Die ökonomische Theorie der Politik
Die ökonomische Theorie der Politik überträgt Ansätze und Erkenntnisse der ökonomischen Demokratietheorie auf politische Entscheidungsprozesse. Eine Konsequenz dieses Ansatzes ist die Voraussage „politischer Konjunkturzyklen“. Sie werden auf die Wahlzyklen zurückgeführt und auf den Willen von Regierungen, ihre Politik so abzustimmen, dass ihre Wiederwahl wahrscheinlich ist. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt spielt dabei eine große Rolle. Jede Regierung wird viel dafür tun, z.B. durch besondere arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Anstrengungen, um vor den Wahlen die Arbeitsmarktlage so gut wie möglich ausschauen zu lassen.
Danach sind politische Entscheidungen in Form einer integrierten und koordinierten politischen Planung weder möglich noch wünschenswert. Deshalb ist die empirisch vorfindbare Stückwerkpolitik oder allenfalls gemischte Steuerung - bestehend aus fundamentalen Rahmenbedingungen (Ordnungspolitik) und marginalen Veränderungen - eine der repräsentativen Demokratie gemäße Entscheidungsform. Die Veränderungen der fundamentalen Rahmenbedingungen, beispielsweise die Einführung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) im Jahr 1969 oder die Reformen der „Agenda 2010“, sind aus dieser Perspektive äußerst voraussetzungsvoll. In der Regel ist eine solche Wende nur in einer Situation möglich, die im öffentlichen Bewusstsein als Krise wahrgenommenen wird. Das erklärt auch die beliebte Krisenrhetorik der Parteien im Wahlkampf, aus der jedoch selten auf eine objektive und allgemein akzeptierte Krise geschlossen werden darf.
Daher sind kleine Reformschritte wahrscheinlich, die häufig stark von außen – d.h. von zufälligen Ereignissen oder Gelegenheiten wie Impulsen aus anderen Ländern, unerwarteten finanziellen Optionen oder gut organisierbaren Interessengruppen – gesteuert werden. Es ist daher zu erwarten, dass trotz gegebener Wendeversprechen in Wahlkämpfen die Wahrscheinlichkeit eines fundamentalen Kurswechsels in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik gering und die Pfadabhängigkeit hoch ist. Außerdem ist wahrscheinlich, dass die schwer organisierbaren Arbeitslosen und die arbeitsmarktpolitischen Randgruppen auch in der Stückwerkpolitik mit ihren schrittweisen Veränderungen tendenziell die schlechteren Karten haben.
Politische Theorien
Die politische Theorie sieht Politik vor allem als einen Austauschprozess, in dem die Politiker den Wählern Handlungsprogramme zu deren Vorteil anbieten, um für die Umsetzung die Wählermehrheit und damit die Handlungsvollmacht zu erlangen. Die prominenteste Version dieses Ansatzes ist die Parteiendifferenztheorie.
Die Parteiendifferenztheorie besagt im Kern, dass sich die Parteien nach ihren Affinitäten zur Intervention in die Marktwirtschaft gleichsam nach einem „Rechts-links-Schema“ einordnen lassen. Linke Parteien neigen zu wesentlich stärkerer Intervention als rechte Parteien, so dass von ihnen beispielsweise ein weit stärkeres Engagement in aktiver Arbeitsmarktpolitik und eine generösere Haltung gegenüber Lohnersatzleistungen und Sozialleistungen im Allgemeinen zu erwarten ist. Darüber hinaus werden politische Programme bzw. Entscheidungen dem Wahlzyklus entsprechend optimiert. Hier stimmt also die Parteiendifferenztheorie mit der ökonomischen Theorie überein. Die zeitliche Dynamik politischer Entscheidungen ist daher nicht unbedingt sachgemäß, sondern in erster Linie machtgemäß. Die Orientierung der Parteien im Wahlkampf an den Medianwählern („Politik der Mitte“) macht es schließlich trotz Wahlkampfrhetorik wenig wahrscheinlich, dass in der Politik dann tatsächlich fundamentale Veränderungen erfolgen.
Die Vetospielertheorie kann als eine Weiterentwicklung der Parteiendifferenztheorie betrachtet werden. Zum einen bezieht sie weitere Akteure in den politischen Entscheidungsprozess mit ein, und zum anderen verwendet sie Theoreme des rationalen Wahlhandelns („rational choice“), insbesondere die Spieltheorie. Wichtige Entscheidungen setzen oft die Regel der Einstimmigkeit zwischen den entscheidenden Akteuren voraus oder doch wenigstens eine qualifizierte Mehrheit. Ein einziger wichtiger Akteur kann darum wichtige Entscheidungen blockieren (darum Vetospieler). Vetospieler können z. B. das Bundesverfassungsgericht, der Bundesrat oder Spitzenverbände sein, wenn sie (aus formalen oder Machtgründen) in der Lage sind, sich wirkungsvoll und am Ende entscheidend in den Aushandlungsprozess einzuschalten.
So bedeutet beispielsweise die drittelparitätische Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit, dass für ganz grundlegende institutionelle Reformen der Arbeitsverwaltung und de facto auch der Arbeitsmarktpolitik (auch wenn dies nach dem Bedeutungsverlust der Selbstverwaltung durch die Hartz-Reformen nur noch eingeschränkt gilt) Akteure innerhalb der Selbstverwaltung die Rolle des Vetospielers einnehmen können. Oder die Regierung kann grundlegende Reformen nicht angehen, weil sie möglicherweise die Zustimmung des Bundesrats braucht, der eventuell andere politische Mehrheiten als die Bundesregierung aufweist. Ein Beispiel ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Arbeitsgemeinschaften (ARGEn), die seit 2005 für die lokale Umsetzung des SGB II in den meisten Kreisen und kreisfreien Städten zuständig waren. Das Bundesverfassungsgericht hat im Dezember 2007 entschieden, dass die Arbeitsgemeinschaften aus kommunalen Trägern und Bundesagentur für Arbeit verfassungswidrig sind. Daher mussten die gemeinsamen Jobcenter von Bundesagentur für Arbeit und Kommunen grundlegend neu organisiert werden. Ein aktuelles Beispiel ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019, Leistungskürzungen des Arbeitslosengeldes II im Regelfall nur bis maximal 30 Prozent zuzulassen.
Die Spieltheorie setzt strategische und rational handelnde Akteure voraus. Diese Annahme ist bei kollektiven Akteuren wie Parteien, Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden nicht immer selbstverständlich. Denkbar ist, dass diese in bestimmten Fragen gespalten sind und darum von starken Partnern „ausgespielt“ oder „umspielt“ werden können. Konsequenterweise muss deshalb diese Theorie (wie bei der russischen Matrjoschka-Puppe) innerhalb der möglichen kollektiven Vetospieler selber wieder nach möglichen Vetospielern suchen. Darüber hinaus ist die Interessenvermittlung kollektiver Akteure im politischen Entscheidungsprozess komplexer und differenzierter als die mit einfachen Annahmen arbeitende Spieltheorie voraussetzt. Strategien wie Terminzwang, Paketlösungen, kleine Entscheidungszirkel u.a. können die Macht gruppeninterner wie gruppenexterner Vetospieler eingrenzen. Außerdem werden Entscheidungen in einer Form bevorzugt, deren Auswirkungen schwer zu durchschauen sind, um von der Verantwortung negativer Betroffenheit abzulenken. Aus demselben Grund darf schließlich nicht übersehen werden, dass in Erwartung unüberwindbarer Vetospieler bestimmte Entscheidungen schon gar nicht mehr riskiert werden, um eine den Ruf schädigende Niederlage zu vermeiden. Darum werden im Einzelfall sorgfältig die tatsächlichen Interaktionen zwischen Interessenverbänden, Parteien und Regierung zu beachten sein.
Die Theorie der Advokatenkoalitionen sowie die Theorie der Gelegenheitsfenster erweitern die oben abgehandelten Ansätze um Konzepte der Netzwerktheorie, des Lernens und der Kontingenz der Ereignisse. Die Theorie der Advokatenkoalitionen betont vor allem die Bedeutung von fundamentalen Glaubenssystemen, von Situationsdeutungen und „politischen Unternehmern“, die zusammenspielen müssen, damit Politikveränderungen zustande kommen. Glaubenssysteme im Hinblick auf Werte verändern sich kaum und nur langfristig oder unter extremen Bedingungen (externe Schocks); gemeinsame Situationsdeutungen sind Voraussetzung für Kompromissbildungen in Koalitionsverhandlungen, wobei Lernen (oder Informationen) aus Politikwirkungen sowie politische Unternehmerpersönlichkeiten eine entscheidende Rolle spielen.
Die Kontingenztheorie macht schließlich darauf aufmerksam, dass verschiedene Faktoren zusammentreffen müssen, damit wichtige politische Veränderungen zum Zuge kommen. Die besten Ideen oder Programme nützen nichts, wenn die geeignete Konstellation nicht da ist. Damit sich ein „Gelegenheitsfenster“ öffnet, müssen mindestens drei Bedingungen zusammentreffen: Erstens muss ein gehöriger Problemdruck vorhanden sein, etwa hohe und anhaltende Massenarbeitslosigkeit; zweitens muss die gewählte Regierung eine überwältigende Mehrheit oder Unterstützung durch die öffentliche Meinung haben, beispielsweise ein erdrutschartiger Wahlsieg oder ein Skandal der Oppositionspartei und die für eine neue Politik entsprechenden Finanzierungsmittel müssen zur Verfügung stehen; und drittens schließlich muss eine zündende Idee und ein richtiger Begriff dafür vorhanden sein, um verschiedene Interessen oder Ansichten unter einen zu Hut bringen.
Die institutionelle Theorie
Die institutionelle Theorie betrachtet politische Entscheidungen als Resultate von Anreiz- und Restriktionsstrukturen, die von Institutionen bestimmt werden. Institutionen sind formale oder informelle Spielregeln, welche die Interaktion zwischen den (arbeitsmarktpolitischen) Schlüsselakteuren in Bahnen lenken. Sie wirken gleichsam als Filter, die bestimmte Entscheidungen zulassen und andere nicht, aber auch als Motive, die Orientierungen und Ideen lenken. Für die Arbeitsmarktpolitik besonderes relevant ist die fiskalische Kongruenztheorie. Sie hat ihren Ursprung in der Finanzwissenschaft und postuliert, dass Einnahmen- und Ausgabenverantwortung deckungsgleich sein müssen. Fließen direkte oder indirekte Nutzen fiskalischer Aufwendungen dritten Akteuren oder Institutionen zu, die sich an der Finanzierung nicht oder kaum beteiligt haben, schwinden die Anreize zur Aktivierung der Politik. Die betreffenden Akteure werden daher versuchen, sich der finanziellen Beteiligung zu entziehen oder „auf ihre Kosten“ zu kommen.