Im Februar 2019 veröffentlichte Jacek Bartzyl, Historiker und Professor an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń, einen Post bei Facebook. Darin bezeichnete er die Juden unter anderem als "einen Stamm von Giftschlangen, voller Stolz, Gift und Wut", der die Polen "hasst und auf sie spuckt."
Diese antisemitischen Vorfälle geschahen nicht im luftleeren Raum. Wie die Daten zu Hassverbrechen zeigen, die jedes Jahr von der polnischen Polizei ermittelt werden, wurden in Polen in den vergangenen fünf Jahren mindestens 100 Gewaltdelikte gegen Juden pro Jahr verübt.
Der historische Kontext
Seit fast tausend Jahren leben Juden in Polen. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte Polen einen der höchsten jüdischen Bevölkerungsanteile weltweit: Über 3 Millionen Juden lebten damals im Land, was etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach.
Vorurteile gegenüber Juden und antisemitische Einstellung sind sowohl Spiegel der früheren polnisch-jüdischen Beziehungen als auch das Ergebnis historisch-gesellschaftlicher Strukturen. So kann etwa die Wahrnehmung der Juden als gierig, aber auch geschäftlich erfolgreich teilweise damit erklärt werden, dass es Christen in Europa im Mittelalter verboten war, Geld zu verleihen, weil die Kirche Zinsen auf geliehenes Geld für eine Sünde hielt. Einige Juden besetzten diese wirtschaftliche Nische und wurden Geldverleiher – Bankiers und Steuereintreiber. Die damit einhergehende finanzielle Konkurrenzsituation trug zu der Vorstellung bei, Juden seien nur ihren eigenen Leuten loyal verbunden.
Der Antisemitismus der Moderne lässt sich in Polen wie in anderen europäischen Ländern auf kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen Mitte des 19. Jahrhunderts zurückführen. Umbrüche wie die Industrielle Revolution, die allmähliche Modernisierung und die Ausbildung einer Kapitalwirtschaft in Kombination mit Emanzipationsbestrebungen und einem rapiden Städtewachstum wirkten sich massiv auf die Gesellschaftsstruktur Europas aus. Mit diesen Veränderungen wandelten sich auch die alten antijudaistischen Einstellungen, die auf religiösen Motiven basierten, zu einem modernen politischen Antisemitismus.
Die Zeit der nationalsozialistischen Besatzung Polens 1939 bis 1945 hatte natürlich unmittelbare Auswirkungen auf die polnisch-jüdischen Beziehungen. Der von Nazi-Deutschland organisierte und durchgeführte Holocaust fand größtenteils in Polen statt.
Jüdinnen und Juden, die fliehen konnten und sich verstecken mussten, waren auf die Mithilfe ihrer polnischen Nachbarn angewiesen – dies unter dem Einfluss massiver antisemitischer Nazi-Propaganda und Gesetzen, die zu schweren Bestrafungen für jegliche Form der Hilfe für Jüdinnen und Juden führten. Gleichwohl gibt es viele Beispiele heroischen Einsatzes von Teilen der polnischen Bevölkerung, die in der Rettung ihrer jüdischen Nachbarn involviert waren. Und gleichzeitig gab es Menschen, die nicht halfen oder helfen konnten, die indifferent blieben und solche, die an der Verfolgung teilnahmen. Dies reichte von Denunziationen zum eigenen materiellen Vorteil, bis hin zu organisierten Pogromen und Massenverbrechen (beispielsweise in Radziłów und Jedwabne
Studentenproteste in Warschau am 08. März 1968 (© picture-alliance, PAP)
Studentenproteste in Warschau am 08. März 1968 (© picture-alliance, PAP)
Im März 1968 entwickelten sich Studentenproteste, die laut offizieller Propaganda von Juden initiiert worden waren, zu einer antisemitischen Kampagne. Eine der Folgen war die massenhafte Entlassung von Personen jüdischer Abstammung, die außerdem gezwungen wurden, in westeuropäische Länder, nach Israel oder in die USA zu emigrieren, ohne Aussicht auf Rückkehr. Insgesamt sollen bis zu 15.000 Polen jüdischer Abstammung ausgebürgert oder zur Ausreise gezwungen worden sein. Nach dem friedlichen Übergang 1989 wurden viele antisemitische Theorien und Stereotype erneut als politisches Instrument eingesetzt, vor allem bei den Wahlen in den frühen 1990er-Jahren. In jüngster Zeit kam es zu hitzigen Debatten, bei denen die antisemitische Rhetorik wieder aufflammte. Dabei geht es um die Vergangenheit und die Rolle der Polen während der deutschen Besatzung, um ihr Mitwirken bei der Judenverfolgung und eine "Konkurrenz des Leidens" während des Holocaust. Das zeigte sich 2001 besonders deutlich, als Jan Tomasz Gross‘ Buch Nachbarn erschien. Das Buch beschreibt ein Pogrom – einen Massenmord an den jüdischen Einwohnern der Kleinstadt Jedwabne, den ihre polnischen Nachbarn 1941 an ihnen verübten. Der Vorwurf, dass Polen Juden während des Zweiten Weltkriegs töteten, wurde nicht nur als Angriff auf das positive Selbstbild betrachtet, sondern als Teil einer internationalen Verschwörung, die darauf abziele, Polen die Schuld am Holocaust zu geben, um eine Entschädigung zu erpressen, und den Heldenmut der Polen während der Besatzung zu diskreditieren.
Die jüdische Präsenz in Polen – ob in direkter Form vor dem Zweiten Weltkrieg oder danach in symbolischer Form – war stets von Bedeutung. Das Zusammenleben über Jahrhunderte, das durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen wurde, ist der Schlüssel, um die heutigen Stereotype und Einstellungen zu verstehen.
Stereotype über Juden in Polen
Soziale Stereotype sind vereinfachte Wahrnehmungen und Kenntnisse über eine Gruppe, die oft aus kulturellen Erzeugnissen stammen (Büchern, Filmen und so weiter) oder von mündlich überlieferten Traditionen (Gerüchten, Ritualen). Ein bekanntes Modell für das Verständnis von Gruppenstereotypen wurde von Susan Fiske und ihren Kolleginnen entwickelt.
Gruppen, die als inkompetent und kalt gelten – deren Stereotype also komplett negativ sind –, lösen Verachtung aus, was zu dem Wunsch führen könnte, die Mitglieder zu ignorieren und geringschätzig zu behandeln. Gruppen, die als warm und kompetent wahrgenommen werden – also mit durchgängig positiven Stereotypen –, wecken Bewunderung, was zu dem Wunsch führen kann, mit den Mitgliedern dieser Gruppe zusammenzuarbeiten. Gruppen, die als warm, aber inkompetent gesehen werden, schreibt man ein paternalistisches Stereotyp zu. Sie erregen Mitleid, was dazu führen kann, dass man ihnen helfen möchte. Und schließlich assoziiert man Gruppen, die als kalt und kompetent gelten, mit einem neidischen Stereotyp. Sie können Neid hervorrufen und den Wunsch wecken, mit den Mitgliedern dieser Gruppe zu konkurrieren. Wie Untersuchungen zeigen, sind Juden in Polen mit einem neidischen Stereotyp belegt – sie werden als kalt und kompetent wahrgenommen.
Antisemitische Einstellungen
Auch wenn Juden in Polen allgemein als kompetent und kalt gelten, ist der dahinterstehende Antisemitismus ein deutlich komplexeres Phänomen. Der multidimensionale Charakter antisemitischer Einstellungen ist zum einen auf den historischen Kontext zurückzuführen; zum anderen auf die Funktionen, die sie für antisemitisch eingestellte Menschen erfüllen, und zwar mit Blick auf ihre Wahrnehmung der Gesellschaft als Ganzes und der Wahrnehmung der Funktion Einzelner für die Gesellschaft.
dem traditionellen Antisemitismus,
dem Glauben an eine jüdische Verschwörung und
dem sekundären Antisemitismus.
Der traditionelle Antisemitismus gründet auf historischen antijudaistischen Motiven aus dem frühen Christentum, die auf religiösen Annahmen beruhen. Die Hauptströmung des traditionellen Antisemitismus ist daher eine religiöse Antipathie, die in dem Vorwurf zum Ausdruck kommt, die Juden seien aufgrund des Mordes an Jesus Gottesmörder. Anthropologische Untersuchungen zeigen außerdem, dass Antijudaismus mit abergläubischen Vorstellungen und Praktiken einhergehen,
etwa dem Glauben an Ritualmorde. Personen mit dieser Einstellung glauben oft, dass Juden früher das Blut von Christen für rituelle Zwecke verwendet hätten und dass die heutigen Juden für den Tod Jesu Christi verantwortlich seien. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen auf Grundlage repräsentativer Erhebungen zeigen, dass der traditionelle Antisemitismus eher bei älteren Personen mit geringerer Bildung sowie bei den Einwohnern von Dörfern und Kleinstädten zu finden ist. Der Glaube an eine jüdische Verschwörung ist eine moderne, nichtreligiöse Form, antijüdische Vorurteile zum Ausdruck zu bringen. Er gründet auf einer rassischen anstelle einer religiösen Definition und geht davon aus, dass Juden als Gruppe mit einer bestimmten Nation um Einfluss und Ressourcen konkurrieren. Diese Annahme ist mit der Vorstellung verknüpft, dass Juden sich massiv in die Politik und Gesellschaft eines Landes oder gleich der ganzen Welt einmischen und so versuchen, die Macht zu übernehmen.
Eine umfassende Betrachtung der Verschwörungsstereotype stammt von Mirosław Kofta and Grzegorz Sędek. Ihnen zufolge nimmt jemand, der an eine jüdische Verschwörung glaubt, Juden als homogene Gruppe war – als eine Einheit –, die im Verborgenen agiert und sehr organisiert die Umsetzung ihrer Ziele anstrebt. Der sekundäre Antisemitismus könnte am ehesten als "politisch korrekte" Form des Antisemitismus bezeichnet werden. Er wurde als erstes von deutschen Antisemitismusforschern beschrieben, die Ausdrucksformen des Antisemitismus in Deutschland nach dem Holocaust untersuchten, die stark von gesellschaftlichen Normen beeinflusst waren.
Den sekundären Antisemitismus kennzeichnet die Tendenz, die eigene antijüdische Einstellung abzustreiten, aber gleichzeitig die eigenen negativen Meinungen gegenüber Juden zu rationalisieren, indem man etwa sagt, die Juden seien selbst an ihrem Schicksal schuld. Personen, die diese Haltung vertreten, leugnen meist die historische Bedeutung des Holocaust und wollen die Vergangenheit auf sich beruhen lassen. Sie glauben an die sogenannte "Holocaust-Industrie", das heißt, sie denken, Juden würden den Holocaust instrumentalisieren, um Entschädigungen zu erhalten und sich letztlich Vorteile gegenüber anderen Gruppen zu verschaffen.
Die Differenzierung zwischen diesen drei Einstellungen ist nicht nur aufgrund ihrer qualitativen Unterschiede wichtig, sondern auch aufgrund der damit verbundenen unterschiedlichen Verhaltensweisen. Die aktuellsten Daten zur Verbreitung der jeweiligen antisemitischen Einstellungen stammen aus einer Studie, die das Zentrum für Vorurteilsforschung der Universität Warschau bei 1019 repräsentativ ausgewählten Polen im Jahr 2017 durchführte. Bei einer persönlichen Befragung wurde die Einstellung der Teilnehmer gegenüber verschiedenen gesellschaftllichen Gruppen und Themen ermittelt. Dabei wurden auch mehrere Fragen zur Haltung gegenüber Juden gestellt. Zwei Fragen bezogen sich auf den traditionellen Antisemitismus: Bei der ersten ging es um die Schuld der heutigen Juden am Tod Jesu Christi, bei der zweiten um die Vorstellung, dass Juden früher Kinder für rituelle Zwecke entführt hätten. Anhand von Aussagen wie "Juden agieren oft im Verborgenen, hinter den Kulissen" wurde der Glaube an eine jüdische Verschwörung eruiert. Diese Untergruppe bestand aus sechs Aussagen, und der Maximalwert, der dabei erreicht werden konnte, war 30. Aussagen wie "Juden verbreiten die Ansicht, Polen seien Antisemiten" wurden als Maß für sekundären Antisemitismus verwendet. In dieser Untergrupe fanden sich vier Aussagen, dabei konnte ein Maximalwert von 20 erreicht werden. Die Teilnehmer sollten ihre Antworten auf einer Skala von 1 bis 5 angeben (1 "stimme ich überhaupt nicht zu", 5 "stimme ich vollkommen zu"). Die Abbildungen 1, 2 und 3 zeigen die prozentuale Verteilung der Antworten zu den Fragen auf jeder Skala.
Verteilung der Antworten auf Fragen zum traditionellen Antisemitismus (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Verteilung der Antworten auf Fragen zum traditionellen Antisemitismus (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Die Verbreitung traditioneller antijüdischer Einstellungen in Polen ist relativ gering – etwa 24 Prozent der Befragten stimmten (zumindest in einem gewissen Ausmaß) der einen oder anderen Aussage aus diesem Bereich zu. Stärker verbreitet als der traditionelle Antisemitismus sind in Polen der Glaube an eine jüdische Weltverschwörung und der sekundäre Antisemitismus. Beim sekundären Antisemitismus liegt der Anteil der Personen, die den entsprechenden Aussagen zustimmten, je nach Frage zwischen 37 und 56 Prozent, während sich die Zahlen beim Glauben an eine jüdische Verschwörung zwischen 43 und 53,5 Prozent bewegen. Das bedeutet, dass über die Hälfte der Polen zumindest in einem gewissen Ausmaß Einstellungen des sekundären Antisemitismus vertreten und an eine jüdische Verschwörung glauben.
Es fällt auf, dass die Verbreitung antijüdischer Verschwörungstheorien und des sekundären Antisemitismus im vergangenen Jahrzehnt in Polen relativ stabil war. Der Vergleich landesweiter Daten, die in den Jahren 2009, 2013
Verteilung der Antworten auf Fragen zum sekundären Antisemitismus (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Verteilung der Antworten auf Fragen zum sekundären Antisemitismus (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Verteilung der Antworten auf Fragen zu jüdischen Verschwörungen (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Psychologische Funktionen des Antisemitismus
Wenn man bedenkt, dass der jüdische Anteil an der Bevölkerung sehr klein ist, liegt die Erklärung dafür, warum diese Einstellungen so weit verbreitet sind, unserer Meinung nach in ihrer psychologischen Funktion. Die Hauptfunktion von Verschwörungstheorien wurde vom französischen Sozialpsychologen Serge Moscovici beschrieben, der Gewalt gegen Minderheiten in revolutionären Situationen in Russland, den USA und in Indien analysierte. Er kam zu dem Schluss, dass Verschwörungstheorien ein Schema zugrunde liegt, bei dem einem inneren Feind die Schuld zugeschoben wird und man so eine einfache Erklärung für eine kognitiv problematische, unsichere oder komplexe Situation und soziale Konflikte erhält.
Der zweite wichtige Bestandteil antisemitischer Einstellungen in Polen ist der sekundäre Antisemitismus, also der Glaube, dass Juden für den gegen sie gerichteten Antisemitismus selbst verantwortlich sind und heutzutage die Schuldgefühle anderer Nationen ausnutzten.
Mit diesen Erklärungsmustern im Hinterkopf lässt sich mit Blick auf Polen sagen, dass diese Narrative in der dramatischen polnischen Geschichte (den Teilungen Polens, dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit des Kommunismus) gründen und für die Herausbildung der polnischen Identität von großer Bedeutung sind. Vor den Untaten der Eigengruppe die Augen zu verschließen, indem man den Opfern die Schuld gibt, lässt sich in aktuellen öffentlichen Debatten über die von Polen begangenen Verbrechen an Juden bei den Pogromen von Kielce
Schluss
Der Antisemitismus hat die Einstellungen der Polen gegenüber Juden seit Ende des 19. Jahrhunderts maßgeblich geprägt. Auch zwischen den beiden Weltkriegen hatte er Auswirkungen auf das politische Klima in Polen, die antisemitischen Einstellungen hatten erheblichen Einfluss auf den öffentlichen Diskurs. Mit Ende des Zweiten Weltkriegs war der Anteil der jüdischen Bevölkerung auf ein Minimum geschrumpft. Daher lässt sich die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der heutigen Gesellschaft nicht mit einem politischen, ethnischen oder ökonomischen Konflikt erklären. Das Ausmaß der antisemitischen Empfindungen bleibt rätselhaft und irritierend, denn es scheint sich um einen "Antisemitismus ohne Juden" zu handeln. Aus der Fachliteratur und unseren eigenen Daten ergibt sich als wichtigste Erklärung für dieses Phänomen die psychologische Funktion der Stereotype. Für einen Teil der polnischen Gesellschaft dienen antisemitische Einstellungen einerseits als Erklärung für Probleme und komplexe Situationen und andererseits als Mechanismus, den "guten Namen" der Nation zu schützen.