In den letzten Jahren hat das Konzept der Intersektionalität einen beispiellosen Aufschwung erlebt und wurde neben der klassischen Trias race, class, gender auf eine Vielzahl von Diskriminierungsformen angewandt, sei es Behindertenfeindlichkeit, Altersdiskriminierung oder Ausgrenzung aufgrund von Religionszugehörigkeit. Der Grundgedanke von Intersektionalität ist, Diskriminierungs-, Unterdrückungs- und Herrschaftsformen nicht isoliert voneinander, sondern in einer gegenseitigen Verschränkung und Durchdringung zu sehen (vgl. Combahee River Collective [1978]2014; Crenshaw 1989).
Seit den 2010er Jahren ist im intersektionalen Paradigma ein Schwenk von einer strukturanalytischen hin zu einer identitätspolitischen Perspektive zu beobachten. Dies hat einschneidende Auswirkungen auf die Analyse und Kritik von Herrschaft und Diskriminierung. Denn während die strukturanalytische Perspektive Herrschaft als überpersonelle und anonyme gesellschaftliche Struktur versteht, personalisiert eine identitätspolitische Perspektive Herrschaft und Diskriminierung weitgehend als Unterdrückung einer Gruppe durch eine andere. Wie Christine Achinger (2022, 77) kritisiert, "geht es vielen intersektionalen Ansätzen nicht in erster Linie um die Frage nach den Verbindungen zwischen verschiedenen Formen von Feinderklärung und Diskriminierung am Ort ihrer Entstehung, einer spezifischen Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, sondern um ihre Beziehung gewissermaßen am Ort des Einschlags, in ihren Auswirkungen auf Individuen, die von mehreren solchen Zuschreibungen betroffen sind." Diese Herangehensweise begünstigt geradewegs Hierarchien von Viktimisierung und führt derart zu einer Verengung von Herrschaftskritik auf eine Kritik von Privilegien. Im Gegensatz zum strukturanalytischen Zugang ist im identitätspolitischen ein "Überschuss an Subjektivismus" (Marz 2022, 335) gelegen, demgegenüber die Kritik an objektiven und strukturellen Bedingungen, unter denen Diskriminierung stattfindet, in den Hintergrund tritt.
Zudem ist auffällig, dass in identitätspolitisch ausgerichteten intersektionalen Analysen der globale Antisemitismus nur selten diskutiert wird. Solcher Ausschluss geht nicht selten mit einem ideologischen
Die intersektionale Kategorie race
Zum Teil resultieren solche Ausschlüsse aus blankem Antisemitismus der Akteur:innen, missverstanden oder gar maskiert als Opposition zu
Sowohl der koloniale als auch der Apartheid-Rassismus beruhen auf der hierarchischen Konstruktion von vermeintlich überlegenen und minderwertigen "Rassen" – ein Verhältnis, in dem sich Rassist:innen als Vertreter:innen der Zivilisation sehen, während sie rassifizierte Menschen für primitiv und zurückgeblieben halten. Im Rassismus legitimiert sich derart die (Über)Ausbeutung rassifizierter Menschen: ein minderwertiger Status und ökonomische Ausbeutung hängen im Rassismus untrennbar miteinander zusammen (Marz 2022; Schmitt-Egner 1976). In dieser Ideologie spielen
Dass die Komplexität des Antisemitismus im intersektionalen Feminismus immer wieder übersehen wird, hängt damit zusammen, dass Antisemitismus als eine Form des Rassismus aufgefasst wird, die zwar historisch von Bedeutung war, in den gegenwärtigen globalen Machtverhältnissen jedoch kaum noch Relevanz hätte. Grund für diese Fehleinschätzung ist, dass Rassismus auf die herrschaftliche Dichotomie von Weiß und Schwarz reduziert wird. Der Schwarze US-amerikanische Soziologe W.E.B. Du Bois (1868-1963) hatte Anfang des 20. Jahrhunderts die Color Line als die zentrale Konfliktlinie des 20. Jahrhunderts ausgemacht (Du Bois 2022). Zwar schrieb er nach seinem fünfmonatigen Aufenthalt in Nazi-Deutschland 1936 mit Blick auf die Verfolgung der Juden:Jüdinnen, sie übertreffe "an rachsüchtiger Grausamkeit und öffentlicher Herabwürdigung alles, was ich je erlebt habe" – doch für viele Vertreter:innen des Postkolonialismus galt die Color Line fortan als die zentrale Konfliktlinie. Was für die historische Situation in den USA durchaus Sinn macht, ist weder auf den Nationalsozialismus noch auf die postnazistischen Gesellschaften spiegelbildlich anwendbar. Denn der Antisemitismus, auch wo er rassistisch operiert, läuft nicht entlang der Color Line, sondern folgt eigenen Konstruktionsprinzipien, die Juden:Jüdinnen nicht so sehr als eine fremde "Rasse" unter anderen markieren, sondern als "Gegenrasse" schlechthin. Im
Die intersektionale Kategorie gender
Zu den Schwierigkeiten, Antisemitismus in den Intersektionalitätsrahmen adäquat zu analysieren, trägt auch bei, dass der Antisemitismus nicht nur im Hinblick auf die Kategorie race ambivalent ist, sondern auch hinsichtlich anderer für Intersektionalität zentrale Kategorien: etwa die Kategorie Geschlecht. Das Besondere am Antisemitismus ist, dass er Juden:Jüdinnen als umfassend nicht zuordenbar behandelt und sie jenseits von Identitätskategorien ansiedelt. So wurde ihnen schon im 19. Jahrhundert unterstellt, die klar gezogenen Grenzen zwischen den Geschlechtern zu verwischen, die eindeutige Geschlechterbinarität nach männlich-weiblich aufzulösen, sowie die Geschlechterrollen und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung umzukehren. Auch die Frauenemanzipation wurde im Antisemitismus seit ihrem Beginn als jüdische Intrige gedeutet, deren Ziel es sei, die Einheit des Volkes von innen her zu zersetzen (Mosse 1985, Volkov 2001). Diese Zuschreibung ist noch heute von Bedeutung, etwa für das Geschlechterapartheidsystem des iranischen Regimes. Der oberste geistliche Führer des Iran, Ali Khamenei, sieht in der "Versachlichung von Frauen" in der westlichen Welt und in "Konzepten wie gender justice" eine "zionistische Machenschaft zur Zerstörung der menschlichen Gemeinschaft".
Über gegensätzliche politische Lager hinweg wurde Jüdinnen:Juden traditionell unterstellt, dass sie die als natürlich aufgefassten Geschlechterverhältnisse auf den Kopf stellen und eine Zwischenstellung in Bezug auf die Geschlechterbinarität und heteronormative Sexualität einnehmen würden (Gilman 1994). Auch deshalb gelten sie bis heute als künstlich und unauthentisch. Das Verdikt der Künstlichkeit lässt sich schließlich auch beim
Die intersektionale Kategorie class
Auch in Bezug auf die dritte Kategorie im klassischen Intersektionalitätsschema – Klasse – ist der Antisemitismus uneindeutig. Er identifiziert Juden:Jüdinnen mit der vermittelnden ökonomischen Zirkulationssphäre, d.h. mit Handel, Bank- und Geldgeschäften. Diese zugeschriebene ökonomische Zwischenposition lässt ihre Klassenlage mehrdeutig und unklar erscheinen: Schon im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert traf sie als Bourgeois das Klischee, dass ihnen als "Finanzjongleuren" vorgeblich echtes und aufrichtiges Unternehmertum fehle – sie repräsentierten so nur die negativen Auswirkungen des
Aufgrund dieses antikategorialen Charakters des Antisemitismus ist er durch dominante intersektionale Ansätze, die von der Interdependenz stabiler Kategorien wie race, class, gender ausgehen, kaum zu fassen. Der Antisemitismus zeichnet Jüdinnen:Juden als umfassend nicht zugehörig zu jedweden Identitätskriterien, die in der Theorie der Intersektionalität zentral sind. Jüdinnen:Juden repräsentieren eine Art Anti-Identität und damit die Gefahr der Auflösung von Identität überhaupt. Deshalb gehen intersektionale Identitätspolitiken am Antisemitismus vorbei.
Plädoyer für eine intersektionale Ideologiekritik
Angesichts des schwierigen Verhältnisses von Antisemitismus und Intersektionalität verwerfen viele Intersektionalität heute als in erster Linie antizionistischen politischen Slogan. Im Gegensatz dazu plädiere ich für eine kritische Rückgewinnung des Ansatzes für eine intersektionale Ideologiekritik, die ihren Ausgang beim Antisemitismus nimmt. Ein neues Verständnis von Intersektionalität soll nicht nur die Fallstricke in Bezug auf Antisemitismus vermeiden, sondern Intersektionalität zu einem Instrument der Analyse und Kritik von Antisemitismus selbst machen. Denn die Struktur des Antisemitismus ist intersektional. In dieser Einschätzung folge ich der frühen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, die Ideologien als miteinander verbunden erkannt hat. In den breit angelegten empirischen Studien Authoritarian Personality – durchgeführt in den 1940er Jahren in den USA mit dem Ziel, das autoritär-faschistische Potenzial in der amerikanischen Bevölkerung zu untersuchen – wurde das erst in den 1970er Jahren formulierte Intersektionalitätskonzept auf gewisse Weise vorweggenommen: Die Studien kamen zu dem Schluss, dass sich Ideologien innerhalb eines breiteren Rahmens entwickeln – dem autoritär-antidemokratischen ideologischen Einstellungssyndrom, in dem sie sich überlagern, gegenseitig verstärken und eine spezifische Mischform annehmen, aus der sie ihre zähe und flexible Wirksamkeit beziehen. Dieser bahnbrechenden Erkenntnis folgend sind Ideologien in der Tat intersektional: Sie durchdringen und verstärken sich gegenseitig und reformulieren und reaktivieren sich in diesem Prozess beständig neu.
Vor diesem Hintergrund lassen sich folgende Fragen stellen: Wie operiert Antisemitismus mit sexistischen, rassistischen und nationalistischen Momenten? Wie schimmern antisemitische Motive im
Als Beispiel für eine intersektionale Ideologiekritik, die für ein angemessenes Verständnis von Antisemitismus hilfreich ist, sei auf die
In der öffentlichen Kritik an diesem Wandbild und der sich daran anschließenden Debatte fiel auf, wie wenig in der Kritik des Bildes auf den Sexismus eingegangen wurde, der in dem Bild ebenfalls wirksam ist: Neben der antisemitischen Figur erscheint eine böse, sexuell verschlingende Frau, barbusig, mit lüstern heraushängender Zunge, halb Tier halb Mensch, mit vollem Einkaufswagen. Das Bild zeigt die zentrale Bedeutung von Sexualitätsregimen für den Antisemitismus: Eine auf Lust ausgerichtete Sexualität, eine freie Sexualität, gilt als böse und abscheulich, als verhurt und unrettbar mit Geld und Konsum verbunden. Die lüsterne Frau kann hier also als Partnerin des Juden als Blutsauger und Verführer gedeutet werden. "Geldjude" und die "sexuelle Frau" – beide Figuren stehen für dekadente Gier und naturentfremdete Lüsternheit.
Antisemitismus funktioniert also nicht nur über eindeutig antisemitische Bilder, sondern über das gesamte Imaginäre der lustvollen Sexualität, des Konsumismus, der Modernität und der Emanzipation, die in dieser Ideologie alle heimlich von den Juden kontrolliert und gesteuert werden. Um dies zu erkennen, ist es notwendig, Antisemitismus auch im Zusammenhang mit Antifeminismus und Sexismus zu sehen, also eine intersektionale Sicht auf Ideologien zu entwickeln.
Sodann wird deutlich, dass der Antisemitismus eine selbst durch und durch intersektionale Ideologie ist: er integriert und operiert durch Momente, die an sich nicht antisemitisch erscheinen mögen, sondern antifeministisch, sexistisch, homophob, rassistisch oder nationalistisch. Obendrein spiegelt er Klassenverhältnisse in absolut verzerrter Weise wider und maskiert sich zuweilen als Kritik am Kapitalismus und/oder Imperialismus – sichtbar an der Personalisierung von kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen in der Figur des jüdischen Finanzkapitalisten oder israelischen Imperialisten. Der Antisemitismus drückt damit eine gesamte Weltsicht aus und fungiert als umfassende Welterklärung. Das macht ihn zu einer integrierenden Ideologie, die quer durch entgegengesetzte politische Lager wirkt: Bei Rechtsextremen und Islamist:innen ebenso wie bei Antiimperialist:innen oder queeren Feminist:innen.
Es ist dringend notwendig, auf diese ideologischen Überschneidungen hinweisen, um den aktuellen Trend der Fragmentierung, Entsolidarisierung und des repressiven Partikularismus entgegenzuwirken. Darin unterscheidet sich eine intersektionale Ideologiekritik deutlich vom heute gängigen Verständnis von Intersektionalität, sofern es zuvorderst auf die Anerkennung von kulturellen und religiösen Identitäten abstellt und in der Konsequenz zu selektiver Empathie und restriktiver Identitätspolitik führt. Intersektionale Ideologiekritik dagegen setzt am Antisemitismus an und öffnet die Perspektive auf das kritische Potenzial von Intersektionalität für die Analyse größerer Zusammenhänge, die in unserer Gesellschaft wirken. Sie gibt so einen Rahmen, der erkennt, wie Ideologien und Ungleichheiten miteinander verwoben sind. Eine intersektionale Analyse von Ideologien kann auch die Praxis der Koalitionsbildung voranbringen, so dass