Einleitung
Antisemitismus
Seit dem beispiellosen
Entsprechend gibt es hinsichtlich der Verbreitung von Antisemitismus eine deutliche Divergenz der Perspektiven: Während einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2013 zufolge 77 Prozent der nicht-jüdischen Befragten glaubten, nur wenige Bürger:innen seien negativ gegenüber Juden eingestellt,
(Antisemitische) Einstellungen
Einstellungen drücken Bewertungen eines Einstellungsobjekts aus. Sie werden mit anderen Personen geteilt, haben einen graduellen Charakter (man kann eher oder sehr positiv bzw. negativ zu etwas oder jemanden eingestellt sein) und bestehen aus drei Komponenten: einer kognitiven (ausgedrückt z. B. in stereotypen Vorstellungen über Personengruppen), einer emotionalen (z. B. Neid, Hass etc.) und ggf. auch einer verhaltensbezogenen (z.B. dem Wunsch nach physischer Distanz). Sie sind kulturell geprägt, in der Sozialisation erworben und beeinflusst von den (vermuteten) Einstellungen wichtiger Bezugspersonen (z.B. Eltern, Großeltern, Lehrer:innen, Trainer:innen im Sportverein, dem Kollegen- und Bekanntenkreis oder Personen, die man aus den Medien kennt und bewundert). Eine wichtige Rolle spielen damit auch die Identifikation mit dem jeweiligen sozialen Umfeld (z. B. im Jugendalter von Freundesgruppen) sowie soziale Normen in der Gesellschaft bzw. einem Submilieu. Entsprechend werden antisemitische Einstellungen mal offener, mal subtiler über Umwege kommuniziert (und ggf. in Handlungen übersetzt).
Antisemitische Einstellungen bilden sich in mindestens drei Facetten ab:
Im klassischen Antisemitismus, der sich in antijüdischen Stereotypen und antisemitischen Verschwörungsmythen offenbart. Dieser kann so weit gehen, dass er über eine Feindschaft gegenüber Juden hinausgeht und als eine Art Welterklärung für alles erdenkliche Unheil dient, ohne explizit den Begriff Juden zu verwenden.
Im sekundären Antisemitismus, der Bezug auf den Holocaust nimmt, Jüdinnen und Juden eine Mitschuld an ihrer Verfolgung zuschreibt und ihnen unterstellt, Vorteile daraus zu ziehen; auch die Forderung nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit und ein Ende der Aufarbeitung gehören dazu. Umstritten ist, inwieweit dies immer ein Indiz für Antisemitismus ist. In jedem Fall aber drückt sich darin zumindest implizit eine Umkehr von Täter und Opfer aus, wie sie für den Antisemitismus typisch ist.
In einem Antisemitismus, der über Israel kommuniziert wird und dabei Israel als Chiffre für Juden verwendet, d. h. Israel sagt und Juden meint. Dieser drückt sich beispielsweise darin aus, die eigene Antipathie gegenüber Jüdinnen und Juden mit der Politik Israels gegenüber den Palästinensern zu rechtfertigen und deren Verfolgung mit der von Juden durch die Nationalsozialisten gleichzusetzen.
Diese Facette von Antisemitismus wird besonders kritisch diskutiert, da sich diese Ansichten in einer Art Grauzone zwischen legitimer Kritik an der Politik Israels und Antisemitismus bewegen können. Dagegen halten lässt sich, dass eine solchermaßen formulierte Kritik an Israel, also die pauschalisierende Abwertung von Juden, die Verwendung von Doppelstandards bei der Kritik an israelischer Politik und die Gleichsetzung von Israel mit Nationalsozialisten, d. h. die Juden zu Tätern macht und damit die Taten Deutschlands gewissermaßen relativiert, eindeutig antisemitische Züge trägt.
Empirisch hängen diese Facetten von Antisemitismus so eng zusammen – wer einer Facette zustimmt, stimmt mit signifikanter Wahrscheinlichkeit auch einer anderen zu –,
Erfassung antisemitischer Einstellungen
Auskunft über die Verbreitung antisemitischer Einstellungen geben repräsentative Meinungsumfragen. Diese erheben das Ausmaß antisemitischer Einstellungen gewöhnlich über Aussagesätze, zu denen Befragte um Zustimmung bzw. Ablehnung auf einer abgestuften Antwortskala gebeten werden. Zur Erhöhung der Zuverlässigkeit werden jeweils mehrere Aussagen nach statistischer Überprüfung zusammengefasst. Es kommt also weniger auf die Antwort auf eine einzige Aussage an, die im Einzelfall vielleicht anders verstanden wurde, als vielmehr auf das gesamte Muster der Antworten. Als "antisemitisch eingestellt" gelten dabei Befragte, die bei mehreren Aussagen, die feindliche Einstellungen gegenüber Jüdinnen und Juden bzw. dem Judentum in den oben skizzierten Facetten ausdrücken, "eher" oder "voll" zustimmen. Aufschlussreich ist auch der Blick auf diejenigen, die mit teils-teils antworten, sich also nicht klar positionieren; vertiefte Analysen sprechen dafür, dass diese häufig eine zögerliche Zustimmung ausdrücken. Dabei geht es nicht um Einzelfalldiagnosen, sondern um Auskunft über die Verbreitung von antisemitischen Einstellungen in der Bevölkerung. Welchen Grad der Neigung zum Antisemitismus und welches Ausmaß man als 'problematisch' wertet, ist weniger eine wissenschaftliche als eine gesellschaftspolitische Frage.
Die Äußerung antisemitischer Einstellungen dürfte in einem besonderen Maß der sozialen Erwünschtheit und dem Motiv, nicht antisemitisch zu erscheinen, unterliegen. Die Befragten neigen also gerade bei den klar als antisemitisch erkennbaren Aussagen zum klassischen Antisemitismus eher dazu, zurückhaltend zu antworten.
Bislang gibt es in Deutschland kein umfassendes, regelmäßiges Monitoring antisemitischer Einstellungen. Einige repräsentative Meinungsumfragen erfassen jedoch antisemitische Einstellungen als einen Aspekt neben anderen mit einer entsprechend kleinen Zahl an Aussagen. Dazu gehören insbesondere die Langzeitstudien „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (2002-2011),
Verbreitung antisemitischer Einstellungen
Die Antwort auf die Frage nach der Verbreitung von antisemitischen Einstellungen hängt – wie schon angesprochen – von der Befragungsmethode ab, welche Facette von Antisemitismus man betrachtet, und welchen Grad an Zustimmung man als "antisemitisch" wertet.
Das Judentum wird in Deutschland von rund zwei Dritteln der Befragten als Bereicherung erlebt, ebenso schenkt rund die Hälfte (54 Prozent) der Befragten Juden uneingeschränkt Vertrauen.
Grob gesagt teilt rund ein Fünftel der Bevölkerung deutlich antisemitische Einstellungen, zählt man alle die zusammen, die "eher" oder "voll und ganz" zustimmen. Der Anteil ist größer, rechnet man jene Befragten hinzu, die einzelnen Aussagen zumindest "teils-teils" zustimmen. Klassischem Antisemitismus stimmen in der offenen Abfrage vergleichsweise wenige Befragten zu. In der jüngsten Erhebung der telefonisch durchgeführten "Mitte-Studie" 2018/19 waren beispielsweise vier Prozent der Befragten voll und ganz bzw. eher der Überzeugung: "Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss"; rechnet man die Befragten hinzu, die mit teils-teils antworteten, waren es insgesamt 15 Prozent. Ebenso viele stimmten teils-teils, eher oder voll und ganz der Aussage zu: "Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen". In der Leipziger Autoritarismus-Studie 2020, die antisemitische Einstellungen über anonyme Fragebögen erhebt, liegt die Zustimmungsrate zu diesen Aussagen sogar bei rund einem Fünftel der Befragten, eingerechnet jener, die mit teils-teils antworteten.
Sekundärer Antisemitismus ist weiter verbreitet. So teilen beispielsweise vier Prozent der Befragten der "Mitte-Studie2 2018/19 voll oder eher, eingerechnet der teils-teils Antworten zwölf Prozent, die Ansicht: "Durch ihr Verhalten sind Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig". Rund ein Viertel der Befragten unterstellt: "Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen". Und 55 Prozent der Befragten gaben in der 2014 durchgeführten "Mitte-Studie" an: "Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden". In einer weiteren, 2019 durchgeführten Studie forderte ein Viertel der Befragten: "Es ist Zeit für einen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit".
Israelbezogener Antisemitismus wird besonders weit geteilt. 16 Prozent der Befragten der Mitte-Studie 2018/19 gaben an: "Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat" (weitere 24 Prozent stimmten teils-teils zu) und 27 Prozent (bis zu 55 Prozent eingerechnet der teils-teils Antworten) waren der Ansicht: "Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts Anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben".
Bisher belegen diese Studien keinen Anstieg antisemitischer Einstellungen in der Gesamtbevölkerung, im Gegenteil, im langjährigen Vergleich sind antisemitische Einstellungen sogar eher rückläufig. Auch die ADL Global 100 Studie beobachtet für Deutschland einen Rückgang antisemitischer Einstellungen von 27 Prozent in 2014 auf 15 Prozent in 2019; die Studie fasst hier elf Aussagen zum klassischen und sekundären Antisemitismus zu einem Index zusammen. Im europäischen Vergleich liegt das in dieser Studie festgestellte Ausmaß antisemitischer Einstellungen in Deutschland auf mittlerem Niveau – mit höheren Zustimmungswerten in Süd- und Osteuropa und geringeren in Nordeuropa.
Ein gestiegenes öffentliches Bewusstsein, Anstrengungen der politischen Bildung, der Intervention und Prävention und das Ableben der noch unmittelbar im Nationalsozialismus Sozialisierten könnten Gründe für den rückläufigen Trend sein. Einige Beobachtungen lassen aber befürchten, dass sich dieser nicht so einfach fortsetzen wird. So ist in der Mitte-Studie vor allem der klassische Antisemitismus rückläufig, weniger aber der über Umwege kommunizierte sekundäre und israelbezogene Antisemitismus. Zudem scheint sich der positive Trend nicht über die Generationen fortzusetzen. Seit Kurzem verzeichnen die Umfragen sogar wieder einen Anstieg antisemitischer Einstellungen bei jüngeren Leuten, die lange Zeit weniger antisemitisch waren als die älteren. Die Mitte-Studien belegen zudem signifikante Zusammenhänge zwischen antisemitischen Einstellungen und der Neigung, an Verschwörungsmythen zu glauben; letztere finden derzeit
Antisemitische Einstellungen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen
Der Blick auf die Gesamtbevölkerung verdeckt mögliche Unterschiede und Entwicklungen in Subgruppen der Bevölkerung. Empirisch gesicherte Informationen über das Ausmaß antisemitischer Einstellungen liegen allerdings nur für größere Bevölkerungsgruppen vor, unterschieden nach den üblichen soziodemographischen Merkmalen. Über antisemitische Einstellungen in spezifischen Subgruppen können die vorliegenden Studien keine gesicherte Auskunft geben, weil sie schlicht zu klein sind, um sich in einer repräsentativen Umfrage abzubilden (das gilt z. B. für politisch extremistische Gruppierungen, religiöse Minderheiten, demographisch differenziertere Untergruppen wie jungen Männern in Ost- bzw. Westdeutschland).
Befragte in Ost- und Westdeutschland unterscheiden sich in den Umfragen heute kaum mehr in ihrer Zustimmung zu antisemitischen Einstellungen. Während in den vergangenen fast 20 Jahren der kontinuierlichen Erfassung offen antisemitische Einstellungen im Westen rückläufig sind, stagnieren sie mit einigen Wellenbewegungen im Osten, so dass die Zustimmungswerte im Osten inzwischen geringfügig höher liegen als im Westen. Männer äußern etwas häufiger antisemitische Einstellungen als Frauen. Personen mit höherer formaler Bildung neigen weniger zu antisemitischen Einstellungen bzw. äußern sie in Befragungen zurückhaltender. Im Vergleich etwa zu rassistischen Einstellungen ist der Einfluss von Bildung allerdings deutlich geringer und offenbart sich vor allem beim klassischen Antisemitismus; dem israelbezogenen Antisemitismus wiederum stimmen besser Gebildete fast ebenso häufig zu wie Personen mit niedrigerem Schulabschluss. Das Einkommen spielt hingegen nur eine marginale Rolle. Anders als vielleicht erwartet, spielen auch die Religiosität und Religionszugehörigkeit für das Ausmaß antisemitischer Einstellungen nur eine untergeordnete Rolle. Antisemitismus ist unter nicht-religiösen bzw. konfessionell ungebundenen Personen ähnlich weit verbreitet wie unter Gläubigen. Auch die Angehörigen der großen Konfessionen unterscheiden sich kaum, allerdings neigen
Antisemitische Einstellungen als Element Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus
Antisemitische Einstellungen sind verbunden mit Phänomenen wie ethnischem
Antisemitische Einstellungen sind darüber hinaus Interner Link: zentrale Elemente des Rechtsextremismus. Auch der Rechtspopulismus ist dafür anschlussfähig, indem er z.B. antisemitisch konnotierte Verschwörungsmythen bedient. Darüber hinaus vertreten Personen, die sich politisch selbst eher oder ganz rechts von der Mitte verorten, besonders häufig klassisch antisemitische Einstellungen. Im politischen Spektrum "ganz links" können die dort
Schlussbemerkung
Die empirische Einstellungsforschung zum Antisemitismus bewegt sich in einem Spannungsfeld historischer und aktueller Erfahrungen sowie gesellschaftlicher Diskurse. Die Erfassung antisemitischer Einstellungen ist und wird damit immer auch zu einem Politikum, bei dem auch die Wissenschaft selbst Teil des Geschehens ist. Denn nicht zuletzt die Definition, was Antisemitismus überhaupt ist, wie er sich offenbart, wie er gemessen und interpretiert werden kann, bestimmt die Befunde. In jedem Falle aber unterstreicht die Feststellung des Vorhandenseins antisemitischer Einstellungen die Notwendigkeit von Interventionsmaßnahmen und politischer Bildung, wozu auch die ernsthafte Auseinandersetzung mit der jüdischen Perspektive darauf gehört. Wie korrespondieren antisemitische Einstellungen und Hasstaten mit dem im Alltag erlebten Antisemitismus, und was machen die Beobachtungen antisemitischer Einstellungen in der Allgemeinbevölkerung mit den unmittelbar Adressierten? Zugleich unterliegt die Feststellung antisemitischer Einstellungen der Gefahr der Instrumentalisierung. Leicht geht der Fingerzeig auf die jeweils anderen und werden Beobachtungen eher als Makel, denn als Anlass zur Reflexion genommen. Vorsicht ist auch vor dem gegeneinander Ausspielen von Rassismus und Antisemitismus geboten. Bisweilen hat es den Anschein, der Antisemitismus solle lieber wegdiskutiert werden, statt sich mit ihm (selbst-)kritisch auseinanderzusetzen. Umso wichtiger ist die kontinuierliche Dokumentation antisemitischer Einstellungen jenseits ihrer Leugnung.