Sekundär heißt bildungssprachlich "nach einem bestimmten Ereignis kommend". In diesem Sinne stellt der sekundäre Antisemitismus eine Familie von Antisemitismen dar, die sich: 1. nach Auschwitz aktualisiert und an neue gesellschaftliche Bedingungen angepasst haben, 2. darauf abzielen, die politischen und kulturellen Folgen der Aufarbeitung des nationalsozialistischen Judenmords auf antisemitische Weise zu neutralisieren sowie 3. dazu dienen, psychologische Ambivalenzen zu kaschieren, die aus einer gescheiterten individuellen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit resultieren. Eine Darstellung der vielfältigen Funktionen und Gestalten dieses Zusammenhangs setzt deshalb eine kurze Einführung zum Niedergang des
Einführung
Die militärisch erzwungene Beendigung des in
Die demokratische Übereinkunft, die Shoah institutionell gestützt zu erinnern, Entschädigungen zu leisten, den gegenwärtigen
Vor diesem Hintergrund sind folgende fünf Erklärungsansätze des sekundären Antisemitismus zu verstehen.
(1) Variation einer "alten Leidenschaft"
Betrachtet man den
Hierbei kommt es zu einer Variation bereits bestehender Vorurteile: die Kritik und Erinnerung des Antisemitismus zielen im Weltbild der Antisemit(inn)en zielgerichtet auf nationale Schwächung durch "Schuldkult", und "den Juden" wird im Zuge einer Holocaustleugnung der Missbrauch ihres Opferstatus zu dubiosen Zwecken ("Einfluss", "Macht", "Geld") vorgeworfen. So kann beispielsweise auch die
(2) Anpassung an anti-antisemitische Normen
In der Antisemitismusforschung wird davon ausgegangen, dass die eingangs skizzierten Entwicklungen zur Kommunikationslatenz des traditionellen Antisemitismus geführt haben. Die Etablierung eines anti-antisemitischen Grundkonsenses hat demnach bewirkt, dass antisemitisch eingestellte Menschen ihre Ansichten nicht offen äußern, um Kritik und gesellschaftliche Sanktionen zu vermeiden. Antisemitismus kann aber auch auf eine Weise zum Ausdruck gebracht werden, die die Wahrscheinlichkeit anti-antisemitischer Gegenwehr verringert. Hierfür kommt eine Vielzahl rhetorischer Operationen in Betracht, z. B. die Verwendung antisemitischer Chiffren, wobei der Begriff "Juden" durch unbelastet erscheinende Wörter wie "amerikanische Ostküste" oder "Zionisten" ersetzt wird. Das Mittel sekundärantisemitischer "Camouflage" (Holz 2001: 481) bewirkt hierbei, dass die Wahrscheinlichkeit von Widerspruch herabgesetzt wird. Heute ist es u. a. der israelbezogene Antisemitismus, über den antisemitische Einstellungen folgenlos kommuniziert werden (können). So stimmten in einer 2018 in Deutschland durchgeführten, repräsentativen Studie 26,6 Prozent der Teilnehmenden der Aussage zu, dass man es "Bei der Politik, die Israel macht" gut verstehe, "dass man etwas gegen Juden hat" (vgl. Zick, Küpper, Berghan 2019: 70f.).
(3) Umgang mit gesellschaftlichem Druck auf die nationalsozialistisch verstrickte Familie
Eine drittes Erklärungsbündel richtet sich auf die Effekte, die öffentliche anti-antisemitische Normen auf die Dynamiken innerfamiliärer Kommunikation der ersten und zweiten Nachkriegsgeneration haben. In einer frühen Antisemitismusstudie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung stellte Peter Schönbach die Überlegung auf, dass die in den Nationalsozialismus involvierte erste Generation auf den öffentlichen Anti-Antisemitismus reagierte, indem sie sich innerhalb des Familienzusammenhangs für ihre Verstricktheit durch nachträgliche Rechtfertigungen der Judenverfolgung entschuldigte (vgl. Schönbach 1961: 80). Antisemitismus dient hierbei der Stabilisierung von sozialen Beziehungen, insofern als den Opfern zumindest eine Mitschuld an ihrer Verfolgung zugeschrieben wird. Hieran können dann Prozesse der innerfamiliären Tradierung des Antisemitismus anschließen – zumindest dann, wenn die zweite Generation die antisemitischen Einstellungen der Eltern übernimmt, um die für sie identitätsstiftenden Bilder von Vater und Mutter moralisch rein zu halten (vgl Rommelspacher 1995: 83). Inwiefern dieser Prozess auch für die Dritte und Vierte Nachkriegsgeneration eine Rolle spielt, ist nicht eindeutig geklärt.
(4) Reaktion auf Antisemitismus- und Nationalismuskritik
Sekundärantisemitische Äußerungen sind auch in Reaktionen auf die Kritik des je gegenwärtigen Antisemitismus zu beobachten. Sie dienen dann dazu, sich selbst oder unter Druck geratene Sozialzusammenhänge (z. B. von Antisemitismuskritik betroffene Parteien) sowie sozial oder politisch nahestehende Personen gegen Antisemitismuskritik abzuschirmen. Zu diesem Zweck wird vom eigentlichen Thema des Antisemitismuskonflikts abgelenkt, indem antisemitismuskritische Positionen selbst unter Ideologieverdacht gestellt oder entwertet werden.
Diese Strategie verfolgte beispielsweise Jamal Karsli im Kontext der Möllemann-Affäre, als er die Vielzahl anti-antisemitischer Interventionen als Ausdruck eines "Einfluss[es] der zionistischen Lobby" darstellte, die "jede auch noch so bedeutende Persönlichkeit ,klein' kriegen“ könne (vgl. Rensmann 2004: 446). Sich an Antisemitismusdebatten beteiligenden Jüdinnen und Juden wird zudem immer wieder eine vermeintliche Überempfindlichkeit, Unfähigkeit oder Unwilligkeit vorgeworfen, sich bezüglich des Themas Antisemitismus neutral zu verhalten, was sie als gleichberechtigte Diskurspartner(innen) delegitimiert und als "Außenstehende" markiert. So wurde beispielsweise im Zusammenhang der
Weiterhin kommt dem sekundären Antisemitismus im Zusammengang mit Nationalismuskritik eine Rolle zu. Als "Paradoxie der Normalisierung" (Holz 2007) wird der Umstand bezeichnet, dass die Etablierung einer anti-antisemitischen Erinnerungskultur den deutschen Nationalismus nach 1945 in eine widersprüchliche Lage gebracht hat. Einerseits ist die positive Bezugnahme auf die Idee einer deutschen Nation aus dem Feld der Politik nicht einfach verschwunden. Andererseits hat sich in zunehmendem Maße ein politisches Paradigma etabliert, wonach sich der positive Bezug auf die Nation nur durch die Abgrenzung von den Verbrechen der Nationalsozialisten legitimieren lässt. Dies aber wiederum erschwert eine restlose Normalisierung deutscher Identität, und verunmöglicht sie dort, wo das Bedürfnis nach einer bruchlosen Identifikation mit der deutschen Geschichte sich Bahn bricht. Wer der begrenzten politischen Identifikationsmöglichkeit den Stachel ziehen will, muss die Bedeutung der Erinnerung relativieren bzw. diskreditieren oder die in der Paradoxie der Normalisierung enthaltene Nationalismuskritik selber angreifen.
Heute spielen insbesondere rechtsextreme Politiker(innen) auf der Klaviatur sekundär-antisemitischer Rhetoriken. Das ist z. B. der Fall, wenn Björn Höcke ein vermeintlich mangelndes Selbstbewusstsein der Deutschen als Resultat einer "nach 1945 begonnenen, systematischen Umerziehung" (Der Tagesspiegel, 19.1.2017) bezeichnet. Explizit judenfeindliche Argumentationen lassen sich hieran direkt anschließen und bieten dann die Möglichkeit der weitergehenden Personalisierung. Die Wirkmacht von nationalismuskritischen Normen wird hierbei direkt auf die vermeintlichen Macht "der Juden" zurückgeführt.
Sekundärer Antisemitismus zur Neutralisierung von Nationalismuskritik hat allerdings nicht nur eine politische, sondern auch eine psychologische Dimension. In entsprechenden Erklärungsansätzen wird vorausgesetzt, dass die "überwertige Identifikation" (vgl. Pollock 1955: 281) mit der deutschen Nation durch ein zumindest latentes Bewusstsein über die Bedeutung von Auschwitz zugleich auch infrage gestellt wird. Die daraus resultierende Frustration wird bewältigt, indem der Widerspruch als Ausdruck einer "die Deutschen" stigmatisierende Erinnerungskultur imaginiert und ihre Entstehung auf jüdischen Einfluss zurückgeführt wird. Mit der Vorstellung, ein Opfer einer auf diese Weise dominierten Erinnerungskultur zu sein, lässt es sich dann leichter leben, als mit der Erkenntnis, sich im Grunde nicht mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzen zu wollen.
(5) Bewältigung von (entlehnten) Schuldgefühlen
Eine weitere psychologische Erklärung des sekundären Antisemitismus basiert auf der Überlegung, dass in der Kriegsgeneration Schuld- und Schamgefühle zumindest latent vorhanden waren und aus den Verstrickungen in das nationalsozialistische Verfolgungssystem resultieren. Im sekundären Antisemitismus werden diese unbequemen Gefühle durch den psychologischen Mechanismus der Projektion abgewehrt. Schuld und Schamgefühlen wird ausgewichen, indem Jüdinnen und Juden sowie jüdische Institutionen als rachsüchtig und nachtragend imaginiert werden. Der israelische Psychoanalytiker Zwi Rex hat diese Überlegung einmal durch die paradox anmutende Formulierung ausgedrückt, dass "die Deutschen den Juden Auschwitz niemals verzeihen werden".
Dadurch wird allerdings nicht erklärlich, warum auch Angehöriger der zweiten, vor allem aber dritten und vierten Generation Schuldgefühle abwehren sollten. Manche Sozialpsycholog(inn)en gehen davon aus, dass Schuldgefühle von den nachfolgenden Generationen übernommen werden, wenn diese nicht von den Angehörigen der ersten Generation aufgearbeitet worden seien. Dann ist von "entlehnten Schuldgefühlen" (Vogt/Vogt 1997: 500ff.) die Rede. Deren Spezifikum besteht darin, dass sie keinen wirklichen Inhalt haben, da die Frage nach der Schuld "aus ihrem Zusammenhang genommen und dadurch unkenntlich gemacht" (Rommelspacher 1995: 96) wird. Anstatt die Ursache dieser Emotionen in der Beziehung zu ihren Großeltern und Eltern zu suchen, projizieren die Nachgeborenen im sekundären Antisemitismus die "Ursache ihrer eigenen Schuldgefühle ungebremst auf die Juden, die anscheinend immer Schuldabgleichung fordern" (ebd.: 125). In diesem Zusammenhang können dann auch
Dieses Abwehrreaktionsverhalten wird besonders in der für die psychologische Schuldentlastung wirksamen Vorstellung deutlich, dass Israel mit den Palästinensern im Prinzip das mache "was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben" – eine Aussage, der rund 40 Prozent der Befragten in der oben bereits zitierten Mitte-Studie zustimmten.
Schlussfolgerungen
Die Tatsache, dass verschiedene Erklärungsansätze für sekundärantisemitische Phänomene vorliegen, lässt sich als Ausdruck der Komplexität des Gegenstandes verstehen. Sekundärer Antisemitismus verweist zugleich auf eine antisemitische Deutung des Anti-Antisemitismus nach Auschwitz, den Versuch diesen zu unterlaufen und zu delegitimieren und – im psychologischen Sinn – auch auf dessen Scheitern. In vielen Fällen des sekundären Antisemitismus werden unterschiedliche Ursachen zusammenspielen, aber deren Konstellation ist nicht immer eindeutig zu erkennen. Wie ist z. B. der Umstand zu deuten, dass 2018 rund ein Viertel der Befragten der Mitte-Studie der Aussage teilweise, eher oder voll und ganz zustimmen, dass "viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen"? Die Zustimmung kann – für je spezifische Teilgruppen – als Ausdruck mehrerer der oben benannten Ursachenbündel interpretiert werden. Problematisch ist auch eine pauschale Zuordnung
Abschließend kann ein historischer Rückgriff deutlich machen, dass schon Ende des 19. Jahrhunderts,