Modelle der Aufgabenwahrnehmung bei Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende
Der Verabschiedung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Grundsicherung für Arbeitsuchende; SGB II) war eine mehrmonatige politische Auseinandersetzung vorausgegangen, in deren Zentrum unter anderem die Frage stand, ob die Aufgabenwahrnehmung im Rahmen des SGB II der Bundesagentur für Arbeit (BA) oder den Kommunen übertragen werden sollte. Am Ende der Auseinandersetzung einigten sich die politischen Akteure im Vermittlungsausschuss auf einen denkwürdigen Kompromiss. Den Regelfall stellten so genannte Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) dar, in denen Arbeitsagenturen und Kommunen die Grundsicherung gemeinsam umsetzten. Daneben konnten 69 Kreise und kreisfreie Städte, so genannte Optionskommunen oder auch zugelassene kommunale Träger (zkT), zunächst für eine Experimentierphase von 6 Jahren das Gesetz allein umsetzen und dabei alternative Modelle zur Eingliederung von Arbeitsuchenden testen.
Neben den beiden damals gesetzlich definierten Modellen entstand ein drittes: die getrennte Aufgabenwahrnehmung. Hier zahlte die Arbeitsagentur das Arbeitslosengeld II aus und war für die Leistungen zur Integration in Arbeit allein zuständig, während die Kommunen die Kosten der Unterkunft finanzierten und notwendige flankierende soziale Unterstützungsangebote wie Schuldner- oder Suchtberatung organisierten.
Ein wichtiger Bestandteil des Kompromisses war, den Wettbewerb zwischen den Modellen wissenschaftlich evaluieren zu lassen und die Ergebnisse dem Bundestag Ende 2008 vorzulegen. Die Ergebnisse der einzelnen Evaluationsmodule finden sich im Externer Link: Evaluationsbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS). Auf Basis der Evaluationsergebnisse sollte entschieden werden, in wessen Zuständigkeit die Grundsicherung für Arbeitsuchende anschließend geleistet werden soll.
InfoErgebnis der Evalution
Zentrales Ergebnis der Evalution ist, dass Bezieher von Arbeitslosengeld II, die von ARGEn betreut werden, eher den Abgang aus dem Leistungsbezug schaffen bzw. eine bedarfsdeckende Beschäftigung aufnehmen. Optionskommunen haben Stärken bei der Steigerung der langfristigen Beschäftigungsfähigkeit. Die Evaluation machte deutlich, dass der Wettbewerb zwischen den Grundsicherungsstellen zu ganz unterschiedlichen Vorgehensweisen geführt hat. Zugleich zeigen die Ergebnisse, dass bei den Grundsicherungsstellen noch viel für eine bessere Betreuung der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen getan werden kann. Probleme zeigten sich beispielsweise bei der Erbringung sozialintegrativer Leistungen (Sucht- und Drogenberatung, Schuldnerberatung, psychosoziale Betreuung), bei der Betreuung Hilfebedürftiger die zusätzlich Leistungen anderer Träger erhalten (z.B. Jugendliche, Rehabilitanden oder Bezieher von Arbeitslosengeld I und II), bei der Betreuungsintensität, der Betreuungsqualität sowie der Arbeitsvermittlung.
Noch während die Evaluation lief, entschied das Bundesverfassungsgericht am 20. Dezember 2007, dass die ARGE dem Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung widerspreche, "der den zuständigen Verwaltungsträger verpflichtet, seine Aufgaben grundsätzlich durch eigene Verwaltungseinrichtungen wahrzunehmen". Das Gericht gab dem Gesetzgeber bis Ende 2010 Zeit, eine verfassungskonforme Neuregelung auf den Weg zu bringen und dabei "die Erfahrungen der einheitlichen Aufgabenwahrnehmung in den so genannten Optionskommunen des § 6a SGB II und die Ergebnisse der gemäß § 6c SGB II (damalige Fassung) vorgesehenen Wirkungsforschung zu den Auswirkungen der Neuregelung des Sozialgesetzbuchs – Zweites Buch - zu berücksichtigen."
Verworfene Vorschläge
Das Folgejahr sah als ersten Vorschlag ein kooperatives Jobcenter vor; ein Vorschlag des damaligen Staatssekretärs (und heutigen Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit) Detlef Scheele und des damaligen Vorstandsvorsitzenden der BA Frank-Jürgen Weise. Kern des Modells war eine freiwillige Kooperation zwischen Agenturen für Arbeit und Kommunen. In einem Kooperationsausschuss sollte das lokale Arbeitsmarktprogramm festgelegt werden. Dieses Modell, eine stark an die getrennte Aufgabenwahrnehmung angelehnte Variante, fand seitens der Länder keine Zustimmung. Im Herbst 2008 legte das BMAS einen nächsten Entwurf vor und schlug ein "Zentrum für Arbeit und Grundsicherung" (ZAG) vor, das sich deutlich am ARGE-Modell orientierte und eine Änderung des Grundgesetzes vorsah, um die Neukonstruktion verfassungskonform zu gestalten. Im Dezember 2008 schien der Durchbruch geschafft. Das BMAS erzielte eine Übereinstimmung mit den Verhandlungsführern der Länder (den damaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen Jürgen Rüttgers und von Rheinland-Pfalz Kurt Beck) zur Änderung des Grundgesetzes und zur Einrichtung der ZAG. Die CDU-Fraktion lehnte jedoch im März 2009 den Konsens des BMAS mit den Ländern ab. Im weiteren Verlauf der Legislaturperiode wurden keine weiteren Festlegungen beschlossen. Der Koalitionsvertrag der neu gewählten schwarz-gelben Regierung überraschte dann, da er eine getrennte Aufgabenwahrnehmung ohne Verfassungsänderung vorsah: Die bestehenden zugelassenen kommunalen Träger sollten erhalten bleiben, eine Erweiterung dieses Modells war nicht vorgesehen. Gegen die getrennte Aufgabenwahrnehmung votierten allerdings nahezu alle im Feld aktiven Akteure mit Ausnahme der BA-Spitze. Dennoch legte das nun CDU-geführte BMAS im Januar 2010 zwei Referentenentwürfe zur getrennten Aufgabenwahrnehmung sowie zur rein kommunalen Option vor. Nicht zuletzt aufgrund des nun engen zeitlichen Fensters schien der Weg in die getrennte Aufgabenwahrnehmung vorgezeichnet. Dann aber ging der damalige hessische Ministerpräsident Roland Koch auf deutliche Distanz zum Entwurf der neuen Koalition. Daraufhin begann eine interfraktionelle Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Leitung des BMAS zu tagen. Am 24. März 2010 legte die Arbeitsgruppe ein neues Konzept vor. Dieses sah eine Verfassungsänderung zur Beibehaltung der Mischverwaltung in den ARGEn sowie eine moderate Ausweitung der Option vor. Am 1. April 2010 legte das BMAS einen entsprechenden Referentenentwurf vor, der mit einigen noch vorgenommenen Änderungen zur Grundlage des dann beschlossenen Gesetzes wurde (Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende (GrSiWEntG) vom 3.8.2010).
Zum 1.1.2011 sowie zum 1.1.2012 gab es auf Grundlage des Gesetzes einschneidende Änderungen in der Organisation der Grundsicherung. Die Grundsicherung wird seit Anfang 2012 in drei Vierteln aller Städte und Kreise von Arbeitsagenturen und Kommunen gemeinsam in "Gemeinsamen Einrichtungen" (gE, vormals ARGEn) umgesetzt; im anderen Viertel setzen die Kommunen die Grundsicherung alleine um (als so genannte Optionskommunen bzw. zugelassene kommunale Träger (zkT)). Alle Grundsicherungsstellen tragen nunmehr den Namen Jobcenter.
Organisation heute
Was waren die zentralen Aspekte der Neuregelung? Zum einen wurde die Organisationsform der ARGEn durch Änderungen des Grundgesetzes verfassungskonform ausgestaltet (Zulassung der Mischverwaltung; Artikel 91e GG) und die Strukturen der ARGEn (extern und intern) verändert. Die ARGEn sollten der Regelfall der Durchführung im SGB II bleiben und werden seither als "Gemeinsame Einrichtung" (§ 44b SGB II neu) bezeichnet. Als Ausnahme ist die Zulassung von Kommunen zur alleinigen Aufgabenwahrnehmung vorgesehen. Die Zahl der Optionskommunen darf aber ein Viertel aller Aufgabenträger im Bundesgebiet nicht überschreiten. Für die Neuzulassung als Optionskommune mussten höhere Hürden genommen werden als 2004, zugleich wurden auch die Strukturen aller Optionskommunen reformiert. Die getrennte Aufgabenwahrnehmung ist seither nicht mehr zulässig. Die getrennten Aufgabenwahrnehmungen hatten die Wahl, entweder einen Antrag auf Zulassung zur Option zu stellen oder eine einheitliche Aufgabenwahrnehmung von BA und Kommune im Rahmen einer "Gemeinsamen Einrichtung" zu realisieren.