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Historischer Kontext des Dokumentarfilms "Mohamed und Anna"

Oliver Plessow

/ 7 Minuten zu lesen

Wie war der allgemeine historische Kontext, in der die Geschichte Mod Helmys und Anna Boros' stattfand? Und wie sah die spezifische Situation von Anna Boros' Familie nach Kriegsbeginn aus?

Ein Film über die Geschichte einer Rettung

Im Mittelpunkt des Dokumentarfilms "Mohamed und Anna" der israelischen Regisseurin Taliya Finkel aus dem Jahr 2017 steht die Geschichte der Rettung des jüdischen Mädchens Anna Boros und ihrer Familie durch den muslimischen Arzt Mohamed "Mod" Helmy vor der nationalsozialistischen Verfolgung.

Helmy, der 1901 in Khartum geborene Sohn eines hohen ägyptischen Offiziers, kam 1922 zum Medizinstudium nach Berlin, das für den Rest seines Lebens zu seiner Heimat wurde. Nach dem Examen erhielt er 1930 eine Stellung an einem renommierten Krankenhaus in Moabit, in dem am Ende der Weimarer Republik vorwiegend jüdische Ärzte arbeiteten. Während fast alle jüdischen Kollegen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme entlassen und einige sogar misshandelt wurden, konnte Helmy sein Leben zunächst weitgehend unbehelligt fortsetzen. In der Klinikhierarchie stieg er sogar auf – zu dieser Zeit folgte das Deutsche Reich einer betont araber- und islamfreundlichen Politik. Da er dem NS-Regime jedoch abschätzig gegenüberstand, geriet er mehrfach in Schwierigkeiten. Zudem war er wegen seiner dunkleren Hautfarbe immer wieder Diskriminierungen ausgesetzt.

Nachdem seine Anstellung in der Klinik 1937 nicht mehr verlängert worden war, praktizierte Helmy privat. Er gehörte zu den wenigen Ärzten, die noch jüdische Patientinnen und Patienten behandelten. Dies brachte ihn in Kontakt zur Familie der Gemüsegroßhändlerin Cecilie Rudnik, ihrer Tochter Julie Wehr und ihrer 1925 im rumänischen Arad geborenen Enkeltochter Anna Boros.

Ab Ende der 1930er Jahre verschlechterte sich die Situation für die jüdische Bevölkerung weiter, spätestens ab Ende 1941 schwebten Juden in ständiger Lebensgefahr. Mod Helmy wollte Hilfe leisten, doch war er zwischenzeitlich selbst ins Visier der deutschen Behörden geraten. Das britisch dominierte Ägypten stand an der Seite der Kriegsgegner, und für einige Monate wurde Helmy mit einer Gruppe namhafter Ägypter gefangen gehalten. Erst im Mai 1940 erhielt er im Zuge einer Kehrtwende in der Ägyptenpolitik des Reichs seine Freiheit zurück. Fortan mimte er den überzeugten Unterstützer des Nationalsozialismus und konnte sogar seine Arbeit als Arzt wieder aufnehmen.

Als Cecilie Rudnik im Frühjahr 1942 die Deportation drohte, verschaffte Helmy ihr ein Versteck. Kurz danach half er auch deren Enkelin Anna Boros unterzutauchen. Für die 16-Jährige ersann er einen wagemutigen Plan: Er gab sie als seine Nichte "Nadja" aus. Trotz bzw. wegen dieser Legende kam es zu manch gefährlicher Situation; einmal mussten "Dr. Helmy" und "Nadja" sogar ins Reichssicherheitshauptamt, um dort den vom Deutschen Reich protegierten Großmufti von Jerusalem und sein Gefolge zu behandeln. Diese brenzlige Situation überstanden sie, doch anderes misslang: Zum Schein trat Anna Boros im Sommer 1943 zum Islam über, jedoch wurde die anschließende Scheinheirat, die zum Erwerb der ägyptischen Staatsbürgerschaft hätte führen können, vom Standesamt nicht anerkannt.

Gegen Kriegsende spitzte sich die Situation zu. Die Gestapo kam ihnen auf die Spur, und dies nicht zuletzt, weil Annas Mutter das Geheimnis nicht für sich behalten konnte. Listig gab Helmy gegenüber den Behörden vor, Anna Boros habe ihn getäuscht und sich ihm gegenüber fälschlich als seine Nichte ausgegeben. Während er die Interner Link: Gestapo auf eine falsche Fährte lockte, versteckte er seinen Schützling in einer Laube, wo es der inzwischen 19-Jährigen gelang, bis zum Einmarsch der Roten Armee auszuharren.

Eine Geschichte wie Millionen andere? Anna Boros‘ Rettung im Kontext der nationalsozialistischen Judenverfolgung

Die Akten vermerken den 10. März 1942 als den Tag, an dem Anna Boros in den Untergrund ging. Warum spitzte sich die Lage genau in diesen Wochen und Monaten so zu? Eine Antwort auf diese Frage verlangt, sich die Verhältnisse in ganz Europa vor Augen zu führen und zugleich die Besonderheit der Situation in Berlin zu würdigen. Denn die Nationalsozialisten setzten ihre todbringende Politik den Juden gegenüber – und nicht nur ihnen, wird parallel etwa das Schicksal der Sinti und Roma betrachtet – in Zeit und Raum unterschiedlich um.

Im Frühjahr 1942 hatte die Judenverfolgung den vorläufigen Höhepunkt einer beinahe schon ein Jahrzehnt währenden Entwicklung erreicht. Im Deutschen Reich war das NS-Regime bereits 1933 unmittelbar nach der Machtübernahme mit Beamtenentlassungen und Geschäftsboykotten gegen die jüdische Bevölkerung vorgegangen. Schritt für Schritt wurden Juden in den Folgejahren weiter entrechtet, enteignet und drangsaliert. Innerhalb dieses Prozesses bilden die Interner Link: Nürnberger Rassegesetze von 1935 und die Novemberpogrome 1938 zwei markante Vorgänge, die heute in jedem Schulbuch erwähnt werden. In diesen Jahren war es den Verfolgten noch möglich gewesen, das Reich zu verlassen. Allerdings zeigten sich die anderen Staaten nur äußert begrenzt bereit, die Flüchtenden aufzunehmen.

Der Interner Link: Beginn des Krieges 1939 und der anfängliche Siegeszug der Achsenmächte brachten eine neue Situation hervor: Millionen von Juden gerieten in den Machtbereich der Nationalsozialisten. Welcher Form von Verfolgung sie ausgesetzt waren, hing davon ab, wann der Krieg ein Land überzog und wie sich die politische Lage im Anschluss daran gestaltete: 1938/39, noch vor Kriegsbeginn, hatte sich das Reich Österreich und das Gebiet des heutigen Tschechien einverleibt, 1939 war Polen erobert worden, 1940 standen deutsche Truppen in Nord- und West-, 1941 in Südosteuropa. Wo die nationalsozialistische Führung den besetzten Ländern eigene Regierungen beließ, erwartete sie beim immer rigoroseren Vorgehen gegen die Juden eine gefügige Zusammenarbeit.

In den 1939 besetzten Teilen Polens sollte die nicht-jüdische Bevölkerung brutal dezimiert und die jüdische ausgelöscht werden. Als Anna Boros 1942 in den Untergrund ging, hungerten und verhungerten bereits seit Monaten hunderttausende Juden in den ab 1940 eingerichteten Ghettos. Tausende waren schon den Mordaktionen der ersten Kriegsmonate zum Opfer gefallen.

Der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 markiert den Beginn der Hauptphase des Holocaust, der planmäßigen Massenvernichtung der Juden. Unmittelbar hinter der "Ostfront" brachten vier von der Wehrmacht unterstützte "Einsatzgruppen" den hunderttausendfachen Tod. Gleichzeitig wurden die in den besetzten Teilen Osteuropas errichteten Ghettos zum Ziel der ersten Deportationen aus dem Deutschen Reich.

Am Interner Link: 20. Januar 1942 trafen sich führende Vertreter von SS, obersten Reichsbehörden und NSDAP am Berliner Wannsee, um das Vorgehen aller am Völkermord beteiligten Stellen zu koordinieren. Von diesem Zeitpunkt an wurde die "Endlösung der Judenfrage", ein Tarnbegriff für das rassistisch-biologistische Ausrottungsdenken, im gesamten NS-Machtbereich konsequent und systematisch umgesetzt. Zuvor schon, im Herbst 1941, hatte der Aufbau von Vernichtungslagern begonnen; in der ersten Jahreshälfte 1942 wurde in ihnen der fabrikmäßig organisierte Massenmord zur Realität.

In den Ländern, die mit dem Reich verbündet waren, blieben Juden jedoch noch eine Weile lang geschützt. Italien und Ungarn verweigerten lange die Auslieferung ihrer jüdischen Bürgerinnen und Bürger. Kooperativer hatte sich das Land gezeigt, dessen Staatsbürgerschaft Anna Boros besaß: Rumänien. Die rumänische Militärdiktatur hatte sich am Überfall auf die Sowjetunion beteiligt und ebenfalls massenhaft Juden vertrieben und ermordet. Sie schwankte in der Frage, inwieweit sie ihre im Reich wohnenden jüdischen Staatsangehörigen schützen sollte. Viele von ihnen ereilte das Schicksal der deutschen Juden, auf die seit Herbst 1941 Deportation und Tod warteten.

Dies war die Situation, in der sich Anna Boros‘ Familie wie so viele andere im Frühling 1942 befand. Zwar wusste sie weder um die Einzelheiten noch um die Systematik der Mordmaschinerie. Dass der Tod drohte, war indes nicht mehr zu verkennen – auch nicht in der Reichshauptstadt. Adolf Hitler und Joseph Goebbels hatten schon im Sommer 1941 darauf gedrungen, alle Juden aus Berlin zu deportieren. Allerdings war ausgerechnet hier die verbliebene jüdische Gemeinde sehr groß gewesen, 1939 hatte sie immerhin noch 84.000 Personen gezählt. Sie auszulöschen, wurde nun zur Priorität. Zwischen dem 18. November 1941 und dem 25. Januar 1942 verfrachteten zehn erste Transporte jeweils um die 1.000 Menschen in die Ghettos von Litzmannstadt (Łódź), Riga, Minsk und Kauen (Kaunas).

Welche Hoffnungen es gab, sich diesem Schicksal zu entziehen, war unter anderem eine Frage der Staatsbürgerschaft: Cecilie Rudnik war gebürtige Ungarin, seit 1914 aber durch Heirat Rumänin. Zwischenzeitlich hatte sie die deutsche Staatsangehörigkeit erworben, die ihr aber vom NS-Regime wieder entzogen worden war, sodass sie als staatenlos galt und damit schutzlos der Verfolgung ausgesetzt war. Nachdem sie im Januar 1942 von der Gestapo zeitweise inhaftiert worden war, stand ihre Deportation unmittelbar bevor. Ihre Tochter Julie, Anna Boros‘ Mutter, hatte 1929 durch Eheschließung die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten und war wegen dieser »Mischehe« mit einem Nicht-Juden zumindest mittelfristig von der Deportation ausgenommen. Anna Boros schließlich hatte als gebürtige Rumänin einen Pass, der sie zwar nicht dauerhaft schützte, ihr aber in den entscheidenden Wochen 1941 und 1942 einen lebensrettenden Aufschub verschaffte. Im März 1942 sollte eine neue Welle von Transporten aus Berlin anrollen. Dies erklärt, warum sich Anna Boros und ihre Großmutter Cecilie Rudnik gerade in diesen Tagen zum Untertauchen entschlossen.

Die Chancen, der Deportation zu entgehen, unterschieden sich von Ort zu Ort. Ausgerechnet in Berlin, dem Zentrum des NS-Verfolgungsapparats, gab es minimal bessere Möglichkeiten, in der Illegalität zu überleben, als in kleinstädtischen oder ländlichen Regionen, wo die soziale Kontrolle stärker war. Zudem zogen sich die Deportationen aus der Reichshauptstadt länger hin als an anderen Orten des Reichs, sodass mehr Zeit für die Entscheidung und die Vorbereitung blieb. Gleichwohl stellte das Verstecken unter Kriegsbedingungen überall hohe Anforderungen an Untergetauchte wie an Helfende, und die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns war größer als die Hoffnung auf Erfolg. Es bedurfte sicherer Verstecke, die gelegentlich gewechselt werden mussten, finanzieller Mittel sowie eines Umfelds von Unterstützenden. Gleichzeitig ersann der NS-Sicherheitsapparat tückische Maßnahmen, um gesuchte Personen aufzuspüren. Von geschätzten 5.000 bis 7.000 in Berlin untergetauchten Juden überlebten nur 1.700 bis 1.800.

Die Unterstützung, die Mod Helmy leistete, war unter anderem deshalb erfolgreich, weil er immer neue Wege suchte, Widrigkeiten zu trotzen; dabei zeigte er großen Einfallsreichtum, der immer gewagtere Ideen hervorbrachte. Als Helmy seine Rettungsmission begann, wusste er freilich nicht, wie lange diese Hilfe nötig und ob sie überhaupt erfolgreich sein würde: Wer im Frühjahr 1942 verfolgte Juden versteckte, konnte weder von einem baldigen Ende des Krieges noch überhaupt von einer militärischen Niederlage des Reiches und damit einem Ende der Schoah ausgehen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Oliver Plessow ist Professor für Didaktik der Geschichte an der Universität Rostock. Zu seinen Schwerpunkten zählen u.a. der pädagogische Umgang mit Massenverbrechen und Diktaturerfahrungen, transnationale Holocaust Education/Gedenkstättenpädagogik sowie historisches Lernen in der außerschulischen (non-formalen) Jugend- und Junge-Erwachsenen-Arbeit.