Das Thema Antisemitismus in Großbritannien fasste der 2020 verstorbene britische einstige Oberrabbiner Jonathan Sacks 2018 mit folgenden Worten zusammen: "Großbritannien war vor der Vertreibung seiner jüdischen Bürger Weltführer des Antisemitismus." Seit der Rückkehr jüdischer Menschen nach Großbritannien im 17. Jahrhundert sei das Land jedoch "Weltführer in der Toleranz geworden", glaubte Sacks.
Die Krise in der Labourpartei
Zur gleichen Zeit, als der ehemalige Oberrabbiner diese Worte äußerte, erfuhr der Antisemitismus unter Großbritanniens von Jeremy Corbyn geführten Arbeiterpartei, der Interner Link: Labour Party, große Aufmerksamkeit. Zum ersten Mal in der Geschichte des jüdischen Dachverbands Jewish Board of Deputies (BoD) versammelte sich dieser gemeinsam mit Vertreter:innen des britisch-jüdischen Lebens vor dem britischen Parlament, um unter dem Motto "Es reicht!" gegen den Antisemitismus Labours zu protestieren.
Fälle des Antisemitismus haben sich in Großbritannien zwischen 2012 und 2020 verdoppelt und in den letzten drei Jahren fast verdreifacht. Der jüngste Bericht des Externer Link: Antisemitic Incidents Report 2021 zeigt, dass im Jahr 2021 landesweit 2.255 antijüdische Hassvorfälle gemeldet wurden. Dies ist die höchste jährliche Gesamtzahl, die vom Community Security Trust (CST) je verzeichnet wurde, und stellt einen Anstieg um 34 Prozent gegenüber dem Vorjahr an. Darüber hinaus ist es das erste Mal, dass CST mehr als 2.000 Vorfälle in einem einzigen Jahr registriert hat.
2018 erwägten 44 Prozent jüdischer Brit:nnen auszuwandern, sollte Corbyn Premierminister werden. Ihm wurde von vielen antisemitisches Verhalten vorgeworfen, etwa weil es ihm scheinbar nicht aufgefallen war, dass ein Graffiti, welches er verteidigte, antisemitisch war. Manche hielten die Anschuldigungen gegen ihn für falsch oder beschuldigten sogar „Juden und Zionisten gegen Labour zu sein“, was Antisemitismusexperte David Hirsh als Opferbeschuldigung bezeichnete. Ähnlich war es beim ehemaligen Londoner Bürgermeister Ken Livingstone, als er 2016 behauptete, Zionist:innen hätten mit den Nationalsozialisten kollaboriert. Jüdische Unterhausabgeordnete Labours wie Luciana Berger sahen sich bald gezwungen, aus der Partei auszutreten. Die Labour-Abgeordnete Ruth Smeeth verzeichnete im Sommer 2016 rund 25.000 antisemitische Posts in den sozialen Medien, darunter auch Morddrohungen. Zur gleichen Zeit kam es zu Angriffen auf jüdische Student:innen.
Diese Vorfälle und Entwicklungen waren das Ergebnis ungebändigter Kritik gegenüber Israel, die schnell antisemitische Untertöne annahm und jüdische Menschen per se angriff. Laut dem Historiker Dave Rich haben sich seit der Interner Link: Suezkrise 1956 ein britischer antikolonialer Aktivismus mit einem Interner Link: sowjetischen Antisemitismus sowie ein arabischer Interner Link: Anti-Zionismus mit dem Kampf gegen Interner Link: Apartheid vermischt. Juden waren schon kurz nach der Shoah nicht mehr Opfer, sondern europäische koloniale Unterdrücker:innen. Interner Link: Die Vertreibung von Juden aus den arabischen Ländern und der Holocaust wurden dabei ignoriert. In den 1970er und 1980er Jahren artete dies auch in Großbritannien in antizionistischen Bewegungen vor allen unter Student:innen an Universitäten aus, parallel zur 1975 von der UN verabschiedeten Resolution, dass Zionismus Rassismus sei. Einer der ersten war die Student:innenvertretung an der University of Salford, die jüdischen Student:innen das Abhalten einer Israel-Woche untersagte und sich dem Vergleich zwischen Zionismus und Rassismus verschrieb. Im März 1977 konnte gleiches an mindestens 17 Universitäten beobachtet werden. In einer Reaktion der Nationalen Studenten Vereinigung (NUS) wurden diese Trends, hinter denen unter anderen die marxistische britische Bewegung Socialist Workers Party stand, mit Sorge beobachtet: „Es führte zur Verwehrung der demokratischen Rechte einiger jüdischer Student:innen.“ Im gleichen Jahr sandte NUS ihre Vertrer:innen auf eine Bildungsreise in den Mittleren Osten mit Aufenthalten im Libanon und Israel, darunter auch zahlreiche palästinensische Vertreter:innen. Es führte zu einer höheren Toleranz jüdischer Student:innenvertretungen, bis sich 1985 eine zweite Welle ausbreitete.
Die Politiker:innen Corbyn, Livingstone, Jenny Tonge, David Ward und andere Figuren des linken oder sozialistischen Rands der Labourpartei bzw. der Liberaldemokrat:innen äußerten sich beständig gegen Israel und Zionismus – worunter sich immer wieder auch ein unterschwelliger oder offener Antisemitismus mischte. Anzumerken ist dabei, dass nicht alle Politiker:innen links des Zentrums diese Meinungen vertraten. Eine wichtige Ausnahme ist beispielsweise der ehemalige Labour-Politiker Tony Benn. Er verteidigte beständig das Recht von jüdischen Menschen auf einen eigenen Staat, selbst wenn er in Interviews mit gegenteiligen Argumenten konfrontiert wurde. Weitverbreitete Boykottaufrufe zu Israel ergriffen dann ab den späten 1990er Jahren Gewerkschaften und britische Künstler:innen wie Ken Loach und Roger Waters.
Das Jahr 2015 brachte Corbyn schließlich an das Parteiruder und mit ihm auch einige jener, die antisemitische Ansichten hegten. Zwischen 2015 und 2020 gab es beständig Berichte über Antisemitismus in der Partei. Trotz anfänglichem Enthusiasmus für Corbyn, wurde er nie Premierminister.
Im Oktober 2020 hatte die britische Gleichberechtigungs- und Menschenrechtsstelle (EHRC) offiziell Antisemitismus in der Partei festgestellt. Die EHRC unterstrich, dass die von ihr identifizierten Fälle nur die Spitze eines Eisberges darstellten.
Eine britische Studie zum Thema gab an, dass unter linken Gruppen Antisemitismus zunehmend von Rassismus aus dem Diskurs gedrängt worden sei. Externer Link: Rassismus galt zunehmend als Vergehen gegen andere Minderheiten und gegen schwarze Menschen. War es nichts anderes als Rassismus in antisemitischer Form, als etwa 2021 eine Autokarawane durch jüdische Gegenden Londons zog und durch Lautsprecher die Vergewaltigung jüdischer Frauen neben der Befreiung Palästinas forderte?
Antisemitismus im englischen Mittelalter
Jüdinnen und Juden siedelten sich ab 1066 in England an. Einer der ersten bekannten Fälle von Anschuldigungen gegenüber Juden gab es im Jahr 1144, als sie für den Tod des Jungen William aus der Stadt Norwich verantwortlich gemacht wurden: angeblich hätten sie ihn nach dem Synagogendienst am zweiten Tag des Pessachfests geopfert. Derartige Fälle von Anschuldigungen des Ritualmordes wiederholten sich danach vielerorts.
Nach der Krönung Richard I am 3.9.1189 kam es in London zu Aufständen gegen Juden, nachdem ihre Anwesenheit aus Furcht vor Hexerei untersagt war. In Bury St Edmunds kamen am Palmsonntag 1190 auf ähnliche Weise 57 jüdische Menschen um. 1190 folgte schließlich in York eines der grausamsten Blutbäder: zu dieser Zeit kam es in ganz England wiederholt zu Übergriffen und Angriffen auf Juden, woraufhin sich die jüdische Gemeinde von York verzweifelt in einem Burggebäude verschanzte, welches daraufhin von einem Mob und Truppen belagert wurde. Rund 150 Menschen kamen ums Leben, viele, weil sie am Ende den Suizid wählten, um nicht von der sie umringenden Meute ermordet zu werden oder vom Glauben ablassen zu müssen.
1218 wurde Juden zum ersten Mal in der Geschichte vorgeschrieben ein Judenabzeichen zu tragen. Als 1244 in London die Leiche eines christlichen Jungen gefunden wurde, hieß es, die Schnittwunden am Körper entsprächen hebräischen Buchstaben. Aufgrund dieses Ritualmordvorwurfs wurde die jüdische Gemeinde mit einer horrenden Geldstrafe bestraft.
Im Jahre 1255 wiederum wurde nach einer großen jüdischen Hochzeitsfeier in Lincoln am folgenden Tage ein Junge, "Hugh", tot aufgefunden. Wieder wurden Juden des Ritualmords bezichtigt, ein Jude wurde hierfür gehängt, rund hundert Juden nach London überführt. Bibelgeschichten wie die Kreuzigung Jesu, die Geschichte Abrahams und Isaaks und Judas vermischten sich zu dem antisemitischen Vorurteil, dass Juden, „die nicht an Jesus glaubten,“ Kinder kreuzigen wollten.
Als sich ab 1258 oppositionelle Kräfte gegen Henry III formierten und in der Folge im Jahr 1264 der Zweite Krieg der Barone (englisch: Second Barons’ War, 1264-1267) ausbrach, wurden wieder Juden ermordet, und Hunderte kamen in pogromartigen Aufständen ums Leben.
Auch nach dem Tod von Henry III (1272) besserte sich die Lage der Juden unter dem Nachfolgekönig Eduard I nicht, sie blieben weiterhin Opfer von Ausgrenzungen, Verfolgungen und Ermordungen. 1290 ordnete Edward I dann über ein königliches Dekret die Verbannung aller jüdischen Bewohner:innen Englands an. Damit wurde Großbritannien das erste europäische Land, das seine jüdische Bevölkerung auswies.
Antisemitismus ohne Juden
Mehr als 350 Jahre war Großbritannien nahezu ohne jüdische Bevölkerung. Doch der Antisemitismus blieb. Das sich verfestigende Stereotyp wurde zum Bild des Juden schlechthin.
Der Dichter William Langland beschrieb in seiner Erzählung Piers Plowman (spätes 14. Jahrhundert) in einer Szene der Kreuzigung Christus Juden als von Gott verfluchte Geldleiher. Alle Juden seien verräterischer Natur, so wie Judas. In den Canterbury Tales ließ Autor Geoffrey Chaucer in Prioress’s Tale (ca. 1387-1400) die Legende Williams aus Norwich wiedererwecken, der 1144 das angebliche Opfer eines jüdischen Ritualmordes gewesen sein soll. 1491 wiederholte das Cruxton Play of The Sacrament das Motiv der geldgierigen, Jesus verspottenden Juden.
Dass die Gestalt des "verräterischen Juden" am Ende nicht gewinnen kann, war auch 1596 das Motiv bei William Shakespeare in der Gestalt Shylocks im Kaufmann von Venedig. Shylock wurde als rachsüchtiger und Christen hassender Geldleiher beschrieben, teuflisch wie ein Hund, der, obwohl Mann, aufgrund seiner "jüdischen Natur" menstruiere.
Und auch im Jahr 1656, als der Amsterdamer Rabbiner Menasseh ben Israel versuchte, sich für das Recht jüdischer Menschen einzusetzen, sich in England wieder niederlassen zu dürfen, herrschte immer noch die allgegenwärtige Ansicht, dass Juden Kinder zum Schaden Jesu aufopfern würden. Erst nach langem Zögern und böswilligen Gerüchten, "die Juden wollten die St. Pauls Kathedrale kaufen und sie in eine Synagoge verwandeln", oder dass christliche Geistliche durch die jüdischen Neuankömmlinge gefährdet seien beschnitten zu werden, gestattete Oliver Cromwell – seinerzeit Lordprotektor von England, Schottland und Irland – 1656 jüdischen Menschen wieder, sich in England niederlassen und ihre Religion frei ausüben zu dürfen.
Alter Hass in neuer Form
Trotz des Bleiberechts waren viele Berufe und öffentliche Stellen jüdischen Menschen bis 1890 untersagt. Der spätere Premierminister Benjamin Disraeli wurde zwar bereits 1837 Unterhausabgeordneter, allerdings war er getauft. Ungeachtet dessen wurde er mit Bemerkungen wie "er solle auf einen Esel zurück nach Jerusalem, wo er herkäme" verspottet.
In der Literatur bediente Charles Dickens mit Fagin in Oliver Twist (1838) abermals alte antisemitische Vorurteile, indem er Fagin als geldgierigen, im Dreck des Slums lebenden Juden beschrieb, der Kinder ausbeutet. Auch Gedichte von T. S. Elliot deuten auf antisemitische Darstellungen von Juden hin, wie im Gedicht Gerontion (1920) die Figur Bleisteins und des jüdischen Slumkönigs.
Keir Hardie, Gründer der Labourpartei, schob, so wie andere, um die Jahrhundertwende die Schuld des südafrikanischen Interner Link: Zweiten Burenkriegs (1899-1902) auf eine geheime jüdische imperialistische Verschwörung.
Als um dieselbe Zeit herum rund 100.000 jüdische Einwanderer:innen auf der Flucht vor Pogromen und Hungersnöten aus Osteuropa in Großbritannien eintrafen, dauerte es nicht lange, bis ihre Präsenz problematisiert wurde. Bereits 1901 formierte sich die gegen Einwanderung gerichtete Gruppe British Brothers League. Joseph Banister, der Gründer der späteren antisemitischen Gruppe The Britons, bezeichnete Juden 1901 als "Krankheitserreger und Geldschweine". 1905 kam es schließlich zum ersten britischen Gesetz gegen Einwanderung.
Indes, die Feindseligkeiten gegenüber jüdischen Menschen wollten nicht enden. In Wales kam es am 19.8.1911 in Tredegar (und in den darauffolgenden Tagen auch in anderen Städten) zu Aufständen gegen die dortige jüdische Bevölkerung, bei der über 20 jüdische Geschäfte geplündert wurden. Auch der Versuch zahlreicher Menschen, die in der osteuropäisch-jüdischen Immigrationswelle nach England gekommen waren, dem Wehrdienst im ersten Weltkrieg zu entgehen, führte 1917 zu Aufständen, u.a. in London, wo ein wütender Mob von rund 5.000 Personen in jüdischen Geschäften und Häusern randalierte.
Dass der Interner Link: Bolschewismus eine jüdische Bewegung sei, war nach dem Ersten Weltkrieg ein durchaus verbreitetes Vorurteil. The Britons forderte deswegen sogar die völlige Aussiedlung aller Juden nach Palästina. Ebenfalls versuchten sie mit der englischen Übersetzung der Interner Link: "Protokolle der Weisen von Zion" den Glauben an eine jüdische Weltverschwörung zu verbreiten. Bei einem Gerichtsfall gegen die Verleumdung Alfred Monds, einem Industriellen und Politiker deutsch-jüdischer Abstammung, nutzten die Angeklagten H.M. Fraser und Henry H. Beamish (Mitbegründer von The Britons 1919 und dessen Präsident bis zu seinem Tod 1948) Argumente aus der gleichen Rassenlehre, die später in Deutschland wüten sollte. Den aus dem Blackwood’s Edinburgh Magazine stammenden Satz "Jewry ueber Alles" machten The Britons 1920 zum titelgebenden Namen eines ihrer Magazine.
Als die britische Regierung einem zukünftigen jüdischen Heimatstaat in Palästina zustimmte, glaubten Außenminister Interner Link: Arthur Balfour und Premierminister Lloyd George, dass Juden "unermessliche Kräfte" innehätten und ihre Unterstützung des Zionismus britischen Interessen im Krieg gegen Deutschland helfen würde.
In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen machten sich vor allen Interner Link: Oswald Mosley und die British Union of Fascists (BUF) einen Namen. Mosley hatte 1936 versucht, mit 6.000-7.000 Anhänger:innen durch das von jüdischen Menschen dominierte East End zu marschieren, um dann in der Externer Link: "Schlacht um Cable Street" von dreimal so vielen Antifaschist:innen zurückgeschlagen zu werden. Noch vernarrter als Mosley war Arnold Leese, der 1929 die Imperial Fascist League (IFL) gegründet hatte und Juden nicht nur des regelmäßigen Ritualmords beschuldigte, sondern sie als "geldgierige, parasitische Rasse bezeichnete, die in ihrer Natur sadistisch sei, wie die Beschneidung von Jungen und das Schächten beweise und welche die britische Demokratie ausnutzen, um so an die Macht zu geraten." Leese erwägte die Ermordung von Juden, "idealerweise auf humane Weise in Gaskammern," oder deren Deportierung und permanente Internierung auf Madagaskar.
Anders als im Rest des Europas der Nachkriegszeit tolerierten die britischen Regierungen der Nachkriegsjahre Faschismus "im Interesse der britischen Tradition der Liberalität und uneingeschränkten Meinungsfreiheit." Mosley versuchte so bereits 1944 einen Neustart. Anstatt staatlicher Kräfte waren es nun selbstorganisierte antifaschistische und jüdische Gruppen, die gegen ihn und andere wie Andrew Fountaine (National Front (NF), British National Party - Spearhead), Arthur K. Chesterton (BUF, NF) oder Colin Jordan, mit seiner dem Dritten Reich nacheifernden nationalsozialistischen Bewegung, vorgingen. Die Aufmerksamkeit und Feindschaft all dieser Personen und Gruppen ging allerdings allmählich von jüdischen Menschen auf die Einwander:innen aus den Commonwealth Staaten über. Zu den jüdischen Gruppen, die sich gegen die Faschist:innen wehrten, zählten etwa die 43 Group (1946-1950) und die spätere 62 Group (ca. 1962-1975), die vor allem aus britisch-jüdischen Veteran:innen, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt hatten, bestanden und es nicht fassen konnten, dass nun der Faschismus weiter in Großbritannien toleriert wurde. Einige der genannten Rechtsextremen wirkten noch ihr ganzes Leben in diesem Sinne weiter: so wurde Colin Jordan (gest. 2009) noch in den Jahren 1991, 1999 und selbst im Jahr 2001 verhaftet und vor Gericht geführt.
Antisemitische Wellen der Gegenwart
Ab den 1990er Jahren wurde in Großbritannien zunehmend eine neue Form des Antisemitismus in Gestalt militant-islamistischer Gruppen sichtbar, darunterInterner Link: Hizb ut-Tahrir und ihr Nachfolger Al Muhajieroun. Beispielsweise wetterte ein britischer Verlag, Azzan-Publication, in einem Aufruf zu einer Demonstration im Jahr 2000 "gegen die US-Regierung, welche von Zionisten kontrolliert werde, und gegen die jüdisch dominierte Presse, die gegen Muslime vorurteilsbehaftet sei." Noch im selben Jahr kam es zu einem Mordversuch gegen einen jüdischen Mann im ultraor-thodoxen Londoner Viertel Stamford Hill. Angriffe dieser Art gibt es in den letzten Jahren zuhauf. Und auch auf Demonstrationen sind mit dem Erstarken des Islamismus und Dschihadismus wiederholt antisemitische Banner und Aufrufe gegen Juden zu sehen und hören. Ein ebenfalls etwas bekannterer Fall: Abdullah el-Faisal, ein zum Islam konvertierter und in Großbritannien aktiver, fundamentalistisch-islamischer Hassprediger, wurde 2003 für Aufrufe zu Mord und rassistischer Hetze gegen jüdische, hinduistische und amerikanische Menschen verurteilt. Eine 2017 herausgegebene Studie des Institute for Jewish Policy Research ergab, dass die Wahrscheinlichkeit antisemitischer und anti-israelischer Haltungen in der britisch-muslimischen Bevölkerung zwei bis viermal höher lag, als unter der nicht muslimischen. Generell hätten 30 Prozent aller Brit:innen eine oder mehrere antisemitische Ansichten gehabt.
Zu den Nebendarstellern des Antisemitismus in Großbritannien in den letzten 25 Jahren gehört auch Nick Griffin, ehemaliger Parteiführer der British National Party (BNP) und ehemaliges NF-Mitglied. 1997 schuf er eine Liste vermeintlich "jüdischer Drahtzieher", die seiner Meinung nach Großbritannien kontrollierten, ganz nach traditionellen antisemitischen Verschwörungstheorien. Ein antisemitisches Eigenleben im britischen Fußball haben auch Feindseligkeiten zwischen den Tottenham Hotspurs und anderen Fußballklubs: Tottenham Fans bezeichnen sich selbst aufgrund der Nähe zum orthodoxen jüdischen Viertel Londons als Yids, was oft von anderen Klubs wie Chelsea antisemitisch ausgeschlachtet wird. Mittlerweile bat gar der Verein im Februar 2022 seine Fans nach einer Umfrage den Gebrauch des Wortes Yids zu beenden. Von Rechts kam es in den letzten Jahren nur zu verhältnißmäßig wenigen, gegen jüdische Menschen gerichtete Vorfälle. In einigen Fällen vermischten sich polnische Rechtsradikale mit britischen. Und dennoch: wenn wie 2021 in britischen Medien vor unmittelbar bevorstehenden rechtsradikalen Terrorakten gewarnt wird, ist stets auch von einer Gefahr für jüdische Menschen und Einrichtungen auszugehen. Und Rechtsextremismus bleibt eine akute Gefahr: so wurde beispielsweise 2021 ein 16-jähriger Jugendlicher als der jüngste Terrorist und Leiter einer Neonazigruppe zu einer 36-Monatigen Jugendstrafe verurteilt. Er hatte seine Aktivitäten im Alter von nur 13 Jahren begonnen. Dieser und andere Vorfälle – wie ein verurteilter rechtsradikaler Streamer und ein wegen Terrorismus zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilter 24-Jähriger, der über das Soziale Medien-Portal Telegram mit Gleichgesinnten verknüpft war – zeigen deutlich die Rolle des Internets und von Messengerdiensten auf. Eine Studie der die britische Regierung beratenden Commission to Counter Terrorism (Antiterroris-mus-Kommission) gab an, dass während der Coronavirus-Pandemie der Hass gegen alle möglichen Gruppen anstieg, darunter auch der antisemitische Hass. So wurden Verschwörungstheorien verbreitet, dass jüdische Menschen Hauptverbreiter der Seuche gewesen seien. Auch hier waren das Internet und Chat-Apps elementar zu Verbreitung.
Dass der einstige Oberrabbiner Jonathan Sacks – wie eingangs erwähnt – Großbritannien trotz dieser jüngsten Entwicklungen für eines der tolerantesten Länder hielt (auch wenn er noch 2003 vor einem Tsunami des Antisemitismus warnte), liegt an der Tatsache, dass das Land von der Shoah verschont geblieben ist und heute die jüdische Bevölkerung Großbritanniens die zweitgrößte in Europa ist. Garantien zum Schutz dieser Bevölkerung werden regelmäßig von allen britischen Regierungen gegeben. Das Bewusstsein über Antisemitismus in Großbritannien scheint allmählich zu steigen. 2021 kündigte die anglikanische Kirche Church of England an, sie wolle sich für den von der Kirche mitpropagierten Antisemitismus im Mittelalter entschuldigen.