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"Antizionismus" in der frühen DDR

Thomas Haury

/ 13 Minuten zu lesen

Wo liegen die ideologischen Ursachen für die antisemitische Wendung, welche die SED-Spitze Anfang der 1950er Jahre vollzog? Wie konnte sich nur sieben Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus in der sich als sozialistisch und antifaschistisch verstehenden DDR ein antisemitischer "Antizionismus" in Propaganda und Repressionen äußern?

Rudolf Slánský (1901 -1952), aufgenommen am 01.11.1952 in Prag. (© picture-alliance/dpa)

Schon vor, vor allem aber nach 1945 wurden viele mittel- und osteuropäische Staaten der Herrschaft der Sowjetunion unterworfen. Auch die kommunistischen Parteien dieser "sozialistischen Bruderstaaten" wurden "gesäubert": Zehntausende Parteimitglieder verschwanden im Gefängnis und Arbeitslager, Hunderte wurden liquidiert, öffentliche Schauprozesse sollten die bedingungslose Gefolgschaft der einzelnen Kommunistischen Parteien (KPs) sicherstellen.

Nach der Interner Link: Loslösung Jugoslawiens unter Führung Josip Broz‘ ("Tito") von Moskau wurden die Satellitenstaaten der Sowjetunion mit einer Reihe von Schauprozessen überzogen. Der letzte große Schauprozess der Interner Link: Stalin-Ära wurde im November 1952 in Prag gegen Rudolf Slánský, ehemaliger Generalsekretär der tschechoslowakischen KP, und 13 weitere hochrangige Parteifunktionäre inszeniert. Die Anklagen waren erfunden, die Geständnisse erfoltert und erpresst. Neu am Interner Link: Slánský-Prozess war dessen offen antisemitische Ausrichtung: Erstmals wurde in einem öffentlich geführten Schauprozess eine zionistische (Welt-) Verschwörung behauptet. Der gesamten Welt, so der Staatsanwalt in dem vom Rundfunk übertragenen Prozess, drohe Gefahr durch den "internationalen Zionismus", der durch "tausend Fäden... mit dem Weltkapitalismus verbunden" sei. Immer wieder hob er die jüdische Herkunft von elf der Angeklagten hervor. Diese "Verräter des tschechoslowakischen Volkes" hätten Spionage betrieben, die Wirtschaft sabotiert und gar die Ermordung des ersten kommunistischen Staatspräsidenten der Tschechoslowakei, Klement Gottwald, geplant. Das Gericht verhängte Ende November elf Todesurteile, die wenige Tage später vollstreckt wurden.

Der Slánský-Prozess sollte den Auftakt bilden für eine ostblockweite Säuberungswelle mit antisemitischer Ausrichtung. Das "Neue Deutschland" (ND) – das Zentralorgan der Interner Link: Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) – berichtete täglich vom Slánský-Prozess, Anklagereden, Geständnisse und Urteil wurden seitenlang dokumentiert. Am 4. Januar 1953 veröffentlichte das ND den schon im Dezember des Vorjahres gefassten Beschluss des Zentralkomitees (ZK) der SED "Lehren aus dem Prozess gegen das Verschwörerzentrum Slánský". Darin warnte das ZK eindringlich vor "getarnten Spionen, Agenten und Saboteuren", die überall in der DDR, auch in der SED selbst, ihr Unwesen trieben und betonte hierbei die "verbrecherische Tätigkeit der zionistischen Organisationen". Der Westemigrant Paul Merker, bis 1950 selbst Mitglied von ZK und Interner Link: Politbüro, und andere Funktionäre wurden angeklagt, schon seit Jahren in den Reihen der Partei als "zionistische Agenten" die "Ausplünderung Deutschlands" und die "Verschiebung von deutschem Volksvermögen" zugunsten des amerikanischen Finanzkapitals und "jüdischer Monopolkapitalisten" bezweckt zu haben. Merker hatte bereits im Exil wie auch nach seiner Rückkehr in der DDR die Rückerstattung arisierten jüdischen Vermögens und Wiedergutmachungsleistungen an alle überlebenden Juden gefordert.

Die SED verfügte die Überprüfung der Kaderakten von allen Genossen jüdischer Abstammung, zahlreiche jüdische Angestellte in den Stadt- und Bezirksverwaltungen wurden entlassen. Paul Merker, selbst kein Jude, wurde inhaftiert. Die jüdischen Gemeinden galten als getarnte "Agenturen" des Interner Link: Zionismus und Imperialismus, ihre Veranstaltungen wurden verboten, teilweise ihre Büros durchsucht. Die Gemeindevorsitzenden wurden verhört über Hilfssendungen der Hilfsorganisation US-amerikanischer Juden "Joint", die Sicherheitsorgane verlangten Listen aller Gemeindemitglieder, denn alle Empfänger von Care-Paketen galten der Spionage verdächtig.

Angesichts dieser antisemitischen Repressionen flüchteten Anfang 1953 mit über 500 Jüdinnen und Juden rund 20 Prozent der jüdischen Gemeindemitglieder aus der DDR. Auch fünf der acht Gemeindevorsitzenden flohen nach West-Berlin, unter ihnen der Auschwitzüberlebende Julius Meyer, Präsident der jüdischen Gemeinden der DDR, SED-Mitglied und Abgeordneter der Volkskammer. Ein Schauprozess mit antisemitischer Ausrichtung stand auch in der DDR bevor. Verhindert wurde er allein durch Stalins Tod am 5. März 1953.

Wie konnte es dazu kommen, dass sich nur sieben Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus in der sich als sozialistisch und antifaschistisch verstehenden DDR ein antisemitischer "Antizionismus" in Propaganda und Repressionen äußern konnte? Zweifelsohne war Stalin der Hauptverantwortliche für die antisemitische Wendung. Doch die Bedenken- und Widerstandslosigkeit, mit der die SED-Spitze die antizionistische Wendung aktiv umsetzte, der fließende und von manchen Parteigenossen unbemerkte Übergang der Ende 1948 begonnenen Parteisäuberungen in den Antisemitismus verweist auf zwei "hausgemachte" ideologische Ursachen bzw. Einfallstore für den Antisemitismus: das marxistisch-leninistische Weltbild sowie der seinerzeit von der SED betriebene Nationalismus.

Die Grundstrukturen der marxistisch-leninistischen Ideologie

Grundlage des Weltbildes der Interner Link: SED bildete der Marxismus-Leninismus, seit Mitte der 1920er Jahre die verbindliche Ideologie der kommunistischen Bewegung. Jeder Beschluss und jede Erklärung des ZK oder des Politbüros repetierten immer wieder diese Weltsicht.

Das erste Strukturmerkmal des marxistisch-leninistischen Weltbildes ist seine strikte Dichotomie. Die gesamte Welt wurde binär in Gut und Böse geteilt: Auf der einen Seite stand das Lager des "kriegslüsternen Imperialismus" unter der Vorherrschaft der USA, auf der anderen das weltweite "Friedenslager" – die sozialistischen Staaten unter der Führung der UdSSR, der Kommunismus sowie sämtliche "Völker" der Erde. Der Feind wurde zum absolut Bösen, zur existentiellen, tödlichen Bedrohung dämonisiert: "Die Weltherrschaft, ... die Ausrottung anderer Völker" seien die wahren Ziele des "amerikanischen Raubimperialismus", der hierzu zielgerichtet auf die Entfesselung eines atomaren dritten Weltkrieges hinarbeite.

Das zweite augenfällige Strukturmerkmal des Marxismus-Leninismus ist die Personalisierung des "Weltimperialismus": Dieser wurde beschrieben als das Werk einer kleinen Gruppe von "kriegslüsternen" "Weltimperialisten" und "habgierigen" "Dollarkönigen". Diese personalisierende Erklärung musste zwangsläufig in eine verschwörungstheoretische Weltsicht münden: Wie sonst könnte "eine Handvoll habgieriger Milliardäre" die halbe Welt beherrschen? Folgerichtig prangerte die SED ständig "finstere Pläne" der "Börsenhyänen" an, die mit ihren "bezahlten Politikern und Schreiberlingen" die Staaten lenken und durch "hinterhältige Methoden des Volksbetruges" die Beherrschten niederhalten würden.

Ständig war in der SED-Propaganda die Rede von der "Internationale der Bankiers", von "Finanzhyänen", "Dollargeiern", "Spekulanten" und – auch dies war in der SED-Propaganda zu finden – "Blutsaugern" und "Parasiten". Leidtragender der "terroristischen Mörderinternationale von Wall Street" war keineswegs nur das Proletariat, sondern das "schaffende" bzw. "werktätige Volk" bzw. "die Völker" generell: Die "Raubtiere der Wallstreet" würden "die Völker ... aussaugen" und seien daher die "Erzfeinde ... der gesamten ... Menschheit".

Bereits hier fällt auf, wie die Grundstruktur des Marxismus-Leninismus antisemitischen Denk- und Argumentationsmustern ähnelt: Das gesamte Weltgeschehen erklärt aus dem Kampf des Gut und Böse. Der Kapitalismus-Imperialismus wird personalisierend und verschwörungstheoretisch erklärt aus dem bösen Wirken einer kleinen parasitären und raffenden "Internationale der Bankiers", denen weltweit schaffende "Völker" entgegengesetzt werden.

Darüber hinaus kreierte die SED noch einen bedrohlichen, verdeckt agierenden inneren Feind, der in vielem an die antisemitische Konstruktion des "zersetzenden Juden" erinnert. Über Jahre hinweg warnte die SED, der Imperialismus habe im Inneren der "volksdemokratischen Staaten", auch in der Partei selbst, "ein weitverzweigtes Netz von Agenten" aufgebaut. Reale Opposition, aber auch bloße Nachlässigkeit oder Fehlentscheidungen wurden als Sabotage ausländischer Agenten verfolgt und drakonisch bestraft. Damit derlei "getarnte Parteifeinde" nicht weiterhin "die Reihen unserer Partei zersetzen", wurden flächendeckend Parteikontrollkommissionen zur "Ausmerzung" dieser "entarteten Elemente" eingerichtet. Da die SED sich eins glauben wollte mit dem "Volk", war alsbald nicht nur von der "Zersetzungsarbeit" von Agenten die Rede, sondern auch von "Volksfeinden", deren "Entlarvung" und "Vernichtung" die oberste Pflicht sei. Selbst die Vokabel des "Volksschädlings" findet sich in der Propaganda der SED.

Kommunistischer Deutschnationalismus

Parallel zur wachsenden Moskauorientierung, Repression und Agentenhysterie entfachte die SED eine nationalistische Propagandawelle. Denn im Unterschied zu allen anderen Ostblockstaaten besaß die DDR angesichts der deutschen Teilung in der Bevölkerung keine Grundakzeptanz als Nationalstaat. Diesem legitimatorischen Defizit versuchte die SED mit einer vehementen deutsch-nationalen Kampagne zu begegnen.

Die westdeutsche Bundesrepublik sei nichts als ein "von den Gnaden des Dollarimperialismus abhängiger ... Marionetten´staat´" mit einer "Marionettenregierung" und einer von den USA "oktroyierten, ... antideutschen Verfassung". Bundesregierung und Bundestag seien "bezahlte Werkzeuge" des US-Imperialismus, die "sich dazu hergegeben haben, die wahren Interessen des deutschen Volkes an die anglo-amerikanischen Imperialisten zu verschachern": "Offener Landesverrat ist am Werk!"

Mittels dieser "Versklavung der deutschen Arbeiterklasse und des deutschen Volkes" heimsten die "Wallstreet-Imperialisten" "Profite ein, wie sie niemals durch koloniale Ausbeutung erzielt worden sind." Insbesondere die "Wucherzinsen" für Marshallplankredite "plündern das deutsche Volk aus". Und so forderte die SED: "Sofortige Einstellung ... der Überfremdung der deutschen Wirtschaft durch ausländische Kapitalisten. Beseitigung der Dollarzinsknechtschaft."

Sich selbst pries die SED als "Vortrupp des deutschen Volkes" und rief in flammenden Manifesten "alle gesunden Volkskräfte" zum "nationalen Befreiungskampf" zur "Befreiung der Nation aus den Klauen des Dollarimperialismus" auf: "Finanzkapital oder Nation - so steht die Frage".

Der marxistisch-leninistische Deutschnationalismus der SED mit seiner seit 1949 betriebenen Gegenüberstellung von "Finanzkapital" und "Nation", von "deutschem Volk" und den wuchernden "Wallstreet-Imperialisten" gleicht in seiner Struktur dem antisemitischen Denken, er unterschied sich aber in einem inhaltlichen Moment: Es war die Rede von "ausländischen Kapitalisten"; diese wurden erst im Zuge des von Moskau betriebenen Slánský-Prozesses Ende 1952 ethnisch auch als "jüdisch" qualifiziert.

"Deutsche Kultur" – bedroht durch "kosmopolitische Zersetzung"

Auch im Rahmen der seit 1949 ostblockweit betriebenen "Antikosmopolitismus-Kampagne", die den Ostblock gegenüber allen kulturellen Einflüssen aus dem Westen abschotten sollte, legte sich die SED besonders "national" ins Zeug. Die "deutsche Kultur" sei tödlich bedroht durch die "volksfremde und volksfeindliche" westliche "Dekadenz", durch die "kapitalistische Kulturbarbarei" und durch das gefährliche "Gift" der "kosmopolitischen Zersetzung".

Mit dem schon aus dem Dritten Reich bekannten Schlagwort des "Kosmopolitismus" wurden alle Phänomene der westlichen Kultur, von Filmen und Unterhaltungsmusik bis hin zu moderner Kunst oder Philosophie denunziert: Der "Boogie-Woogie-Kosmopolitismus" solle die klassische deutsche Musik verdrängen und "den Krieg in die Hirne der Menschen einschmuggeln", die "Überschwemmung Westdeutschlands mit flachen, banalen und minderwertigen amerikanischen Büchern, Hollywoodfilmen und Comicbooks" diene nur der "Verherrlichung ... von Mord, Brutalität und Pornographie". Sich selbst behauptete die SED als die einzige Kraft, die die "deutsche Kultur" vor der "Auslöschung" durch die westliche "Pseudokultur" zu schützen vermöge und rief alle "deutschen Kulturschaffenden" dazu auf, zum "Mutterboden des Volkes" zurückzufinden und die Kultur des "sehnsüchtig geliebten Vaterlands" zu verteidigen gegen den "wurzellosen Kosmopolitismus".

Auch in dieser deutsch-national geprägten Antikosmopolitismus-Kampagne wird die Nähe der SED-Ideologie zu antisemitischen Stereotypen deutlich. In alter deutscher Tradition mobilisierte die SED antiwestliche und kulturkritische Ressentiments, setzte "deutsche Kultur" gegen "volksfremde westliche Dekadenz" und "Zersetzung" des "nationalen Kulturerbes" durch den "wurzellosen Kosmopolitismus". Die marxistisch-leninistisch verbrämte deutsch-nationale Kulturkritik der SED glich strukturell der konservativ-antisemitischen Kulturkritik, unterschied sich aber in einem Punkt: Die "Zersetzer" wurden nicht ethnifiziert, die "wurzellosen Kosmopoliten" nicht als Juden identifiziert.

Nationalistische Schuldabwehr

Doch um sich angesichts der Interner Link: Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands derart auf "das deutsche Volk" und "die deutsche Nation" berufen zu können, musste die SED, wie jeder Nationalismus in Deutschland, diese von den NS-Vergangenheit entlasten. Dies war mittels des Marxismus-Leninismus einfach zu leisten: Urheber des "Faschismus" seien allein die Monopolkapitalisten und ihr Werkzeug Hitler; diese hätten "den Namen der deutschen Nation geschändet", während "das deutsche Volk ... von faschistischen Machthabern versklavt" gewesen sei.

Entsprechend lehnte die SED bereits 1948 jegliche Wiedergutmachung und Rückerstattung "arisierten" jüdischen Eigentums dezidiert ab: Diese bedeuteten nichts anderes als Zahlungen des notleidenden und am Faschismus unschuldigen deutschen Volkes an im Ausland lebende jüdische Kapitalisten. Das antisemitische Stereotyp, dass alle Jüdinnen und Juden Ausbeuter und Kapitalisten seien, und die nationalistische Abwehr von Schuld und Verantwortung verbanden sich mit primitiven "klassenkämpferischen" Ideologemen zu einer offensiven Abwehr von Schuld und Verantwortung. Schon 1950 galt in den Verhören der Zentralen Parteikontrollkommission das Eintreten für Wiedergutmachung und Rückerstattung als "parteiwidrige Auffassung", als schwerwiegendes Verdachtsmoment und sogar als Begründung für die Degradierung von SED-Funktionären.

Die "Lehren"

Im ZK-Beschluss "Lehren aus dem Prozess gegen das Verschwörerzentrum Slansky ", dem zentralen Dokument des Antizionismus in der DDR, gingen Marxismus-Leninismus und kommunistisch verbrämter Deutschnationalismus endgültig eine antisemitische Verbindung ein.

Auch die "Lehren" sind durchzogen von dichotomer Weltsicht, Verschwörungstheorie, der Entgegensetzung von "werktätigem deutschen Volk" und dessen "Todfeinden", den internationalen Finanzkapitalisten und dessen Agenten. Allerdings wurde dem US-Imperialismus nunmehr eine neue Agentur zur Seite gestellt: die "zionistischen Organisationen". Imperialismus und Zionismus verschmolzen zu einem einzigen Verschwörungszusammenhang: "Die zionistische Bewegung ... wird beherrscht, gelenkt und befehligt vom USA-Imperialismus, dient ausschließlich seinen Interessen und den Interessen der jüdischen Kapitalisten." Durch den Zusatz der Adjektive "jüdisch" und "zionistisch" wurde das in seinen grundlegenden Strukturen dem Antisemitismus ähnliche Weltbild der SED auch inhaltlich antisemitisch.

Der gleiche Vorgang zeigt sich bezüglich der inneren Feinde. Wurde schon seit Jahren die Wühlarbeit imperialistischer Organisationen behauptet, so griff das ZK nunmehr "die verbrecherische Tätigkeit der zionistischen Organisationen" in der DDR an. Indem die schon seit Jahren an die Wand gemalten gefährlichen Agenten des Imperialismus mit dem Adjektiv "zionistisch" näher bestimmt wurden, reproduzierte die SED nunmehr das klassische antisemitische Stereotyp des zersetzenden Juden.

Darüber hinaus füllte die SED den aus Moskau kommenden Antizionismus noch mit dem spezifisch "deutschen" Thema Wiedergutmachung. Paul Merker war während des Nationalsozialismus nach Mexiko emigriert und hatte die dortige kommunistische Exilgruppe geleitet. Tief betroffen vom Schicksal der Jüdinnen und Juden hatte er sich in zahlreichen Artikeln für die Gründung eines jüdischen Nationalstaates, für die Rückerstattung "arisierten" Eigentums sowie für Entschädigungszahlungen eingesetzt. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland war Merker in Politbüro und ZK der SED der einzige Befürworter von Rückerstattung und Wiedergutmachung. Eben dies warf das ZK Merker in den "Lehren" vor: Seine Forderungen nach Rückerstattung und Entschädigungsleistungen seien nichts als perfide Manöver des jüdischen Monopolkapitals zur "Verschiebung von deutschem Volksvermögen". Weiter hieß es: "Es unterliegt keinem Zweifel mehr, dass Merker ein Subjekt der USA-Finanzoligarchie ist, der die Entschädigung der jüdischen Vermögen nur forderte, um dem USA-Finanzkapital das Eindringen in Deutschland zu ermöglichen. Das ist die wahre Ursache seines Zionismus."

Auch zu den Arisierungen der Nazis nahm das ZK der SED einen marxistisch-leninistisch verbrämten, typisch "deutschen" Standpunkt ein: "Merker fälschte die aus den deutschen und ausländischen Arbeitern herausgepressten Maximalprofite der Monopolkapitalisten in angebliches Eigentum des jüdischen Volkes um. In Wirklichkeit sind bei der 'Arisierung' dieses Kapitals nur die Profite 'jüdischer' Monopolkapitalisten in die Hände 'arischer' Monopolkapitalisten übergewechselt." Damit hatte die SED festgestellt, dass alle durch das NS-Regime enteignete Juden raffende Monopolkapitalisten gewesen seien, die sich auf Kosten des "schaffenden deutschen Volkes" bereichert hätten und deshalb seitens der SED mit keinerlei Rückerstattung zu rechnen hätten.

Auch die weitere Geschichte Merkers belegt diese ostdeutschen Antriebe des Antizionismus: Im März 1955 stand er in einem Geheimprozess vor dem Obersten Gericht der DDR. In der Urteilsbegründung wurde Merker vorgeworfen, er "propagierte ... die Entschädigung der jüdischen Kapitalisten" und damit "eine Nachkriegspolitik für Deutschland ..., die nicht den Interessen des deutschen Volkes, sondern denen des amerikanischen Imperialismus entsprach". "Weiter vertrat er ... zionistische Tendenzen, indem er ... die Schaffung eines jüdischen Nationalstaates propagierte". Merker wurde wegen dieser "Verbrechen" zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. 1956 wurde er im Zuge der Entstalinisierung zwar aus der Haft entlassen, aber nie öffentlich politisch rehabilitiert.

National-kommunistischer Antisemitismus

Dass die Säuberungen 1952 überhaupt eine antisemitische Ausrichtung bekamen, ist ohne Zweifel Stalin zuzuschreiben. Aber dass die SED sie so gleitend mitvollziehen und den Antizionismus so problemlos assimilieren konnte, lag an der Ideologie, der die SED gläubig anhing. Seit 1949 benutzte die SED-Propaganda ein dem Antisemitismus teilweise überaus nahes Vokabular: Sie sprach von "Schiebern und Parasiten", von der "unsichtbaren, aber allgewaltigen" Herrschaft der "Internationale der Wallstreet", von der "Zersetzung" durch innere Feinde, forderte die "Entlarvung" und "Ausmerzung" von "Schädlingen" und "Volksfeinden" und agitierte gegen "Dollarzinsknechtschaft" und "wurzellosen Kosmopolitismus".

Entscheidender noch als die einzelnen Termini aber ist die ideologische Gesamtstruktur, durch die diese Begriffe ihre Bedeutung und Brisanz erst zugewiesen bekommen: ein strikt dichotomes Weltbild, das eine existentielle Bedrohung durch innere und äußere Todfeinde behauptete, Weltwirtschaft und Weltpolitik per Verschwörungstheorie erklärte und hierbei ein "werktätiges Volk" der "Internationale der Bankiers" entgegensetzte.

Pointiert formuliert: Bei der SED ist seit 1949 zunehmend ein Weltbild zu konstatieren, dessen Grundstrukturen jenen des Antisemitismus zu beträchtlichen Teilen glichen. Allein die prominente Stelle des Bösen war noch von den weniger konturierten "Finanzkapitalisten" besetzt. "Finanzkapital oder Nation" - so stand für die SED die Frage; deren antisemitische Beantwortung war zwar nicht zwingend, wohl aber in der Ideologie als Möglichkeit angelegt. Als im Zuge des Slánský-Prozesses der Imperialismus mit dem internationalen Zionismus verschmolzen wurde und neben den imperialistischen nun auch zionistische Agenten verfolgt wurden, stellte dies keine auffallend problematische oder genuin neue Argumentation dar.

Die Wendung zum antisemitischen Antizionismus fiel umso leichter, als die SED eine sich überschlagende deutsch-nationalistische Propaganda betrieb, von einer Schuld des "deutschen Volkes" nichts hören wollte und Wiedergutmachung und Rückerstattung mit national-kommunistischen Phrasen kategorisch ablehnte. Dieses genuin deutsche Bedürfnis nach Schuldabwehr führte in der DDR zu einer zusätzlichen sekundär-antisemitischen, genuin deutschen Prägung des marxistisch-leninistischen "Antizionismus".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Alle Zitate: London, Arthur: Ich gestehe, Berlin 1991: 308ff.

  2. Alle Zitate: Neues Deutschland (ND) 4.1.1953.

  3. Tägliche Rundschau, 6.6.1951, zit. n. Jäger, Manfred: Kultur und Politik in der DDR, Köln 1994: 43.

  4. Zitate: Einheit, Februar 1952: 159; Einheit, März 1953: 211; Dokumente der SED. Beschlüsse und Erklärungen des Parteivorstandes, des Zentralsekretariats und des Politischen Büros [i. F.: Dokumente], Bd. II, Berlin 1951: 388, 393; Abusch, Alexander: Stalin und die Schicksalsfragen der deutschen Nation, Berlin 1949: 118.

  5. Dokumente II/1951: 393

  6. Zitate: Norden, Albert: Um die Nation, Berlin 1952: 123; ND 6.10.1949; Dokumente IV/1954: 480f; Einheit, Januar 1952: 11.

  7. Norden, Albert: Lehren deutscher Geschichte, Berlin o. J., S. 194; Dokumente III/1952: 94; Norden 1952: 328; Dokumente II/1951, S. 90; Einheit, 4. Jg./Oktober 1947/H. 10, S. 937; Ulbricht, Walter: Die Legende vom "deutschen Sozialismus”, Berlin 1946: 67.

  8. Honecker, Erich/Axen, Hermann, zit. n. Schnoor, Rainer: Das gute und das schlechte Amerika, In: Junker, Detlef (Hg.): Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges, Bd. 1, Stuttgart 2001: 934; Dokumente I/ 1952: 10; 9; Pieck, Wilhelm: Reden und Aufsätze, Bd. 2, Berlin 1952: 32; Norden 1952: 62, 195; ND 6.10.1949; Einheit, Juni 1950: 496.

  9. Einheit, Juni 1950: 517.

  10. Dokumente III/1952: 476; ND 11.7.1953; Dokumente II/1951: 84; 83.

  11. Dokumente II/1951: 102; Dokumente III/1952: 102; Dokumente II/1951: 401; Einheit, Januar 1950: 10; ebd.

  12. ND 6.1.1950.

  13. Dokumente II/1951: 349, 349; Einheit, März 1950: 195

  14. Dokumente II/1951: 349, 338; Dokumente I/1952: 242.

  15. Dokumente II/1951: 292; 292; Dokumente III/1952: 83.

  16. Norden 1952, S. 193.

  17. Dokumente II/1951: 365.

  18. Dokumente III/1952: 187; Dokumente II/1951: 16; Dokumente IV/1954: 418; Dokumente II/1951: 180; Norden 1952: 157.

  19. Dokumente III/1952: 118; ND 21.6.1950; Dokumente II/1951: 411; Einheit, Mai 1953: 743; 743.

  20. Meyer, Ernst Hermann: Musik im Zeitgeschehen, Berlin 1952: 162; Georg Knepler, zit. n. Rauhut, Michael: Beat in der Grauzone, Berlin 1993: 20; Dokumente II/1951: 362.

  21. Norden 1952: 202; Abusch, Alexander: Literatur im Zeitalter des Sozialismus, Berlin/Weimar 1967a: 143; Grotewohl, zit. n. Meuschel, Sigrid: Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR, Frankfurt 1992: 78; Abusch, Alexander: Kulturelle Probleme des sozialistischen Humanismus, Berlin/Weimar 1967b: 338, ders. 1967a: 626; ebd.: 360.

  22. Abusch 1949, S. 87.

  23. Diese und die folgenden Zitate: ND 4.1.1953.

  24. Urteilsbegründung, zit. n. Herf, Jeffrey: Antisemitismus in der SED. In: VjhfZg 4/1994: 647.

  25. Urteilsbegründung, zit. n. ebd.: 649.

  26. Urteilsbegründung, zit. ebd.: 650.

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Dr. Thomas Haury studierte Soziologie sowie Neuere und Neueste Geschichte und arbeitet als Dozent. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Antisemitismus, linker Antizionismus und Nationalismus.