohl der Grad der Tarifbindung als auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den skandinavischen und westeuropäischen Staaten deutlich höher ist als in den osteuropäischen, relativ jungen EU-Staaten. So ist in Estland, Lettland, Rumänien, Ungarn, in der Slowakischen Republik und der Tschechischen Republik nur etwa jede:r dritte Beschäftigte tarifgebunden. In Polen gar nur jeder vierte und in Litauen nur jeder siebente. All diese Staaten sind Transformationsökonomien, die sich aus sozialistischen plan- hin zu kapitalistischen marktwirtschaftlichen Volkswirtschaften entwickelten. In der Planwirtschaft waren Gewerkschaften staatlich gelenkt und setzten die politischen Interessen der sozialistischen Führung proaktiv um. Nach der politischen Wende war dies ein Grund für die nur sehr geringe Akzeptanz von Gewerkschaften in diesen Staaten. Zudem durchlebten all diese Staaten, anders als es etwas auf Ostdeutschland zutraf, sehr radikale wirtschaftspolitische Veränderungsprozesse. Beispielhaft ist dafür vor allem der beeindruckend rasante Transformationsprozess der Slowakischen Republik unter der Regierung Mikuláš Dzurindas (1998–2006). Dessen Reformen verwandelten das vormals ökonomisch relativ unbedeutende Land zu einem europäischen "Tigerstaat". Dank der Einführung einer vergleichsweise sehr niedrigen Einheitssteuer (flat tax) und erheblicher Flexibilisierung des Arbeitsmarktes wuchs die Standortwettbewerbsfähigkeit beeindruckend schnell und ausländische Direktinvestitionen konnten in einem beträchtlichen Maße ins Land geholt werden. Erst die aus diesen Reformen resultierenden sozialen Negativeffekte führten zu einem Umdenken in der Bevölkerung und Politik. Dies brachte eine deutlich stärkere Orientierung auf sozial- und insbesondere arbeitsmarktpolitische Instrumente mit sich, womit letztlich auch ein Bedeutungszugewinn tariflicher Instrumente und der Gewerkschaften einherging.

Tariflohnentwicklung: Deutschland im EU-Vergleich

Die Tariflohnentwicklung in Deutschland und auch in Europa insgesamt, stand in den letzten zwei Jahrzehnten unter dem Eindruck einer zurückgehenden Bedeutung von tariflichen Vereinbarungen, die wiederum einhergingen mit den beeinträchtigenden Effekten aus der Banken- und Finanzkrise zwischen 2007 und 2009, deren Spätfolgen immer noch spürbar sind.

Insgesamt stiegen die realen Tariflöhne in der EU-27 (deflationiert um den harmonisierten Verbraucherpreisindex) um 4,9 Prozent zwischen 2010 und 2020, während die Nominallöhne um 18,4 Prozent wuchsen.

Erläuterung: Deflationierung (Interner Link: Grafik zum Download 98 KB) (© bpb)

Diese Entwicklung ist insbesondere getragen durch sehr starke Lohnanstiege in Osteuropa, allen voran in Bulgarien und Rumänien. Im Schnitt wuchsen die bulgarischen Reallöhne um 5,3 Prozent, die rumänischen um 3,1 Prozent. Innerhalb der EU-27 (ohne Großbritannien) wuchsen die Reallöhne im Gegensatz dazu um gerade einmal 0,32 Prozent im Jahr. Das heißt, die bulgarischen und rumänischen Lohnentwicklungen verliefen um den Faktor 17 (Bulgarien) bzw. 10 dynamischer als in Rest Europa. Für die osteuropäischen Staaten spiegeln sich hier Nachholentwicklungen in den Löhnen wider: Ausgehend von einem vergleichsweisen sehr niedrigen Lohnniveau sind sie im EU-27-Vergleich immer noch unterdurchschnittlich.

In Nord- und West-, aber insbesondere in Südeuropa fielen die Lohnentwicklungen zwischen 2010 und 2020 wiederum schwächer aus. Stärkste Zuwächse hatten die schwedischen und deutschen Tarifbeschäftigten mit Reallohnzuwächsen von 11,6 bzw. 11 Prozent. Zwischen 2010 und 2020 stiegen die schwedischen und deutschen Reallöhne also im Schnitt um ein Prozent pro Jahr. Während in Griechenland quasi ein Null-Wachstum unter den Reallöhnen und in Italien sogar ein Minuswachstum festzustellen ist.

Streiks und Aussperrungen: Deutschland im internationalen Vergleich

Zwischen 2006 und 2018 streikten in Deutschland durchschnittlich 751.384 Tarifbeschäftigte in Deutschland, wobei 741.923 Arbeitstage durchschnittlich durch die Streiks ausfielen. Im Schnitt verursacht also jeder Streik 1,2 Ausfalltage pro Streikenden. Die Jahreswerte schwankten allerdings sehr stark. Vor allem gegen Ende von Tarifverträgen wächst typischerweise das Streikvolumen an.

Die hohen Werte für 2018 erklären sich vor allem aus den Streiks im Zusammenhang mit den Metall-Tarifrunden. Auf diese Streiks entfielen allein 60 Prozent der Ausfalltage. Aber auch andere Tarifrunden waren durch größere Warnstreiks begleitet, so etwa im Öffentlichen Dienst beim Bund und den Kommunen. Hinzu kam die wochenlange Warnstreikwelle des Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG in 2018 (nachzulesen z.B. Externer Link: hier ). Angesichts dieser Entwicklung sieht das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung einen starken Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Streikvolumens und der Veränderung des Tarifvertragssystems.

QuellentextHeiner Dribbusch

Sehr deutlich lässt sich nach wie vor der Zusammenhang zwischen Konflikthäufigkeit und Zerklüftung der Tariflandschaft beobachten.

Heiner Dribbusch ist Experte für Tarif- und Gewerkschaftspolitik im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung. Quelle: WSI (2014): Leichter Rückgang bei den Arbeitskämpfen, in. Externer Link: Böcklerimpuls 5/2014.

Insgesamt ist Deutschland im internationalen Vergleich kein streikfreudiges Land. Es gehen in Deutschland vergleichsweise nur wenige Arbeitstage durch Streiks verloren und es beteiligen sich relativ wenige Beschäftigte an den Streiks. Dazu trägt der Flächentarif ebenso bei wie die „sozialpartnerschaftliche Einbindung“ durch die Mitbestimmung.

Am streikfreudigsten ist man in Frankreich. Dort fielen zwischen 2009 und 2019 114 Arbeitstage pro 1.000 Beschäftigte durch Streiks aus, während die Zahl in Deutschland bei lediglich 18 Tagen lag. Die französischen Beschäftigten bestreikten also sechs Mal so viele Arbeitstage wie Beschäftigte in Deutschland. Recht streikfreudig ist man auch in Belgien und Kanada. Hier verursachen Streiks vier- (Kanada) bis fünfmal (Belgien) mehr Ausfalltage als in Deutschland. Allerdings sind die deutschen Beschäftigten im Vergleich zur Schweiz, auch zu Polen, Österreich und Schweden wiederum sehr streikfreudig. So fielen in den zehn Jahren zwischen 2009 und 2019 gerade einmal ein (Schweiz) bis zwei (Polen, Österreich und Schweden) Tage pro 1.000 Beschäftigten durch Streiks aus.

Weitere Inhalte

Guido Zinke ist Volkswirt und berät, evaluiert und forscht im Auftrag der EU-Kommission sowie der deutschen und von anderen europäischen Regierungen zu innovations-, digital- und umweltpolitischen Fragen. Seit 2017 ist er als Projektleiter in der VDI/VDE Innovation + Technik tätig. Dort leitet er aktuell die wissenschaftliche Begleitforschung zum Technologieprogramm Smart Service Welt II des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) und berät das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zu innovationspolitischen Fragen. Daneben verantwortet er Forschungsvorhaben und Evaluationen. Z. B. die Evaluation des Nationalen Programms für Weltraum und Innovation Deutschlands im Auftrag des BMWi oder Studien zu Gründungen und Start-ups in Deutschland und Europa. Guido Zinke studierte Volkswirtschaftslehre, insb. Mikroökonomik, empirische Ökonomik und Politikberatung. Vor seiner Tätigkeit für die VDI/VDE-IT war er für die Landesbank Baden-Württemberg, das dänische Beratungshaus Rambøll und die deutsche Unternehmensberatung Kienbaum tätig.