Massenexodus nach 1948
Außerhalb Israels sind Diskriminierung, Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Staaten kaum ein Thema, und die etwa eine Million jüdischen Flüchtlinge, die seit 1948 die arabischen Staaten und seit 1979 den Iran verlassen haben, finden in gegenwärtigen Debatten zum Nahen und Mittleren Osten selten Erwähnung.
Während im 19. Jahrhundert noch zahlreiche Juden aus Russland und dem Balkan ins Osmanische Reich flohen
Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern waren nahezu total. Sie standen nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Kriegsgeschehen – anders als im Fall der rund 700.000 Araber, die im Zuge der israelischen Staatsgründung und des darauffolgenden Angriffs der arabischen Armeen Syriens, Libanons, Jordaniens, Ägyptens und des Irak auch aus Angst vor einem nahenden Kampf flohen.
So sind von den über 250.000 marokkanischen Juden nur etwa 2.000 im Land geblieben. In Tunesien lebten 100.000 Juden, heute sind es etwa 1.500. In Ägypten lebten 1948 75.000 und im Irak 135.000 Juden, heute sind es jeweils weniger als 20. Im Jemen waren es etwa 60.000, heute wird ihre Zahl auf 50 geschätzt. Die syrische jüdische Gemeinde ist von 30.000 auf weniger als 15 geschrumpft. In Algerien lebten 1948 140.000 Juden, in Libyen 38.000. In beiden Ländern leben heute überhaupt keine Juden mehr. Auch kleine jüdische Gemeinden wie in Bahrain, wo bereits 1947 nach dem
Erste Flucht- und Migrationsbewegungen gab es bereits vor der Staatsgründung Israels. Zwischen 1941 und 1948 kam es zu zahlreichen antijüdischen Ausschreitungen in Syrien, im Libanon, im Irak, auf der arabischen Halbinsel, in Ägypten und dem sonstigen Nordafrika.
In vielen Fällen mussten die Flüchtlinge nahezu ihren gesamten Besitz zurücklassen
Traditionen: Juden in islamischen Gesellschaften
Die Situation von Juden in den islamischen Gesellschaften war noch im 19. Jahrhundert in der Regel besser als jene der meisten jüdischen Minderheiten in den christlich geprägten Gesellschaften Europas. Das bedeutet aber nicht, dass Juden in den islamischen Gesellschaften gleichberechtigt leben konnten: Auch in den vergleichsweise unblutigen Perioden des jüdisch-muslimischen Zusammenlebens in der arabischen Welt, in denen Juden als "Schutzbefohlene" (dhimmis) toleriert wurden, handelte es sich um eine Toleranz, "die aus Verachtung bestand".
Im 19. Jahrhundert nehmen Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im Osmanischen Reich massiv zu. Forciert werden sie zunächst vorrangig von christlichen Propagandisten, Ende des 19. Jahrhunderts werden sie jedoch immer öfter in islamischen Publikationen aufgegriffen.
Dieser Hass auf die Moderne zeigt sich insbesondere bei Vordenkern der 1928 gegründeten ägyptischen
Der Antisemitismus in den arabischen und islamischen Ländern war nicht das Resultat des Nahost-Konflikts und für die arabisch-islamische Verachtung von Juden bedurfte es nicht erst der israelischen Staatsgründung. Die Etablierung des jüdischen Staates 1948 fungierte vielmehr als Treibsatz für die Transformation dieser traditionellen Verachtung der jüdischen dhimmis in eine Feindschaft auf die sich selbst zur Souveränität ermächtigenden "Schutzbefohlenen". Mit Blick auf den Konflikt Israels mit seinen arabischen Nachbarn dürfen als zentrale Ursachen daher die antijüdischen Traditionen in der arabischen und islamischen Welt und der daraus hervorgegangene arabische und islamische Antisemitismus nicht außer Acht gelassen werden.
Spätestens mit den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs war großen Teilen der arabischen Juden klar, dass es keinen nennenswerten Unterschied machte, ob sie sich für oder gegen den
Es gab allerdings wichtige Ausnahmen vom radikalen arabisch-nationalistischen und islamischen Antisemitismus. Im Mandatsgebiet Palästina mussten sich die Anhänger des offen antisemitischen und mit dem Nationalsozialismus kollaborierenden Mufti Amin al-Husseini erst durch brutale Gewalt gegen deutlich moderatere Fraktionen auf arabischer Seite durchsetzen. Während der Pogrome im Irak 1941 wurden nicht nur etwa 180 Juden ermordet, sondern auch zahlreiche Araber, die sich schützend vor ihre jüdischen Nachbarn stellten. In Tunesien konnte oder wollte Habib Bourguiba als erster und langjähriger Präsident nach der
Selbst im
Arabische Juden in Israel
Das israelische Parlament hat über die Jahrzehnte ein Dutzend Resolutionen zu den aus den arabischen Ländern geflohenen und vertriebenen Juden verabschiedet und 2010 den Beschluss gefasst, dass keine israelische Regierung ein Friedensabkommen unterzeichnen darf, das nicht auch die Frage der Entschädigung der jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern und aus dem Iran regelt. 2012 hat das israelische Außenministerium erstmals eine Kampagne für "Gerechtigkeit für jüdische Flüchtlinge aus arabischen Ländern" lanciert, und 2014 hat das israelische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den 30. November zum Gedenktag an Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern und dem Iran erklärt. Zuvor hat sich in der breiten israelischen Öffentlichkeit jedoch über Jahrzehnte hinweg die Ansicht gehalten, es habe sich bei den Juden aus den arabischen Ländern eher um zionistisch motivierte Einwanderer, nicht um Flüchtlinge oder Vertriebene im klassischen Sinn gehandelt.
Nicht alle der aus den arabischen Ländern geflohenen oder vertriebenen Juden sind nach Israel gekommen, aber mit etwa 600.000 die überwiegende Mehrheit, mit den zahlenmäßig größten Kontingenten aus Irak und Marokko. Etwa 200.000 Juden – insbesondere aus Algerien, aber auch aus Tunesien – gingen nach Frankreich. Die USA waren vor allem für ägyptische, syrische und libanesische Juden ein Zielland.
Bis zur großen Einwanderungswelle aus der ehemaligen Sowjetunion in den 1990er-Jahren machten die jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern und ihre Nachkommen bis zu 70 Prozent der israelischen Bevölkerung aus. Heute sind knapp über 50 Prozent der israelischen Juden Nachfahren von jüdischen Flüchtlingen aus den arabischen Ländern.
Zeltstadt zur Unterbringung jüdischer Einwander in Israel 1950. Jüdische Flüchtlinge aus arabischen Ländern wurden in Israel trotz enormer Schwierigkeiten und Vorbehalte integriert. (© picture-alliance, Everett Collection)
Zeltstadt zur Unterbringung jüdischer Einwander in Israel 1950. Jüdische Flüchtlinge aus arabischen Ländern wurden in Israel trotz enormer Schwierigkeiten und Vorbehalte integriert. (© picture-alliance, Everett Collection)
Die Geschichte von Flucht und Vertreibung der Juden aus der arabischen Welt ist zugleich die
Bei allen Schwierigkeiten und Härten und trotz aller Vorbehalte der aschkenasischen, aus Europa stammenden Juden gegenüber den arabisch-jüdischen – in Israel als Mizrahim bezeichnet – nahmen die ursprünglich 650.000 Juden in Palästina innerhalb kürzester Zeit 700.000 weitere auf, viele von ihnen traumatisiert von der Shoah und im Fall der Flüchtlinge aus den arabischen Ländern zwar keineswegs immer, aber häufig vergleichsweise schlecht ausgebildete Juden aus verarmten Bevölkerungsschichten.
1948 war der neu gegründete und militärisch bedrohte jüdische Staat hinsichtlich der Masseneinwanderung von Juden aus den arabischen Ländern ambivalent. Man wollte zwar den bedrohten und verfolgten Juden helfen, und es gab ein massives Interesse an jüdischer Einwanderung, aber man hatte dabei nicht in erster Linie Juden aus den arabischen Ländern im Auge. Bereits 1942 hatte
Die überwiegende Mehrheit der Juden aus den arabischen Ländern musste in Israel zunächst in Zeltstädten für Einwanderer unterkommen, später in befestigten Einwanderer-Camps – den sogenannten Ma’aborot, die Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre größtenteils in Entwicklungsstädte transformiert wurden. Der Kampf gegen Diskriminierungen der arabisch-jüdischen Mizrahim in der israelischen Gesellschaft – die lange Zeit gegenüber den aus Europa stammenden Juden ökonomisch und sozial benachteiligt waren – hat die Protestgeschichte des Landes geprägt und Anfang der 1970er-Jahre beispielsweise zur Gründung der Black Panthers durch jüdisch-arabische Einwanderer der zweiten Generation in Israel geführt.
Dass die jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern in Israel trotz enormer Schwierigkeiten und Vorbehalte integriert wurden, dürfte einer der Gründe für ihre weitgehende Abwesenheit in der internationalen Diskussion sein. Ein anderer Grund ist sicherlich auch darin zu suchen, dass innerhalb der
Aus israelischer Perspektive handelte es sich 1948 um eine Art Bevölkerungsaustausch, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg in zahlreichen Konfliktregionen stattfand. Die israelische Regierung war bereit, sich sowohl um die jüdischen Flüchtlinge aus Europa zu kümmern als auch um jene aus der arabischen Welt, erwartete zugleich aber, dass sich die arabischen Staaten der arabischen Flüchtlinge aus Israel annehmen, die maßgeblich durch den arabischen Angriffskrieg gegen den neu gegründeten jüdischen Staat zustande gekommen waren.
Ausblick
Es ist zu hoffen, dass ein realistischer Blick auf die antisemitischen Traditionen in den arabischen und islamischen Gesellschaften und eine Reflexion auf die Geschichte von Diskriminierung, Verfolgung, Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Staaten in der Diskussion über den Konflikt Israels mit seinen arabischen Nachbarn ein besseres Verständnis des Zionismus ermöglichen. Ein solches könnte perspektivisch einen Beitrag zu einer möglichen Annährung im Nahen Osten leisten. Dass eine Annäherung trotz der Vertreibungs- und Fluchtgeschichte möglich ist, haben die
Aktuell wecken die Aufnahme offizieller Beziehungen Israels mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain, die derzeit noch inoffizielle Intensivierung der Beziehungen mit weiteren Golfstaaten wie Oman und eine Annäherung Israels zu Marokko und Sudan Hoffnungen auf eine Aussöhnung. Diese hat schon jetzt zu einer leisen Renaissance jüdischen Lebens in Bahrein und insbesondere zur bemerkenswerten staatsoffiziellen Zurücknahme der antisemitischen Propaganda in Saudi-Arabien geführt. In jedem Fall wird die Aufarbeitung der Geschichte von Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern und die Reflexion auf die antisemitischen Traditionen in den islamisch geprägten Gesellschaften eine wichtige Rolle bei zukünftigen Friedenslösungen im Nahen Osten spielen.