Betrachtet man die Entwicklung der Arbeitskräftemobilität und deren verschiedene Ausprägungen in den letzten zehn Jahren wird einerseits schnell deutlich, dass die Mobilität von Arbeitskräften aus unterschiedlichen Gründen stark gewachsen ist und viel Potential für die mobilen Beschäftigten und den europäischen Arbeitsmarkt beinhaltet. Andererseits wird auch deutlich, dass die aufnehmenden Mitgliedstaaten eine besondere Verantwortung tragen, die gleichen Rechte für die Gruppe der Beschäftigten aus anderen Mitgliedstaaten umzusetzen und zu schützen, da mobile Beschäftigte besonders gefährdet sind auf den heimischen Arbeitsmärkten benachteiligt zu werden.
Arbeitskräftemobilität in Europa – Push und Pull Faktoren auf dem Arbeitsmarkt
Die Arbeitskräftemobilität der Bürgerinnen und Bürger innerhalb der Mitgliedstaaten ist eins der Gründungsprinzipen der Europäischen Union und wird seit 1957 aktiv gefördert. Als sogenannte „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ bekannt, hat jede EU-Bürgerin und jeder EU-Bürger das Recht, in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nach einer Beschäftigung zu suchen oder sich auf eine Stelle zu bewerben. Dieses Recht ist in §45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) festgelegt und gemäß §46 des Vertrages in der Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung 492/2011 genauer bestimmt. Arbeitssuchende dürfen sich für eine Dauer von maximal sechs Monaten im Hoheitsgebiet des anderen Mitgliedstaates aufhalten haben jedoch grundsätzlich erstmal keinen Anspruch auf die Arbeitslosenhilfe des aufnehmenden Landes. Wenn aber EU-Bürgerinnen und Bürger in einem anderen Land eine abhängige Beschäftigung aufnehmen, haben sie dort dieselben Rechte und Pflichten wie die Beschäftigten des aufnehmenden Landes und dürfen nicht diskriminiert werden. Die genaue Auslegung dieses Rechts wurde zuletzt 2011 in der sogenannten Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung im Detail geregelt und 2014 durch eine Richtlinie (2014/54/EU) erweitert, die konkrete Maßnahmen in den Mitgliedstaaten zur Unterstützung und Erleichterung der Ausübung der Rechte für Beschäftigte und ihre Familienangehörigen enthält. Diese Richtlinie wurde 2016 in deutsches Recht umgesetzt.
Push und Pull Faktoren der Arbeitskräftemobilität in Europa
Die Entscheidung, in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union eine Beschäftigung zu suchen und zu finden, kann durch wirtschaftliche, soziale oder aber persönliche Gründe und Situationen beeinflusst werden. Je nach EU-Land spielt auch die persönliche Qualifikation eine Rolle inwiefern Bürgerinnen oder Bürger das eigene Land verlassen, um einer Beschäftigung nachzugehen. Im Mobilitätsdiskurs unterscheidet man zwischen sogenannten „push“ und „pull“ Faktoren. Die „push“ Faktoren beziehen sich auf das Herkunftsland und die mobilen Bürgerinnen und Bürger. So können zum Beispiel wirtschaftliche Krisen, eine hohe Arbeitslosigkeit in einem Land oder einer bestimmten Branche, vergleichsweise geringere Löhne, unzureichende berufliche Perspektiven in einer Branche dazu führen, dass Menschen in einem anderen Land nach einer Beschäftigung suchen (müssen). Individuelle Faktoren, wie zum Beispiel die persönliche Motivation nach beruflicher Veränderung, internationale Berufserfahrung oder aber Familiennachzug zählen auch zu push Faktoren weshalb Menschen ihr Heimatland verlassen, um in einem anderen Land eine Beschäftigung aufzunehmen.
Die „pull“ Faktoren beziehen sich dementsprechend auf das Zielland wie zum Beispiel ein hoher Bedarf an Arbeitskräften in einer bestimmten Branche, keine Hürden zum Arbeitsmarkt, die Lohnhöhe oder aber soziale Sicherheit, höhere Lebensstandards und Zugang zu Bildung. Durch die vergleichsweise stabile Krisenpolitik ist Deutschland in den vergangenen 10 Jahren das Hauptzielland für mobile Beschäftigte in der EU geworden. Gleichzeitig ist Deutschland, ähnlich wie auch seine Nachbarstaaten, durch den demographischen Wandel und eine alternde Bevölkerung bereits heute in verschiedenen Branchen auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen, um Nachfragelücken im Arbeitsmarkt abzudecken. Aktuellen Studien zufolge gibt es bereits in mindestens 391 Berufen Fachkräfteengpässe in Deutschland. Dies betrifft sowohl gewerblich-technische Berufe wie zum Beispiel Mechatronik, Elektro- oder Klimatechnik, Bauberufe genauso wie auch Berufe im Gesundheitsbereich wie Altenpflege, Kinderbetreuung, Krankenpflege. Der zunehmende Mangel an Fachkräften ist jedoch kein deutsches Alleinstellungsmerkmal, sondern ein gemeinsames Merkmal vieler europäischer Mitgliedstaaten, die durch den demographischen Wandel und den gleichzeitigen technologischen Fortschritt um ausländische Arbeitskräfte konkurrieren.
Im Jahr 2018 waren 318.000 deutsche Bürgerinnen und Bürger im arbeitsfähigen Alter in anderen EU-Mitgliedstaaten gemeldet. Dabei fällt jedoch auf, dass die deutschen Bürgerinnen und Bürger zumeist in den direkten Nachbarsstaaten Luxemburg, Belgien, Niederlande und Österreich arbeiten, während die in Deutschland arbeitenden EU-Bürgerinnen und Bürger aus ganz Europa kommen.
Ein Grund dafür sind die unterschiedlichen Lebensstandards sowie das damit einhergehende Einkommensgefälle innerhalb der Europäischen Union. Im europäischen Vergleich beim durchschnittlichen Bruttostundenlohn liegt Deutschland im oberen Drittel und deutsche Beschäftigte arbeiten auch vorwiegend in Mitgliedstaaten, die vergleichbare oder höhere Löhne zahlen. EU-Bürgerinnen, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt tätig sind, kommen vorwiegend aus Ländern mit wesentlich niedrigeren Durchschnittslöhnen. Gleichzeitig ist jedoch erkennbar, dass Deutschland in der EU nicht die höchsten Löhne zahlt, sondern sich an sechster Stelle einreiht. Der Lohn kann damit nicht die einzige Erklärung sein, warum so viele EU-Bürger/-innen in Deutschland arbeiten. Der Zugang zum Arbeitsmarkt, die Arbeitsmarktsituation in manchen Branchen, sowie der hohe Bedarf an Arbeitskräften sind weitere wichtige „pull-Faktoren“ und erklären warum im Jahr 2018 etwa drei Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger in Deutschland gearbeitet haben.
Darüber hinaus gibt es soziokulturelle Faktoren, die die Arbeitsmigration begünstigen oder hindern können. Dazu zählt zum Beispiel die Sprache des Ziellandes, oder aber die Infrastruktur im Zielland, die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen. Während man sich auf europäischer Ebene aktiv um eine Vereinfachung in der Anerkennung von EU-Abschlüssen bemüht hat und auch EU-weite Standards in Bezug auf Universitätsabschlüsse eingeführt worden sind (Richtlinie 2013/55/EU), gibt es im Bereich der Ausbildungsberufe noch große Unterschiede, die den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt und die Anerkennung als Fachkraft erschweren.
Arbeitskräftemobilität in Europa – Formen der Beschäftigung
Die verfügbaren Zahlen bestätigen das kontinuierliche Wachstum der Arbeitskräftemobilität in Europa. Dementsprechend ist es unabdingbar sicher zu stellen, dass EU-Bürger/-innen die gleichen Rechte haben wie inländische Beschäftigte und sie und ihre Familien vor Diskriminierung und Ausbeutung geschützt werden.
Aktuell nutzen fast zehn Millionen Menschen dieses Recht und gehen in einem anderen Mitgliedsland einer abhängigen Beschäftigung nach. Dabei gibt es große Unterschiede zwischen den Qualifikationsniveaus, den Beschäftigungsformen sowie auch der Dauer der Beschäftigung. Daten zur Beschäftigungsrate belegen, dass etwa 80 Prozent der zugewanderten EU-Bürger/-innen einer abhängigen Beschäftigung nachgehen. Sie sind in allen Branchen beschäftigt, jedoch im Vergleich zu den inländischen Beschäftigten häufiger in der Baubranche, Hotel und Gastronomie-, Transport- und Kommunikationsbranche tätig. Diese Zahlen bestätigen zum einen den Fachkräftemangel in einigen Branchen, zum anderen weisen sie daraufhin, dass es dort auch einen Bedarf an Arbeitskräften mit mittlerer oder geringer Qualifikation gibt (sogenannte Hilfskräfte).
Darüber hinaus, gibt es je nach Mitgliedstaat Unterschiede zwischen den Hauptherkunftsländern der mobilen Beschäftigten. In Deutschland kommt der Großteil der EU-Bürgerinnen und Bürger im beschäftigungsfähigen Alter aus Polen, Italien, Rumänien, Griechenland oder Kroatien. Andere Hauptzielländer in der EU-27 sind, Spanien, Frankreich, Italien und Österreich. Die Hauptherkunftsländer der mobilen Beschäftigten innerhalb Europas sind Rumänien, Polen, Italien und Portugal, sie machen etwa 50 Prozent aller mobilen Bürger im erwerbsfähigen Alter aus. Diese Zahlen sind jedoch nur ein Indikator für das tatsächliche Ausmaß der Intra-EU-Mobilität von Beschäftigten.
So gibt es neben der Aufnahme einer regulären abhängigen Beschäftigung noch weitere Formen der Mobilität, die EU-Bürgerinnen und Bürger sowie Firmen nutzen können, um im Arbeitsmarkt eines anderen Mitgliedstaates aktiv zu sein. Es gibt EU-Bürger/-innen, die als Grenzgänger in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten, jedoch jeden Tag oder zumindest einmal pro Woche zu ihrem Wohnort in einem anderen Mitgliedstaat zurückkehren. Darüber hinaus gibt es Bürgerinnen und Bürger, die als Saisonarbeitskräfte für einen Zeitraum von maximal 70 Arbeitstagen oder drei Monaten pro Jahr kurzfristig in einem anderen Mitgliedstaat der EU beschäftigt werden. Diese besonderen Formen der abhängigen Beschäftigung sind bisher statistisch nur am Rande erfasst und die Datenlage erlaubt es bisher nur, Schätzungen in Bezug auf einzelne Länder zu machen.
Darüber hinaus geht nicht jede mobile EU-Bürgerin einer abhängigen Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat nach. So haben Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union zum Beispiel das Recht in einem anderen Mitgliedstaat selbstständig tätig zu werden und ein Gewerbe anzumelden. Diese sogenannte ‚Niederlassungsfreiheit‘ ist ebenfalls im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verankert und wird aktiv genutzt (Artikel 49 AEUV). Im Jahr 2018 waren etwa 13 Prozent der EU-Bürger/-innen in einem anderen Mitgliedstaat als Selbstständige angemeldet. Für Selbstständige, die sich in einem anderen Mitgliedsstaat der EU niederlassen, gilt ebenfalls ein Diskriminierungsverbot und damit dieselben Rechte und Pflichten wie für inländische Bürger. Ausländische Firmen haben durch die sogenannte Dienstleistungsfreiheit ebenfalls das Recht, im EU-Ausland um Aufträge zu werben und zur Durchführung dieser Aufträge ihre Beschäftigten zu entsenden. Die rechtliche Grundlage für diese Form der Mobilität bildet die sogenannte Entsenderichtlinie (2018/957/EU). Da in dieser Form der Mobilität, der ausländische Arbeitsvertrag bestehen bleibt, und die entsandten Arbeitnehmer theoretisch nur für einen vorher bestimmten Zeitraum im Ausland arbeiten, werden die Steuern (für die Dauer von bis zu 183 Tagen) und Sozialabgaben (für den maximalen Zeitraum von 18 Monaten) weiterhin im Heimatland abgeführt. In Bezug auf die Mindestarbeitsbedingungen, wie zum Beispiel die Entlohnung oder aber die Höchstarbeitszeiten und den Gesundheitsschutz, gelten die allgemeinverbindlichen Regelungen des Landes, in dem die Tätigkeit vorübergehend ausgeführt wird.
Die Entsendung ist eine besondere Form der mobilen Beschäftigung, da von vorneherein feststeht, dass die Beschäftigten nach einer maximalen Aufenthaltsdauer von 18 Monaten wieder ihrer regulären Tätigkeit im Heimatland nachgehen werden. Im Durchschnitt beträgt die maximale Aufenthaltsdauer sogar weniger als 6 Monate, dementsprechend bleibt der Lebensmittelpunkt der Entsandten im Heimatland und sie sind im Zielland nur vorübergehend für die Dauer des Auftrags untergebracht.
So lautet zumindest die Theorie, die durch die Dienstleistungsfreiheit grenzübergreifend vereinfacht werden sollte. In der Praxis gab es jedoch in der Vergangenheit zahlreiche Umgehungsstrategien, die zur Folge hatten, dass auf Kosten der entsandten Beschäftigten die Entsendung genutzt wurde, um Lohn und Beschäftigungsstandards zu drücken und den Wettbewerb zum Beispiel in der Bau- oder Fleischbranche zu verzerren. Aus diesem Grund wurde im Jahr 2014 eine sogenannte Durchsetzungsrichtlinie zur Entsenderichtlinie verabschiedet (2014/67/EU) um die grenzübergreifende Zusammenarbeit der Kontrollinstanzen zum Schutz vor der entsandten Beschäftigten vor der „Umgehung und dem Missbrauch der geltenden Bestimmungen durch Unternehmen“. Betrachtet man die Zahlen zur Entsendung innerhalb der Europäischen Union ist ein stetiger Anstieg innerhalb der letzten 10 Jahre erkennbar (von ca. 1 Million in 2008 auf 1,8 Millionen in 2018). Deutschland spielt dabei sowohl als Hauptherkunftsland der Entsendungen (insgesamt 22 Prozent aller Entsendungen in 2018) als auch als Hauptzielland der Entsendungen (23 Prozent aller Entsendungen in 2018) eine Schlüsselrolle. Ähnlich wie bei den abhängig Beschäftigten EU-Bürger/-innen entsenden deutsche Firmen ihre Beschäftigten primär in die direkten Nachbarstaaten, während die nach Deutschland entsandten Beschäftigten von Firmen aus ganz Europa kommen.
Die Europäische Union schätzt, dass aktuell etwa 17 Millionen Bürgerinnen und Bürger in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten und dieser Trend weiterhin zunehmen wird. Um die Rechte der Beschäftigten sowie auch der Arbeitgeber grenzübergreifend besser zu schützen und vor allem durchzusetzen, wurde 2019 eine Europäische Arbeitsbehörde eingerichtet. Ihre rechtliche Grundlage ergibt sich aus der Verordnung 2019/1149/EU, mit den konkreten Zielen, Arbeitskräftemobilität und Sozialrechte auf faire, einfache und effektive Weise umzusetzen, die Vorteile des Binnenmarktes für Bürgerinnen und Bürger und Firmen nutzbarer zu machen und nationale Aufsichtsbehörden bei der grenzübergreifenden Durchsetzung von Rechten zu unterstützen. Die Notwendigkeit einer solchen Behörde verdeutlicht gleichzeitig auch die rechtlichen Herausforderungen und Risiken für mobile Beschäftigte innerhalb der Europäischen Union: Länderspezifische Unterschiede im Arbeitsreicht, Sozialrecht und auch in Bezug auf die existierenden Institutionen, die die Rechte von Beschäftigten durchsetzen können, führen zu Unsicherheiten und vergrößern damit auch das Risiko von Missbrauch und Ausbeutung von Arbeitsrechten zu Lasten der mobilen Beschäftigten.
Arbeitskräftemobilität nach Deutschland
Deutschland ist nicht nur das bevölkerungsreichste Land in der Europäische Union, sondern hat auch einen der stärksten und stabilsten Arbeitsmärkte, der von einer langen Konjunkturphase in den 2010er Jahren profitiert hat. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Deutschland absolut gesehen das Hauptzielland der Arbeitsmigration innerhalb der Europäischen Union ist. Der Bedarf an Fachkräften aus dem Ausland ist in den vergangenen Jahren weiter gestiegen, so dass Deutschland in vielen Branchen ausländische Arbeitskräfte benötigt, um wirtschaftlich wachsen zu können.
Seit 2004 hat sich die Anzahl der EU-Bürger/-innen, die pro Jahr auf dem Arbeitsmarkt aktiv sind, fast verdreifacht. Der Großteil der Arbeitskräfte befindet sich in einer abhängigen Beschäftigung, jedoch sind etwa ein Viertel der Beschäftigten in anderen Formen auf dem Arbeitsmarkt aktiv. Die Hauptherkunftsländer der mobilen Beschäftigten unterscheiden sich dabei je nach Beschäftigungsform und Branche.
Betrachtet man zunächst die größte Gruppe der EU-Bürger/-innen, die in Deutschland einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, wird schnell deutlich, dass die größte Gruppe aus den sogenannten EU-15 (ohne Deutschland) Ländern kommt, die bereits vor 2004 Mitglied der EU waren. Dabei ist jedoch auffällig, dass der Großteil dieser Gruppe aus den sogenannten GIPS-Staaten kommt, das heißt Griechenland, Italien, Portugal und Spanien. Während die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus den übrigen Ländern seit 2014 etwa gleichgeblieben ist, ist die Anzahl der Beschäftigten aus den GIPS-Ländern seit der Wirtschaftskrise der 2010er Jahre stetig gestiegen. Der Grund dafür ist, dass diese Länder besonders hart von der Interner Link: Europäischen Schuldenkrise getroffen wurden und vor allem die Jugendarbeitslosigkeit in diesen Ländern sehr hoch ist, so dass viele Bürgerinnen und Bürger aus den GIPS in wirtschaftlich stabilere Länder wie Deutschland, Österreich oder Großbritannien gezogen sind.
An stärksten ist die Gruppe der Beschäftigten aus den sogenannten EU-8 Ländern (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn) gewachsen. Während im sich Jahr 2004 nur etwa 30.000 Beschäftigte in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis befanden, waren es 2019 mehr als 700.000. Ein möglicher Grund dafür ist sicherlich auch die 2004-2011 geltende Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die als Übergangsregelung in einigen Mitgliedstaaten der EU-15 eingeführt wurde, um im Rahmen der sogenannten „EU-Osterweiterungen nach 2004“ einen zu hohen Influx an EU-8 Arbeitskräften zu verhindern und die heimischen Arbeitsmärkte noch vorzubereiten. Diese Option der Arbeitsmarkteinschränkung wurde bei allen Erweiterungen nach 2004 genutzt. Insgesamt 63 Prozent der Beschäftigten aus dieser Gruppe (EU-8) kommen aus Polen. Ähnlich verhält es sich mit Bulgarien und Rumänien, den sogenannten EU2-Ländern. Obwohl sie bereits 2007 der EU beigetreten sind, war für ihre Bürgerinnen und Bürger der Zugang zur sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung für die ersten sieben Jahre eingeschränkt. Seitdem haben sich die Zahlen fast verfünffacht. Hierbei ist es besonders auffällig, dass die Anzahl der Beschäftigten aus Rumänien insgesamt 73 Prozent der EU2 ausmacht. Die Anzahl der rumänischen Beschäftigten ist in den letzten zehn Jahren in Vergleich zu den anderen Herkunftsländern auch am meisten gewachsen und beträgt aktuell 410.000. EU-Bürger arbeiten in der Metall- und Elektroindustrie, im Bau, in der Logistik, sowie im Gastgewerbe.
Europäische Vergleiche bestätigen, dass die Beschäftigungsquote der mobilen EU-Bürger/-innen mindestens der Quote der inländischen Bürger entspricht oder sie in manchen Fällen sogar übersteigt. In Deutschland entsprach die Beschäftigungsquote der derzeitigen EU-28 Bürger im Jahr 2019 etwa 55 Prozent und liegt damit etwa 11 Prozentpunkte unter dem nationalen Durchschnitt. In dieser Statistik entfallen jedoch einige Beschäftigungsformen, die zwar aktiv auf dem Arbeitsmarkt sind, jedoch keine Sozialversicherungsabgaben als abhängig Beschäftigte zahlen.
Geringfügig Beschäftigte
Dazu gehören zum Beispiel diejenigen, die einer ausschließlich geringfügigen Beschäftigung, sogenannten „Minijobs“ nachgehen und damit bis zu einer Lohnhöhe von 450 Euro von der Pflicht, Sozialversicherungsbeiträge und Steuern zu zahlen, befreit sind. Im September 2019 gingen in Deutschland 4,7 Millionen Menschen ausschließlich einer geringfügigen Beschäftigung nach, davon waren etwa 4,08 Millionen Deutsche und die übrigen hatten eine andere Staatsbürgerschaft. Unter ihnen waren knapp die Hälfte 269.000 EU-Bürger.
Während die Zahl der Bürger aus Italien und Griechenland, die einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen, in den letzten 10 Jahren in etwa gleichgeblieben ist, schwanken die Zahlen der geringfügig Beschäftigten aus Polen, Rumänien oder Bulgarien deutlich stärker. Eine mögliche Erklärung für diese Schwankungen könnte sein, dass diese Minijobs häufig als Berufseinstieg oder als Einstieg in den Arbeitsmarkt genutzt werden, um später in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu wechseln.
Aus Arbeitgeberperspektive könnte die hohe Fluktuation auch dafür sprechen, dass das Angebot an geringfügiger Beschäftigung saisonal oder konjunkturell variiert und damit auch die Anzahl der Beschäftigten Jahr für Jahr variiert. Studien haben gezeigt, dass Minijobs genutzt werden, um Arbeitskosten zu senken indem tarifliche und gesetzliche Standards wie Urlaub, Überstundenzahlungen oder Pausen nicht vergütet werden. Der Großteil der EU-Bürger in Minijobs arbeiten in der Landwirtschaft, Gastronomie, Privathaushalten oder aber in der Dienstleistungsbranche. In diesen Branchen werden besonders häufig Arbeitsstandards umgangen.
Selbstständig Beschäftigte
Eine weitere Form der Beschäftigung, die von EU-Bürger/-innen als Alternative zur abhängigen Beschäftigung in Deutschland genutzt wird, ist die selbstständige Tätigkeit basierend aus der Niederlassungsfreiheit. Jede/-r EU-Bürger/-in hat das Recht, in Deutschland ein Gewerbe anzumelden und seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anzubieten. Die Daten belegen hier, dass die Anzahl der Gewerbeanmeldungen seit 2004 nicht nur zugenommen hat, sondern auch die anteilige Anzahl von Anmeldungen von Bürgerinnen und Bürgern aus den EU8 und EU2 Ländern stetig zugenommen hat. Auffällig dabei ist, dass vor allem in der Baubranche, der Abfall- und Abwasserentsorgung sowie auch in der Transportbranche der Ausländeranteil der neu gegründeten Unternehmen besonders hoch ist. Diese Form der Mobilität durch eine Gewerbeanmeldung oder freiberufliche Tätigkeit zählt, solange es sich um Soloselbstständige oder Kleingewerbe handelt, ebenfalls zur Mobilität, da sie mit wenig Kapitalaufwand die Möglichkeit bietet, auf dem deutschen Arbeitsmarkt aktiv zu werden. Gleichzeitig birgt sie auch einige Risiken, wie zum Beispiel die Selbstverpflichtung zur Krankenversicherung und zu Steuerabgaben, die Einhaltung der Gesetze zum Arbeitsschutz und zum Mindestlohn. Nach den EU-Beitritten 2004 und 2007 ist die Anzahl der Gewerbeanmeldungen von Soloselbstständigen aus den EU8 und EU2 kurzzeitig gestiegen, da zwar die Arbeitsnehmerfreizügigkeit temporär eingeschränkt war, nicht aber die Niederlassungsfreiheit. Manche Branchen, wie zum Beispiel die Baubranche oder aber auch die Reinigungsbranche beklagen, dass durch die temporären Einschränkungen im Zugang zur abhängigen Beschäftigung ein paralleler Markt von selbstständigen Bauhelfern und Reinigungskräften entstanden ist, der mangels tariflicher und gesetzlicher Regelungen die Arbeitsstandards in diesen Branchen nachhaltig untergraben wurden.
Seit Mitte der 2010er Jahre werden jährlich mindestens 400.000 Beschäftigte aus dem Ausland nach Deutschland entsandt. Hier sollen sie vorübergehend für Firmen arbeiten , die die Beschäftigten in einem anderen Mitgliedstaat eingestellt haben. Der Einsatz erfolgt dann aber nicht für diese, sondern für ein Unternehmen in Deutschland, wobei für die Anstellung der ausländischen Beschäftigten zusätzlich auch hier ein Werkvertrag besteht. Die genaue Anzahl der entsandten Beschäftigten ist leider nicht bekannt, jedoch gibt es auf EU-Ebene Schätzungen zu den Zahlen basierend auf den sogenannten A1-Formularen. Diese werden im Heimatland der entsendenden Firma für jeden Mitarbeiter und jede Entsendung bei den zuständigen Behörden beantragt und belegen, dass die Beschäftigten für die Dauer der Entsendung Sozialabgaben im Heimatland zahlen werden. Hierbei fällt erneut auf, dass die Hauptherkunftsländer der entsandten Beschäftigten ähnlich wie auch bei der abhängigen Beschäftigung aus den EU-8-Ländern kommen und nur etwa 20 Prozent aus den EU-15. Die Hauptherkunftsländer in der EU-15 sind Österreich, Spanien, Italien und Frankreich. Innerhalb der EU-8 sind die Hauptherkunftsländer Polen, Slowenien und die Slowakei. Hier fällt vor allem der Zuwachs der Entsendungen aus Kroatien seit 2013 besonders auf.
Die geographische Nähe könnte eine mögliche Erklärung für die hohe Anzahl an Entsendungen aus Frankreich, Österreich, Polen, Slowenien und der Slowakei sein. Sie erklärt aber nicht die Entsendung aus den EU-2, Kroatien, Spanien und Italien. Ein alternativer Erklärungsansatz ist hier erneut das Lohngefälle sowie auch die anteilig niedrigeren Sozialabgaben. Zwar gilt der 2017 verabschiedete deutsche Mindestlohn als Untergrenze auch für die entsandten Beschäftigten, jedoch gab es bis zur Überarbeitung der 2020 in allen Mitgliedstaaten umgesetzten Entsenderichtlinie eine Reihe von Schlupflöchern, die durch unklare Definitionen des Entlohnungsbegriffs Umgehungen des Mindestlohns für entsandte Beschäftigte erleichtert haben.
Risiken für Beschäftigte aus dem Ausland
Die Risiken der entsandten Beschäftigten sind im Grundsatz auf alle Formen den mobilen Beschäftigung übertragbar. Das Risiko von Lohnbetrug oder Ausbeutung ist bei mobilen Beschäftigten aus mehreren Gründen größer als bei heimischen Beschäftigten: Erstens, die Arbeitsrechte innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind uneinheitlich. Neben dem offensichtlichen Lohngefälle gibt es Unterschiede in den Sozialversicherungssystemen, den Lohnsystemen (gesetzliche Mindestlöhne, Tarifverträge, Akkordlöhne etc.), den Besteuerungssystemen und den Arbeitsrechten.
Die Verlagerung des Arbeitsortes in ein anderes Land enthält die Notwendigkeit diese Unterschiede genau zu kennen, um sich damit selbst vor Ausbeutung zu schützen. Je mobiler das Arbeitsverhältnis und je kürzer die Aufenthaltsdauer im anderen Mitgliedsland, desto schwieriger und unwahrscheinlicher ist es, dass zum Beispiel Saisonarbeitnehmer/-innen oder entsandte Beschäftigte die Arbeitsrechte in Deutschland genau kennen. Darüber hinaus gibt es eine sprachliche Barriere. Nicht jeder ausgeübte Beruf setzt auch Sprachkenntnisse zur praktischen Durchführung der Arbeit voraus, unabhängig davon, ob es sich um eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, eine Saisonarbeit oder eine Entsendung handelt. Zur sprachlichen Barriere kommt in manchen Branchen noch die soziale Isolation von der Bevölkerung im Aufnahmeland hinzu, wie zum Beispiel in der privaten häuslichen Pflege. Mobile Beschäftigte riskieren, in einem parallelen Arbeitsmarkt ohne direkten Kontakt zu Beschäftigten des aufnehmenden Landes tätig zu sein. Durch Werkverträge, wie sie unter anderem in der Entsendung eingesetzt werden, wird die Kernbelegschaft von den mobilen Beschäftigten isoliert. Das Risiko, nicht von den Arbeitsrechten im Aufnahmeland zu profitieren, sondern zu schlechteren Bedingungen zu arbeiten, ist damit für mobile Beschäftigte viel größer als für einheimische Beschäftigte. Dementsprechend wurden in den aufnehmenden Ländern Informations- und Unterstützungsstellen geschaffen, um mobile Beschäftigte bei der Wahrnehmung ihrer europäischen Rechte zu stärken.
Bettina Wagner ist Arbeitssoziologin und arbeitet am WSI, dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler Stiftung. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Arbeitsmigration in der Europäischen Union, Entsendung und Mobile Beschäftigungsformen in Europa, Europäische Integration und Gewerkschaftsstrukturen in Osteuropa.
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