I. Einleitung
In der Folge des genozidalen Angriffs der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung am 7. Oktober 2023, der von Jüdinnen:Juden weltweit als Zäsur wahrgenommen wird, sind schockierenderweise, aber nicht eigentlich überraschend, auch die antisemitischen Vorfälle in Deutschland eklatant gestiegen. Neben der Frage adäquater politischer Reaktionen ist seitdem auch der rechtliche Umgang mit Antisemitismus, der als gesamtgesellschaftliches Phänomen eine Gefahr für Jüdinnen:Juden und die demokratische Gesellschaft als solche darstellt, noch einmal verstärkt in den Blick gerückt. Es sind alte und neue Herausforderungen vor denen nun Rechtswissenschaft und -praxis stehen, um einen angemessenen Umgang mit Antisemitismus zu finden. Dabei ist es wenig hilfreich, dass in der Diskussion um Antisemitismus und Recht bisweilen politische und rechtliche Aspekte durcheinandergeraten. Rufe nach Strafverschärfungen ebenso wie das häufige Nicht-Erkennen oder Ausblenden von Antisemitismus verdunkeln die bestehenden Möglichkeiten des Rechts, je nach den Umständen des konkreten Einzelfalls, unter Abwägung verschiedener Grundrechtspositionen, angemessene Antworten zu finden.
II. Antisemitismus – eine deutsche Rechtsgeschichte
An der Terrorherrschaft des Nationalsozialismus und der Shoah, der Interner Link: Vernichtung der europäischen Jüdinnen:Juden, hatte auch die überwiegende Mehrheit deutscher Jurist:innen ihren Anteil. Als Akteur:innen im Justizsystem, in Ministerien und Behörden, innerhalb der Interner Link: NSDAP oder anderen Organisationen oder Institutionen wirkten Jurist:innen an der Verwirklichung des nationalsozialistischen Rechts mit, dass auch die Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen:Juden zur Folge hatte. Mittels „unbegrenzter Auslegung“ von Generalklauseln, der Anwendung nationalsozialistischer Gesetze oder Anordnung und Durchführung behördlicher Maßnahmen waren Jurist:innen Teil des Normen- wie Maßnahmestaates des Nationalsozialismus.
Trotz Entnazifizierungsverfahren und Aufhebung nationalsozialistischer Gesetze Interner Link: durch die Alliierten bestanden nach 1945 personelle wie sachliche Kontinuitäten. Jurist:innen waren oft weiterhin, teilweise lediglich nach kurzen Auszeiten, in früheren oder anderen Positionen tätig. Verschiedene Gesetze behielten ihre Gültigkeit und wurden nicht als spezifisch „nationalsozialistisch“ eingeordnet und aufgehoben. Wissensbestände, insbesondere Ideologien der Ungleichheit, wirkten ebenfalls über den Untergang des Nationalsozialismus hinaus fort. So finden sich auch in den Protokollen des Interner Link: Parlamentarischen Rats, der das Interner Link: Grundgesetz ausarbeitete, rassistische und antiziganistische Aussagen. In weiten Teilen der Bevölkerung waren antisemitische Einstellungen nach wie vor präsent und zeigten sich, nach einer sehr kurzen Zeit der Bestürzung, etwa im Wege öffentlicher antisemitischer Hetze. Eine Interner Link: „Stunde Null“ war bezogen auch auf den Antisemitismus nach 1945 nicht gegeben.
Ebenso wie der Antisemitismus 1945 nicht einfach verschwand, erschien er auch 1933 nicht aus dem Nichts. Vielmehr besteht eine Interner Link: jahrtausendealte Geschichte der Judenfeindschaft, die sich auch aus rechtlicher Perspektive erzählen lässt. Anknüpfungspunkte sind etwa judenfeindliche Gesetze, die Perpetuierung des Antisemitismus durch Recht und Juristen oder der Umgang der Justiz mit Antisemitismus. Dafür drei Beispiele: Jahrhundertelang unterfielen Jüdinnen:Juden spezifischen Gesetzen, waren abhängig von sogenannten Privilegien, und erhielten erst etwa in Preußen durch das Interner Link: Emanzipationsedikt von 1812 weitergehende Rechte. Erst deutlich Interner Link: später wurden Jüdinnen:Juden ihre vollständigen Bürgerrechte, die volle Gleichberechtigung zugestanden.
Ein Beispiel für Antijudaismus in der Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert ist Carl Friedrich von Savigny, der sich in seiner wissenschaftlichen wie politischen Karriere immer wieder judenfeindlich hervortat. So setzte er sich etwa gegen die Berufung seines jüdischen Rechtswissenschaftlers Eduard Gans ein und schrieb und wirkte gegen die Gleichberechtigung von Jüdinnen:Juden.
Im Hinblick auf den justiziellen Umgang zeigt das Beispiel der Weimarer Republik , in der sich für Jüdinnen:Juden nach der zuvor erfolgten rechtlichen Gleichstellung auch die gesellschaftliche Gleichberechtigung verwirklichte, dass gewichtige Probleme mit Antisemitismus bestanden. So wurden etwa Jüdinnen:Juden im Rahmen des § 130 Reichsstrafgesetzbuch, der Aufreizung zum Klassenhass, statt als „Klasse“ als „Rasse“ eingeordnet und damit aus dem Tatbestand dividiert. In einer Entscheidung des Reichsgerichts wiederum wurde für die Auslegung der Beschimpfung der Weimarer Republik als „Judenrepublik“ folgende, problematische Deutung herangezogen: gemeint sein könne auch „die übermäßige Macht und der übermäßige Einfluss, den die im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung kleine Anzahl der Juden nach Ansicht weiter Volkskreise in Deutschland tatsächlich ausübt“.
Diese Rechtsgeschichte(n) des Antisemitismus samt ihrer Folgen, die Zusammenhänge von Antisemitismus und Recht, insbesondere auch die personellen wie sachlichen Kontinuitäten nach 1945 wurden in der deutschen Rechtswissenschaft und -praxis lange Zeit ausgeblendet. So verwundert es nicht, dass die Auseinandersetzung mit Antisemitismus ebenso wie in der Gesamtgesellschaft nur begrenzt erfolgte. Insoweit lassen sich Rechtswissenschaft und - praxis als Spiegel der Gesellschaft bezeichnen, was auch für die rechtliche Befassung bzw. den Umgang mit Antisemitismus vor Gerichten der Bundesrepublik gilt.
III. Antisemitismus vor Gericht: Probleme und Herausforderungen
Während sich rechtswissenschaftliche Forschung in anderen Bereichen bereits seit Jahrzehnten vielfach für einen interdisziplinären Austausch geöffnet hat, fehlt es bis heute an einer Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Antisemitismusforschung fast gänzlich. Erst seit wenigen Jahren entstehen vereinzelt erste Ansätze einer interdisziplinären Auseinandersetzung mit Antisemitismus und dessen justizieller Behandlung. Anstoß dafür war insbesondere der Interner Link: Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Dieser versuchte mehrfache Mord an Jüdinnen:Juden führte der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft kurzzeitig die Gegenwärtigkeit von Antisemitismus vor Augen und mündete in der Aufnahme der „antisemitischen Beweggründe“ in die Strafzumessungsregelung des Strafgesetzbuches. Ebenso führten die Ereignisse rund um die Kunstausstellung Interner Link: documenta fifteen in Kassel im Sommer 2022 innerhalb des juristischen Diskurses zu einer verstärkten Präsenz der Thematik. Unter anderem das Banner „People‘s Justice“ von Taring Padi hatte mit seinen antisemitischen Darstellungen für heftige Kritik an den Organisator:innen und Kurator:innen gesorgt und eine Debatte über Reichweite und Grenzen staatlicher Kunstförderung und Antisemitismus angestoßen.
Dass darüber hinaus eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Antisemitismus zuvor bis auf wenige Ausnahmen kaum erfolgt war, zeigt sich an ganz unterschiedlichen Stellen des rechtlichen Diskurses. Dieser ist vorwiegend geprägt von einer nicht-jüdischen Dominanzperspektive, die von einer Reduzierung des Antisemitismus auf NS-Ideologie sowie der Ausblendung jüdische Perspektiven geprägt ist (1). Dadurch wird nicht nur der Interner Link: Antisemitismus nach Auschwitz, der sich aufgrund sozialer Sanktionierung regelmäßig in „Ersatz- bzw. Umwegkommunikation“ artikuliert, häufig nicht erkannt und ausgeblendet (2). Vielmehr wird darüber hinaus die Reproduktion antisemitischer Ressentiments normalisiert (3).
1. Rechtlicher Antisemitismusdiskurs „vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte“
Zentrale Auswirkung der fehlenden Auseinandersetzung mit Antisemitismus in Rechtswissenschaft und -praxis ist die Verortung von Judenhass allein in der Vergangenheit, oder konkret: in der NS-Zeit – und damit das überwiegende Ausblenden gegenwärtigen Erscheinungsformen des Antisemitismus. So basiert eine Vielzahl fachgerichtlicher und staatsanwaltschaftlicher Entscheidungen auf einem sehr engen Verständnis von Antisemitismus, das in der Regel auf die nationalsozialistische Rassenideologie (nazistischer Antisemitismus) und insbesondere die Verherrlichung des Holocausts reduziert ist.
Exemplarisch dafür heißt es etwa in einer Entscheidung des Landgerichts München I aus dem Jahr 2014, dass im Begriff Antisemit zum Ausdruck komme, dass diejenige Person „die Überzeugung“ teile, „die zur Ermordung von 6 Millionen Juden unter der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft geführt hat.“ Auch in anderen Entscheidungen lassen sich wortgleiche oder ähnliche Formulierungen wiederfinden. Dabei ist es „die deutsche Geschichte“, die den justiziellen Diskurs in besonderer Weise prägt: Der „Begriff ‚Antisemit‘“, so das Landgericht Regensburg, könne „in Deutschland nicht ohne Bezug zur Deutschen Geschichte verstanden werden.“ Und in der Tat kann Antisemitismus heute nicht ohne „die deutsche Geschichte“ und damit den Nationalsozialismus und die Shoah gedacht werden. Denn es ist die industrielle Massenermordung der europäischen Jüdinnen:Juden durch die Nationalsozialist:innen, die die eliminatorische Konsequenz „der Muster des Antisemitismus überhaupt“ verdeutlicht – und damit auch die Gefahr, die von Judenfeindschaft in seiner letzten Konsequenz ausgeht. Im juristischen Diskurs ist die Verknüpfung von Antisemitismus und Holocaust jedoch häufig eine andere: Eine selbstentlastende, keine selbstkritische. Sie wird argumentativ gerade nicht verwendet, um die Gefährlichkeit von Judenfeindschaft in der Gegenwart hervorzuheben, sondern um Antisemitismus lediglich in der Vergangenheit zu verorten. Auf diese Weise wird das angesprochene Narrativ der „Stunde Null“ reproduziert, wonach es nach 1945, abgesehen von offenkundigen Neo-Nazi-Gruppierungen, keine Antisemit:innen in Deutschland mehr gebe. Antisemitismus nach der Shoah wird so zu einem „Antisemitismus ohne Antisemiten“. Er ist gleichzeitig aber auch ein Antisemitismus ohne Jüdinnen:Juden, da jegliche jüdische Erfahrungen mit alltagsprägendem Antisemitismus ausgeblendet werden.
Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus und Recht wiederum zeigen, dass Antisemitismus als alltagsprägende Erfahrung auch unterhalb etwa der Strafbarkeitsgrenze „diskriminierend, exkludierend und verletzend, aber auch bedrohlich auf die Betroffenen“ wirkt. Erfahrungen mit Polizei, Staatsanwaltschaften und vor Gericht verdeutlichen auch, dass Jüdinnen:Juden vom Nicht-Erkennen, Relativieren oder ausbleibender Ahndung antisemitischer Handlungen oft enttäuscht sind. Sie artikulieren deshalb teilweise ein begrenztes Vertrauen in das Recht bzw. die Justiz. Dies führt u.a. zu einer relativ geringen Anzeigebereitschaft – nicht nur wegen der geringen Erfolgsaussichten, sondern auch aufgrund der erfahrenen psychischen Belastungen sowie potentiellen sekundären Viktimisierungen. In qualitativen Interviews wird daher eine konsequente Rechtsanwendung sowie die Fortbildung von Jurist:innen gefordert, damit Antisemitismus in seiner Vielschichtigkeit und in all seinen Erscheinungsformen erkannt werden kann.
2. Die Ausblendung von postnazistischem Antisemitismus
Aufgrund dieser dominanten Perspektive und der Reduzierung des Antisemitismus auf NS-Ideologie werden in einer Vielzahl von Entscheidungen gegenwärtige Erscheinungsformen von Judenfeindschaft häufig nicht als solche erkannt und benannt. Ein bekanntes Beispiel in diesem Zusammenhang ist das Urteil des Amtsgerichts Wuppertal, das in einem Brandanschlag auf eine Synagoge während des Gaza-Konflikts 2014 keine antisemitische Motivlage erkannte, da „möglicherweise auch tatsächlich eine rein politische Motivation [...] Grund für die Tatbegehung“ gewesen sei. Es sei „keineswegs fernliegend“, so das Gericht, dass der Anschlag dazu dienen sollte, „Aufmerksamkeit auf den zwischen Israel und den Palästinensern lodernden Konflikt zu lenken.“ Unerwähnt blieb dagegen die grundlegende Symbolik und Bedeutung eines Anschlags auf eine Synagoge: Jüdinnen:Juden werden allein aufgrund ihres Jüdischseins angegriffen und für Israel in Haftung genommen. Ähnlich wurde von der Staatsanwaltschaft Karlsruhe im Jahr 2020 argumentiert, die in der Wahlplakatierung „Zionismus stoppen: Israel ist unser Unglück! Schluss damit!“ eine bloße Kritik am Staat Israel und damit eine straflose Deutungsmöglichkeit erkannte.
Diese Beobachtungen gelten selbstverständlich nicht ausnahmslos und sind teilweise regional bzw. nach Gerichten unterschiedlich. Ebenso zeigt die justizielle Auseinandersetzung seit dem 7. Oktober 2023 – wie noch an anderer Stelle umfassend zu untersuchen sein wird – aufgrund des enormen Anstiegs antisemitischer Vorfälle Veränderungen im Hinblick auf das Erkennen von Antisemitismus. Dies mag allerdings, wie sich im öffentlichen Diskurs beobachten lässt, auch an der Externalisierungsmöglichkeit eines „Antisemitismus der Anderen“ liegen, wonach Interner Link: aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft Antisemitismus häufig bei „den Anderen“ – derzeit mehrheitlich Muslim:innen – verortet wird.
3. Die Normalisierung judenfeindlicher Ressentiments
Dieses fehlende Wissen ebenso wie die nicht-jüdische Perspektive haben nicht nur zur Folge, dass die Thematisierung antisemitischer Ressentiments fernab von Holocaustleugnung und - verharmlosung durch das enge Antisemitismusverständnis der Justiz ausgeschlossen wird. Vielmehr werden dadurch auch gegenwärtige Erscheinungsformen von Antisemitismus normalisiert. So hat eine Diskursanalyse von gerichtlichen Verfahren in Unterlassungsklagen gegen antisemitismuskritische Äußerungen gezeigt, dass der Vorwurf des Antisemitismus „aufgrund der deutschen Geschichte“ in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle als schwerwiegender angesehen wird als der kritisierte Antisemitismus selbst.
Eines der diesbezüglich bekanntesten Fälle der letzten Jahre war der Rechtsstreit des Sängers Xavier Naidoo. Naidoo, der in seinen Songs unter anderem von den „Jungs von der Keinherzbank, die mit unserer Kohle zocken“, „Baron Totschild“ und dem „Schmock is’n Fuchs“ singt und wiederholt antisemitische Verschwörungsmythen verbreitete, hatte im Wege einer zivilrechtlichen Unterlassungsklage gegen die ihm entgegengetretene Antisemitismuskritik geklagt. Konkret ging es um die Äußerung einer Referentin der Amadeu Antonio Stiftung, die den Sänger im Rahmen einer Veranstaltung zum Thema Reichsbürger auf Rückfragen aus dem Publikum als Antisemiten bezeichnet hatte. Obwohl sowohl das Ausgangs- als auch das Berufungsgericht betonten, „dass ein offener Diskurs über verdeckte antisemitische Tendenzen in der heutigen Gesellschaft gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte wichtig“ sei, kamen beide Instanzen zu dem Ergebnis, dass die Meinungsäußerungsfreiheit der Referentin hinter dem Persönlichkeitsrecht des Sängers zurückzutreten habe. Begründet wurde diese Entscheidung mit der besonderen Schwere des Antisemitismusvorwurfs. Denn „einer Geisteshaltung beschuldigt zu werden“, die die „‘weltanschauliche Grundlage‘ für den von Deutschen begangenen Völkermord an Juden“ war, sei „gerade in Deutschland [...] in besonderem Maße ehrenrührig“, so das Berufungsgericht.
Die Folge dieser Entscheidung, die keinen Einzelfall darstellt, ist, dass Kritik an antisemitischen Äußerungen gerichtlich untersagt wird, wodurch gleichzeitig judenfeindliche Aussagen normalisiert und gerichtlich ebenso wie diskursiv unangreifbar werden.
IV. Antisemitismuskritische Perspektiven und die Möglichkeiten sowie Grenzen des Rechts
1. Stetige „Gegenwartsbewältigung“
Diese Wissensleerstellen im rechtswissenschaftlichen und -praktischen Diskurs werden sich nicht mit Antisemitismus-Definitionen oder Strafverschärfungen allein führen oder beenden lassen. Nur durch die Anerkennung als Daueraufgabe sowie stetige „Gegenwartsbewältigung“ und durch tiefergehende Beschäftigung mit dieser Ideologie der Ungleichheit, deren Geschichte, Funktionsweisen und Erscheinungsformen, wird dem Antisemitismus rechtlich angemessen beizukommen sein. Für eine solche kontinuierliche Auseinandersetzung bedarf es einer interdisziplinären Öffnung der Rechtswissenschaft für Erkenntnisse aus der Antisemitismusforschung, unter Einbeziehung der Betroffenenperspektive, ebenso wie das Bewusstsein und damit die kritische Reflexion der nicht-jüdischen Dominanzposition, aus der Recht in der Mehrzahl der Fälle geschrieben und gesprochen wird.
2. Übersetzung antisemitismuskritischen Wissens ins Recht
Selbstverständlich können weder interdisziplinäres Wissen noch jüdische Perspektiven spiegelbildlich in den rechtlichen Diskurs übertragen werden. Es ist gerade die Übersetzung dieser in die dogmatischen Strukturen des Rechts, die den justiziellen Umgang mit Antisemitismus in besonderer Weise herausfordert. Denn aufgrund unterschiedlicher Logiken beider Systeme verläuft dieser Übersetzungsprozess selten reibungslos. Es ist diese Zusammenführung von antisemitismuskritischem Wissen und Rechtsdogmatik als noch anstehende Aufgabe einer antisemitismuskritischen Rechtswissenschaft, die durchaus auch die Grenzen des Rechts im Umgang mit Antisemitismus verdeutlicht. Denn die binäre Logik des Rechts, die zwischen rechtmäßig und rechtswidrig nur begrenzt Raum für Ambivalenzen lässt, kann antisemitische Ressentiments – aus guten Gründen – nicht gänzlich komplementieren. Jede Äußerung, ungeachtet der Frage, ob sie als Meinung unter den Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG fällt, ist dem Ressentiment prinzipiell offen, aber eben nicht in jedem Fall rechtlich sanktionierbar.
3. Spannungsverhältnis Freiheit und Gleichheit
Folglich kann und darf es im rechtlichen Umgang mit Antisemitismus keine „großen Lösungen“ geben. Auch die Verfassung steht solchen vermeintlich einfachen Antworten entgegen. Der verfassungsrechtliche Rahmen sieht vielmehr eine herausfordernde und unbequeme Lösung vor, die von Spannungen, Widersprüchen und Ambiguitäten geprägt ist. Denn einerseits wohnt dem Grundgesetz, das auch als „Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes“ zu verstehen ist, ein Anti-Antisemitismus als normative Grundaussage inne, der an verschiedenen Stellen der Verfassung zum Ausdruck kommt. So ergibt sich insbesondere, aber nicht nur aus Interner Link: Art. 3 III GG die Pflicht des Staats, Menschen etwa vor Diskriminierung und Benachteiligung, folglich also auch Jüdinnen:Juden vor Antisemitismus zu schützen. Gleichzeitig jedoch baut die freiheitlich demokratische Verfassungsordnung darauf auf, dass die ihr zugrundeliegenden Werte weder befolgt werden müssen noch „mit Rechtszwang garantiert“ werden können. Die Gesinnung jedes Einzelnen darf damit niemals dem Zugriff des Staates unterliegen. Dieses Spanungsverhältnis zwischen der Achtung der Freiheitsrechte einerseits und dem aus Art. 3 III GG hervorgehenden Schutz von Jüdinnen:Juden und dem Kampf gegen Antisemitismus andererseits, das den „freiheitliche[n] Skandal der grundgesetzlichen Ordnung“ darstellt, bildet die Grundlage für den rechtlichen Umgang mit Judenfeindschaft. Um diesem verfassungsrechtlichen Rahmen gerecht zu werden, darf es weder ein Ausblenden von Antisemitismus geben, noch dürfen die Rechte von Jüdinnen:Juden vergessen werden. Vielmehr müssen die widerstreitenden Positionen in jedem Einzelfall und auf der Basis eines fundierten antisemitismuskritischen Wissens miteinander abgewogen und in Ausgleich gebracht werden.
4. Potential Antidiskriminierungsrecht
Wenn das zentrale Anliegen des Antidiskriminierungsrechts darin liegt, die „Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Demokratie“ herbeizuführen, gilt dies auch für und den Umgang mit Antisemitismus. Die Wertungen des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbots aus Art. 3 III GG sowie dessen einfachrechtliche Konkretisierungen – etwa im Interner Link: Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) oder im Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) –, bieten über das oben genannte Spannungsverhältnis hinaus das Potential, antisemitismuskritisches Wissen, inklusive der strukturellen Ebene des Antisemitismus, sowie Betroffenenperspektiven konstruktiv zu vereinen und zum Schutz von Jüdinnen:Juden in den jeweiligen Anwendungsbereichen einzusetzen. Das gilt auch für den Diskurs und das „demokratische Versprechen von ‚gleicher Freiheit‘“.
Im Übrigen unterliegen die in Art. 3 III S. 1 GG genannten Kategorie(sierunge)n keiner Hierarchisierung. Vielmehr erfasst das darin enthaltene Diskriminierungsverbot Antisemitismus und Rassismus, ebenso wie alle anderen Diskriminierungsformen und Ideologien der Ungleichheit, gleichrangig und fordert damit den Weg einer vereinten Kritik, die gleichwohl Gemeinsamkeiten wie Unterschiede dieser berücksichtigt. Eine antidiskriminierungsrechtliche Perspektive oder konkret das Antidiskriminierungsrecht bietet Jüdinnen:Juden letztlich eine weitere starke Möglichkeit der rechtlichen Klage, zu artikulieren: „J'accuse!“.