Der Post-Shoah-Antisemitismus kann sich auf unterschiedliche Weise äußern, etwa in der Relativierung oder Leugnung der Shoah, der Forderung nach einem Schlussstrich unter die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit oder durch eine Umkehr des Täter*innen-Opfer-Verhältnisses. Er lässt sich auch als "Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz" bezeichnen. Auschwitz, im Mai 1940 im Süden Polens errichtet, war das größte und technisch am aufwändigsten betriebene nationalsozialistische Konzentrations- und Vernichtungslager und steht oft stellvertretend für die Schrecken des NS-Terrors. Der Post-Shoah-Antisemitismus ist geprägt von der Abwehr der Auseinandersetzung mit der schuldbelasteten Vergangenheit der nationalsozialistischen Judenverfolgung, weshalb er auch als Schuldabwehr-Antisemitismus bezeichnet wird.
Bei der Relativierung oder Leugnung der Shoah steht die Entlastung der nationalen Identität der Deutschen im Vordergrund. So werden beispielsweise die tatsächlichen Opferzahlen angezweifelt oder die Präzedenzlosigkeit der Shoah infrage gestellt. Um sich bzw. die eigene Familie zu entlasten, neigen einige Menschen dazu, die Rolle ihrer eigenen Familienmitglieder in der Zeit des Nationalsozialismus verzerrt darzustellen. Statt Eltern und Großeltern als Täter*innen zu sehen, werden sie oft als Opfer von Überwachung, Terror, Krieg und Gefangenschaft oder sogar als Widerstandskämpfer*innen beschrieben – auch wenn es dazu keine Hinweise gibt. So gaben in der 2020er MEMO-Studie 67,9 Prozent an, es hätten sich unter ihren Vorfahren während der NS-Zeit keine Täter befunden. 32,2 Prozent gaben an, dass ihre Vorfahren potentiellen Opfern geholfen hätten. Hingegen schätzten die Befragten durchschnittlich, dass nur 15,4 Prozent der deutschen Bevölkerung potentiellen Opfern geholfen hätten – tatsächlich waren es nur 0,16 Prozent.
Ebenfalls schätzten die Befragten, dass über 33 Prozent der deutschen Bevölkerung während der NS-Zeit zu den Opfern zählten. Diese Umkehrung von Täter*innen und Opfer zeigt sich auch in der Gleichsetzung der Shoah-Opfer mit den "deutschen Opfern", etwa mit dem Begriff "Bombenholocaust" – eine Bezeichnung, die etwa auch die NPD-Fraktion 2005 im Sächsischen Landtag zur Beschreibung der Zerstörung Dresdens wählte. Dieser Begriff verharmlost die systematische Vernichtung der Jüdinnen*Juden im Nationalsozialismus, da er diese mit den Opfern der Bombardierung deutscher Städte durch die Alliierten gleichsetzt. Diese Schuldumkehr wird mit dem prägnanten Satz "Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen", der dem israelischen Psychoanalytiker Zvi Rex zugeschrieben wird, auf den Punkt gebracht.
Schließlich zeigt sich der Post-Shoah-Antisemitismus in den sich unermüdlich wiederholenden Forderungen nach einem Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit. Dies meint den Wunsch nach einer Beendigung der gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der Zeit und den Verbrechen des Nationalsozialismus, um sich unbelastet von Erinnerung und Gedenken der Zukunft zuwenden zu können. Dies äußert sich ebenfalls in einer fundamentalen Ablehnung der Erinnerungskultur. All das ignoriert die anhaltende Relevanz der NS-Geschichte für die Gegenwart und die Verantwortung, die daraus für zukünftige Generationen erwächst.
Quelle: Jessica Hoyer, Sozialwissenschaftlerin und Sozialarbeiterin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der OTH Regensburg im Rahmen des bayerischen Forschungsverbunds „ForGeRex“.