Mit dem Begriff des modernen Antisemitismus wird vor allem die Judenfeindschaft beschrieben, die im späten 19. Jahrhundert entstanden ist. Anders als der Interner Link: Antijudaismus im Mittelalter ist diese Form des Antisemitismus nicht mehr religiös begründet. Vielmehr sind hier politische, soziale und weltliche (säkulare) Motive bestimmend. Im späten 17. und im Laufe des 18. Jahrhunderts änderte sich die Stellung der jüdischen Bevölkerung in Mitteleuropa grundlegend. Die Aufklärung und die damit einhergehende Entstehung der modernen bürgerlichen Gesellschaft ebnete einerseits den Weg zur Emanzipation auch für Jüdinnen*Juden und deren allmähliche rechtliche Gleichstellung. Andererseits gingen mit der beginnenden Moderne gesamtgesellschaftlich auch erhebliche wirtschaftliche und kulturelle Unsicherheiten einher. Jüdinnen*Juden wurden und werden bis heute oft als Symbol für die moderne Welt betrachtet und ihnen wird die Schuld für gesellschaftliche Probleme zugeschrieben. Im Zuge der Emanzipation der Jüdinnen*Juden bildete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein völkisch-rassistischer Antisemitismus heraus, der eine angeblich prinzipielle Andersartigkeit und Übermacht der Jüdinnen*Juden betonte. Die zuvor religiös oder ökonomisch begründete "Judenfrage" wurde im Kontext der sich zu dieser Zeit verbreitenden "Rassentheorien" sowie dem damit einhergehenden Sozialdarwinismus aufgegriffen und zur "Rassenfrage" umgedeutet.
Jüdinnen*Juden wurden nicht mehr nur als Angehörige einer Religion angesehen. Stattdessen wurden ihnen bestimmte, vermeintlich objektive, negative biologische Eigenschaften rassistisch zugesprochen. Diese konnten aus Sicht der Antisemit*innen nur durch die Entfernung "des Juden" aus dem "Volkskörper" beseitigt werden. Mit dem 1879 von Wilhelm Marr geprägten Begriff des Antisemitismus wurde somit eine neue Form der Judenfeindschaft begründet. Diese gründete auf rassistischen Vorstellungen und pseudowissenschaftlichen Erklärungen. Dieser rassistische Antisemitismus griff dabei auch auf bestehende antijüdische Motive des Mittelalters zurück. So wurden Jüdinnen*Juden als hinterlistig und verschlagen angesehen. In Darstellungen wurden Jüdinnen*Juden zudem in entmenschlichender Form dargestellt. Während des Nationalsozialismus kulminierte dieser pseudowissenschaftliche Ansatz als "Endlösung der Judenfrage" in der Shoah.
Quelle: Jessica Hoyer, Sozialwissenschaftlerin und Sozialarbeiterin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der OTH Regensburg im Rahmen des bayerischen Forschungsverbunds „ForGeRex“.