Im ersten Flugblatt der
In meinen Ausführungen will ich mich der Frage: "Wann erkennt man die Gefahr?" aus der Perspektive jener Gruppe nähern, die von dem neuen Regime als sichtbarstes kollektives Feindbild gebrandmarkt wurde. Wie haben die deutschen Juden den erstarkenden Antisemitismus nach dem
Selbstverständlich gab es keine kollektive Wahrnehmung oder gar Meinung unter den deutschen Juden. Die etwa halbe Million jüdischer Deutscher, die 1933 weniger als ein Prozent der deutschen Bevölkerung ausmachte, bestand aus Atheisten und Orthodoxen, aus Assimilierten und Zionisten, aus Städtern und Landbevölkerung, aus seit Jahrhunderten Eingesessenen und vor kurzem Eingewanderten, aus Großindustriellen und Kleinbürgern, aus Konservativen und Sozialisten, aus politisch Wachsamen und Unpolitischen. Eine gemeinsame Gruppe mit einer Ideologie oder einem Glauben bildeten sie immer nur für die Anderen, vor allem für die Antisemiten. Diese hatten sich schon seit Ende des 19. Jahrhunderts einen Platz in der politischen Landschaft des Reichs geschaffen, einige Reichstagsmandate erobert und mehrere größere Organisationen und Parteien erfolgreich unterwandert. Doch erst während und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg schlug ihre Stunde. Die
Überhaupt wurde diese Stadt nach dem Ersten Weltkrieg zum Zentrum des Antisemitismus im Reich. Daher möchte ich meine Ausführungen mit der Atmosphäre im München der frühen zwanziger Jahre beginnen. Der Wahlmünchner Thomas Mann, der Mitte der zwanziger Jahre die Verwandlung Münchens von einem Zentrum "heiterer Sinnlichkeit, von Künstlertum" und "Lebensfreundlichkeit" zu einer Stadt, die als "Hort der Reaktion, als Sitz aller Verstocktheit und Widerspenstigkeit" verschrien war, erkannt hatte, bezeichnete sie nun nicht nur als eine "dumme, die eigentlich dumme Stadt", sondern bedauerte auch, er hätte "mit Kummer sein gesundes und heiteres Blut vergiftet gesehen durch antisemitischen Nationalismus."
Tatsächlich hatte "die schöne, behagliche Stadt" in den Worten des Ur-Münchners Lion Feuchtwanger früher einmal "die besten Köpfe des Reichs angezogen. Wie kam es, daß die jetzt fort waren, daß an ihrer Stelle alles, was faul und schlecht war im Reich und sich anderswo nicht halten konnte, magisch angezogen nach München flüchtete?"
Ich habe versucht, diese Entwicklung ausführlich in meinem Buch Der lange Schatten der Revolution zu beschreiben.
Die Münchner Juden verschlossen mit Beginn der antijüdischen Agitation nach dem Aufstieg der neuen nationalsozialistischen Bedrohung durchaus nicht die Augen vor der neuen Gefahr. Im Oktober 1920 begab sich Rabbiner Leo Baerwald in die Höhle des Löwen. Gemeinsam mit fünf jüdischen Begleitern besuchte er eine NSDAP-Versammlung, in der die jüdische Religion und insbesondere der Talmud verleumdet wurden. Der Rabbiner wollte der Verleumdung mit Argumenten entgegnen und Fakten anbringen. Man ließ ihn nicht zu Wort kommen, sondern übertönte seine Ausführungen mit Gebrüll. Seine Begleiter wurden mit Gummiknüppeln misshandelt und die Treppe hinuntergestoßen.
Zumeist sind es Berichte aus der Rückschau, die wir besitzen, und die – oftmals viele Jahre später verfasst – nun davon ausgehen, man hätte die Gefahr damals schon wahrgenommen. Aus der Rückschau der Ärztin Rahel Straus etwa hatten die Beunruhigung und Erbitterung in der Zeit von Revolution und Gegenrevolution einen dunklen Schatten auf das Leben der Münchner Juden geworfen, der niemals wieder zur Gänze verschwand: "Das Leben ebbte in sein normales Bett zurück, und doch war es nicht mehr wie zuvor, und wurde auch nie mehr so. Es hatte ja immer
Doch sind diese Berichte eben auch gezeichnet durch die späteren Erfahrungen aus der Zeit nach 1933. Der Literaturwissenschaftler André Bernstein prägte den Begriff des "historical backshadowing". Die nachfolgenden Ereignisse werfen sozusagen ihre Schatten nach hinten aus und beeinflussen unsere Beurteilung der zurückliegenden Ereignisse. Denn der Gang der zukünftigen Ereignisse verläuft ja keineswegs zwangsläufig. Stellen wir uns ruhig einen Moment lang vor: Wären nicht Kurt Eisner und Walther Rathenau Attentaten zum Opfer gefallen, sondern Adolf Hitler beim Putschversuch im November 1923 erschossen worden, so wäre vielleicht – keiner weiß es genau – die nationalsozialistische Bewegung eine kurze Episode der Nachkriegszeit geblieben. Hätte es kein 1933 in der deutschen Geschichte gegeben, dann würden wir aus der Rückschau die Geschichte der zwanziger Jahre völlig anders bewerten – auch wenn diese natürlich nachträglich nicht anders verlaufen wäre. Ich möchte hier keine kontrafaktische Geschichtsschreibung betreiben – doch ist für die Zeitgenossen eben nie klar, welchen weiteren Lauf die Geschichte nehmen wird. Es sind immer mehrere Wege denkbar. Erst nach 1933 war klar, dass die politischen Morde an Eisner, Rathenau und vielen anderen einen Weg einleiteten, der im Untergang der Weimarer Republik enden sollte. Doch 1924 oder 1928 glaubten viele daran, dass es sich um eine Krise der Republik handelte, aus der man wieder herausfinden würde – oder gar schon herausgefunden hatte.
Auch die deutschen Juden der Weimarer Jahre hegten diese Hoffnung. Die überwiegende Mehrheit war davon überzeugt, dass sie sich in dem Land, in dem viele ihrer Vorfahren seit Jahrhunderten lebten, nicht fremd oder bedroht fühlen müssten, dass der Schrecken des Antisemitismus vorübergehen würde. Viele behaupteten stolz, es lebten bereits zur Römerzeit Juden an Rhein und Donau, noch bevor sich das Christentum hier ausgebreitet hatte. Und sie sollten nun beweisen müssen, dass sie echte Deutsche seien? Gewiss, der Antisemitismus dieser Jahre war nicht zu übersehen, aber gleichzeitig nahmen sie nun auch wahr, dass ihnen Türen geöffnet wurden, die ihnen im Kaiserreich noch verschlossen waren: sie konnten nun eben tatsächlich Minister werden wie Walther Rathenau, Präsident einer Universität wie der Philosoph Ernst Cassirer in Hamburg, oder auch Präsident der Akademie der Künste in Preußen wie der Maler Max Liebermann. Die Weimarer Zeit war eine Zeit der Chancen wie auch der Gefahren für die deutschen Juden. Welche dieser beiden sich als größer und letztlich entscheidend erweisen würde, konnte vor 1933 niemand wissen.
Eine Zeit der Chancen nicht nur für die sogenannten assimilierten Juden, sondern auch für die Orthodoxen, die oftmals deutsch und bayerisch patriotisch dachten und in Bayern ganz offen zur Wahl der katholischen Bayerischen Volkspartei aufriefen. Und vergessen wir nicht, dass auch die meisten Zionisten im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hatten und vor allem den armen und verfolgten Juden Osteuropas helfen wollten, sich aus ihrer gefährlichen Lage zu befreien. Selbst nach Palästina zu emigrieren – das hatten vor 1933 die wenigsten der deutschen Zionisten in ihr Lebensprogramm aufgenommen.
Natürlich gab es Ausnahmen, wie etwa jenen Gerhard Scholem, der 1922 in München seine Dissertation ablegte und danach in Jerusalem als Gershom Scholem der Begründer der modernen Erforschung der jüdischen Mystik und später der wohl bedeutendste Intellektuelle des jungen Staates Israel wurde. Scholem warf den deutschen Juden aus der Rückschau vor, sie wären blind gewesen, sie hätten sich eine deutsch-jüdische Symbiose vorgegaukelt, die in der Realität aber eine sehr einseitige Angelegenheit gewesen wäre. Scholem war einer der ganz wenigen deutschen Zionisten, die tatsächlich schon in den zwanziger Jahren Deutschland verließen.
Aus Jerusalem bemerkte Scholem später zur Blindheit der Münchner Juden gegenüber dem Aufstieg des Nationalsozialismus: "Natürlich hatte ich Gelegenheit, den aufkommenden Nationalsozialismus an der Universität von nahe kennenzulernen. Die Atmosphäre in der Stadt war unerträglich und der Antisemitismus – meist noch in den konservativen Formen eines groben Bayerntums – war offensichtlich, was heute oft übersehen und in gedämpfteren Farben dargestellt wird, als es wirklich war. Unübersehbar waren die riesigen blutroten Plakate mit dem nicht weniger blutrünstigen Text, die zu den Reden Hitlers einluden… Aber es war doch erschreckend, die Blindheit der Juden, die von alledem nichts wissen und nichts sehen wollten, wahrzunehmen. Sie hielten das alles für eine vorübergehende Erscheinung. Das belastete meine Beziehung zu Münchener Juden sehr, da sie außerordentlich kribbelig und böse wurden, wenn man die Rede darauf brachte."
Heute wissen wir aus der Rückschau: Scholem hatte recht – und die meisten Münchner Juden hatten sich getäuscht. Aber konnte man das 1923, als er Deutschland verließ, wirklich wissen? Selbst Scholem ahnte ja nicht das Ausmaß der Katastrophe, als Hitler dann zehn Jahre später wirklich an die Macht kam. Am 5. April 1933 schrieb er seiner Mutter unter Bezug auf die Vertreibung der Juden aus Spanien am Ausgang des Mittelalters, dass Hitler wohl etwas ganz Ähnliches beabsichtige: die Juden zu vertreiben.
Andere malten, auch schon frühzeitig, den möglichen kommenden Schrecken in der Form einer literarischen Fiktion an die Wand. Bereits elf Jahre bevor Hitler an die Macht kam hatte der Wiener Schriftsteller Hugo Bettauer seinen "Roman von übermorgen" Die Stadt ohne Juden veröffentlicht.
Daraus wurde wenig später ein erfolgreicher Stummfilm und 1925 ein Remake des Berliner Reiseschriftstellers Artur Landsberger, der wiederum die Schreckensvision eines Berlin ohne Juden entwarf. Eine Schreckensvision für die Juden auf der einen Seite: 97 ältere deutsch-jüdische Patrioten, die darauf bestehen, in deutscher Erde bestattet zu werden, scheiden in Landsbergers Berlin freiwillig aus dem Leben; gleichzeitig ergießt sich ein Strom hunderttausender von Emigranten über Deutschlands Grenzen. Eine Schreckensvision aber auch für die zurückgebliebene deutsche Bevölkerung. Während das kulturelle und wirtschaftliche Leben in anderen europäischen Zentren aufblüht, heißt es in Berichten über die Reichshauptstadt: "Berlin ist tot.” Rechtsanwälte und Ärzte waren kaum noch aufzufinden, die Börse stand leer, Herr und Frau Adlon begrüßten persönlich jeden Hotelgast, und Reisende, die aus der Bahnhofshalle nach einem Taxi Ausschau hielten, fanden lediglich "eine Droschke mit zerlumptem Kutscher und einem Pferd, dem die Rippen zentimeterhoch herausstanden.” Ganz ähnlich in Bettauers Wien, wo die bäuerliche Bevölkerung die Stadt erobert hat, Loden zur großen Mode werden, die Gäste sich im Hotel Imperial in der Badewanne ihre Jägerwäsche waschen und die Börse zusammenbricht. "In den Schauspielhäusern wird ununterbrochen Ganghofer und Anzengruber gespielt."
Ganghofer und Anzengruber zu spielen – dies war das Schlimmste, was die beiden Schriftsteller sich im Falle einer antisemitischen Herrschaft vorstellen konnten. So verwundert es kaum, dass beiden Romanen ein Happy End aufgesetzt ist. Die Not und Verzweiflung über den Verlust der jüdischen Bevölkerung ist in Wien wie auch in Berlin sehr bald so groß, dass man die Vertriebenen am Ende verzweifelt zurückruft. Dass wenige Jahre später Wien und Berlin in der Tat Städte ohne Juden werden sollten, und dass diese nicht nur vertrieben, sondern erschossen, erschlagen und vergast werden sollten, konnten sich die Autoren dieser dystopischen Romane in ihrer ärgsten Schreckensvision nicht vorstellen. Dabei war dem Leben der Autoren der beiden Werke, die Wien und Berlin selbst nicht verließen, kein Happy End beschert. Bettauer wurde schon 1925 von einem Rechtsextremisten in Wien ermordet. Und Landsberger setzte, so wie er es acht Jahre zuvor am Beispiel von 97 deutschen Staatsbürgern jüdischen Glaubens in seinem Buch beschrieben hatte, noch 1933 seinem Leben selbst ein Ende.
Eine weitere fiktive Schreckensvorausschau veröffentlichte unter dem Pseudonym Kaspar Hauser der Satiriker Kurt Tucholsky in der linken Zeitschrift Die Weltbühne. Im letzten der sechzehn Aufsätze über seinen "Herrn Wendriner", der das auch von den Antisemiten geprägte Abbild des gehetzten, egozentrischen, materialistischen deutschen Juden darstellte, erzählt Tucholsky im Jahre 1930, wie dieser seinen Frieden mit einer – damals noch fiktiven – Nazidiktatur macht. Herr Wendriner, im Besitz einer "gelben Karte", ist sich seiner Immunität als "Schutzbürger" sicher und begrüßt die Disziplin, die das neue Regime eingeführt hat, während er an dem Antisemitismus, der sich gegen die Ostjuden richtet, nichts auszusetzen findet. Tucholsky konnte sich als schlimmste Verfolgungsmaßnahme gegen die deutschen Juden nur die Einführung einer "gelben Karte" vorstellen, während der eigentliche Antisemitismus sich an den Juden osteuropäischer Herkunft austobte.
Bereits in den Jahren vor 1933, als eine mögliche nationalsozialistische Herrschaft nicht mehr wie ferne Zukunftsmusik klang, entwarfen deutsche Juden aber durchaus konkrete Abwehrstrategien, die nicht auf Kosten der osteuropäischen Juden oder der Zionisten und Marxisten gingen, sondern sich an den Autonomiekonzepten in Osteuropa orientierten. Damit waren sie bereit, auf gewisse individuelle Rechte zu verzichten, wenn sie den korporativen Status einer rechtlich autonomen, notfalls auf niedrigerer Ebene stehenden Gemeinschaft erhielten.
So überraschte im Mai 1932 der Stuttgarter jüdische Rechtsanwalt und Schriftsteller Karl Lieblich die jüdische Öffentlichkeit, indem er als Anhang an einen Vortrag mit dem Thema "Was geschieht mit den Juden" eine "Öffentliche Frage an Adolf Hitler" richtete. Lieblich appellierte an den Führer der sich zu diesem Zeitpunkt noch in der Opposition befindenden Nationalsozialisten, bei der Schaffung einer jüdischen Autonomie in Deutschland mitzuhelfen.
Andere planten bereits seit Anfang der dreißiger Jahre eine mögliche Flucht aus Deutschland. So entschieden die führenden Köpfe des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Max Horkheimer, Leo Löwenthal und Friedrich Pollock, einen Tag nach den Reichstagswahlen vom September 1930, für den Notfall eine Zweigstelle des Instituts in Genf einzurichten. Als Hitler dann aber über zwei Jahre später wirklich an die Macht kam, waren zwar wichtige Vorbereitungen zur Verlagerung des Instituts getroffen, doch die politische Veränderung traf sie überraschend, wie der Biograph Friedrich Pollocks, Philipp Lenhard, schildert: "Trotz aller düsteren Vorahnungen und klugen Vorsichtsmaßnahmen waren Pollock und seine Kollegen entwurzelt, ausgestoßen und erniedrigt; trotz aller provisorisch geschaffenen Handlungsoptionen standen sie dem Sturm, der ihnen entgegenblies, weitgehend ohnmächtig gegenüber."
Dass sie überhaupt an die Macht gelangen konnten, blieb selbst für viele der mit dem politischen System am besten vertrauten Vertreter des deutschen Judentums noch bis zum letzten Moment unvorstellbar. Der ehemalige Staatssekretär ins Reichsfinanzministerium Hans Schäffer etwa notierte bereits nach den Septemberwahlen 1932 in sein Tagebuch, der Verlust der Nazis an Wählerstimmen sei nun "der Anfang vom Ende" des nationalsozialistischen Erfolgs. Einen Tag vor Hitlers Ernennung zitierte er voller Zuversicht Reichskanzler Schleicher mit den Worten, "wir brauchen gar keine Bedenken haben. Die Reichswehr werde Hitler als Kanzler nicht anerkennen. Wenn Hitler Gewalt anwenden wollte, so sei auf das Reiterregiment in Potsdam, das in Bereitschaft liege, voller Verlaß."
Es mutet gespenstisch an, wenn man sich heute in Erinnerung ruft, dass eine Woche vor der
Wie reagierten nun die unterschiedlichen Richtungen im deutschen Judentum auf die Ernennung eines bekennenden Antisemiten zum Reichskanzler? Die führenden Zeitungen der deutschen Juden suchten in dieser Zeit extremer Beunruhigung zunächst einmal ihre Leser zu beruhigen. Jede Gruppe tat dies auf ihre eigene Weise. In der liberalen Zeitung C-V.-Zeitung des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens wird am 2. Februar 1933 vor allem dies gefordert: "Auch in dieser Zeit werden die deutschen Juden ihre Ruhe nicht verlieren, die ihnen das Bewußtsein untrennbarer Verbundenheit mit allem wirklich Deutschen gibt."
Auch im orthodoxen Lager hieß zunächst die Parole "Ruhig abwarten!" So formulierte es die orthodoxe Zeitung Der Israelit drei Tage nach Hitlers Ernennung zum Kanzler.
Die
In der Tat ist eine Rückbesinnung aufs Judentum nun häufig zu beobachten. Symptomatisch dafür mag man nennen, wie sich am 25. Juli 1933 der Komponist Arnold Schönberg, der 1898 in Wien zum Protestantismus konvertiert war, in Paris in eine liberale Synagoge begab und den Rabbiner Louis Germain Levy bat, wieder ins Judentum aufgenommen zu werden. Als Zeugen hatte er Marc Chagall und David Marianoff mitgebracht, den Schwiegersohn Albert Einsteins. Einstein selbst war bereits am 28. März aus der Preußischen Akademie der Wissenschaften ausgetreten, woraufhin diese klarstellte, dass sie seinen Schritt nicht im Geringsten bedaure. Eine Woche später schrieb Einstein an die Bayerische Akademie der Wissenschaften: "Die deutschen gelehrten Gesellschaften haben – so viel mir bekannt ist – es schweigend hingenommen, daß ein nicht unerheblicher Teil der deutschen Gelehrten und Studenten sowie der aufgrund einer akademischen Ausbildung Berufstätigen ihrer Arbeitsmöglichkeit und ihres Lebensunterhalts beraubt wird. Einer Gesellschaft, die – wenn auch unter äußerem Druck – eine solche Haltung einnimmt, möchte ich nicht angehören."
Am 8. Juni 1933 fasste der Maler Max Liebermann in einem Brief an den hebräischen Dichter Chajim Nachman Bialik und den Tel Aviver Bürgermeister Meir Dizengoff die Gefühle vieler deutscher Juden zusammen: "Wie ein furchtbarer Alpdruck lastet die Aufhebung der Gleichberechtigung auf uns allen, besonders aber auf den Juden, die, wie ich, sich im Traume der Assimilation hingegeben hatten. ... So schwer es mir auch wurde, ich bin aus dem Traume, den ich mein langes Leben geträumt habe, erwacht."
Doch war es denn sein Leben lang wirklich nur ein Traum? Wann erkennen wir, was Wirklichkeit und was Traum ist? Erst nachdem man aufwacht. Immer wieder heißt es heute: "Wehret den Anfängen" – doch erkennt man die Anfänge nicht immer erst dann, wenn es bereits nicht mehr die Anfänge sind?
Wann aber war das Maß voll? Als es am 1. April 1933 zum Boykott jüdischer Geschäfte kam? Als in Folge des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums am 7. April zunächst die jüdischen Beamten, dann auch Arbeiter und Angestellte bei den Behörden und jüdische Honorarprofessoren, Privatdozenten und Notare entlassen wurden? Als ab dem 22. April jüdische Ärzte nicht mehr für Krankenkassen arbeiten durften? Als am 25. April ein numerus clausus für jüdische Studierende eingeführt wurde? Als am 10. Mai die Bücher jüdischer und regimefeindlicher Autoren brannten?
Immerhin: Etwa 37.000 Juden verließen Deutschland noch im Jahre 1933. Dies waren zwar nur etwa 7% der deutsch-jüdischen Bevölkerung, und in den Nachfolgejahren bis 1938 sollten es noch weniger werden. Aber man muss sich vor Augen halten, welch radikale Entscheidung eine Emigration darstellt: den Bruch mit Familie, Freunden und Kollegen, die berufliche Ungewissheit und oftmals im wörtlichen Sinne die Sprachlosigkeit. Dagegen stand die Hoffnung, dass alles rasch vergehen würde, dass der Spuk Hitler verschwinden oder dass man zumindest mit eingeschränkten Rechten in Deutschland weiterleben könnte. Irgendwie werde man sich schon arrangieren können, so war die durchgängige Meinung.
Für die in Deutschland verbliebenen Juden wurde der Bewegungsspielraum in den Jahren danach immer enger. Vor allem im Jahr 1938 verbannten immer neue Gesetze sie in ein gesellschaftliches, kulturelles und wirtschaftliches Ghetto, bis dann im November auch die lebensbedrohliche Gefahr den meisten von ihnen bewusst wurde. Wer es schaffte, verließ Deutschland bis zum Kriegsausbruch; wer danach noch blieb, hatte kaum noch Chancen aufs Überleben.
Als Hans Scholl und Alexander Schmorell im Juni 1942 ihr erstes Flugblatt verfassten, waren die Massenmorde in den Vernichtungslagern Belzec und Sobibor bereits in vollem Gange, das Krakauer Ghetto wurde abgeriegelt, und die Transporte aus dem Warschauer Ghetto nach Treblinka sollten bald danach beginnen. Das von Gerhart Riegner, dem Vertreter des Jüdischen Weltkongresses in der Schweiz, in den Westen geleitete Telegramm mit ersten Einzelheiten über die Massenvernichtung, stieß auf Desinteresse. Die Gefahr konnte nun gewiss nicht mehr verkannt werden, doch was konnte man jetzt noch tun? Die im Reich verbliebenen Juden waren völlig recht- und auch mittellos geworden, halb Europa stand unter nationalsozialistischer Herrschaft oder war mit dem NS-Regime verbündet, und die Alliierten hatten alle Hände voll zu tun, nicht selbst Opfer des "unersättlichen Dämons", wie es in dem Flugblatt hieß, zu werden.
Nun war es zu spät: Zu spät, um den Massenmord an Anderen aufzuhalten, aber auch, um sich selbst zu helfen, wie es Pfarrer Martin Niemöller in einem Zitat, das man eigentlich nicht oft genug wiederholen kann, ausdrückte:
QuellentextPfarrer Martin Niemöller
"Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte."
Die Juden kamen interessanterweise in seinem Originalzitat nicht vor. Für diese war es in Europa seit langem zu spät geworden. Als der braune Spuk am
Ein kleiner Rest der europäischen Juden hatte überlebt. Unter ihnen waren auch meine Eltern. Mein Vater wurde am 8. Mai 1945 in Waldenburg, einem Außenlager des KZ Groß-Rosen, nach über fünf Jahren in zahlreichen Ghettos und Konzentrationslagern von der Roten Armee befreit. Seine Eltern und der Großteil seiner Familie hatten nicht überlebt. Meine Mutter wurde am gleichen Tag zusammen mit ihren Eltern ebenfalls von Soldaten der Sowjetarmee aus ihrem Versteck in Dresden befreit. Nach mehreren Jahren
Gemeinsam mit weniger als 30.000 anderen jüdischen Überlebenden und Rückkehrern aus dem Exil – einer winzigen Minderheit von 0,05% der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik – trugen sie dazu bei, die kleine jüdische Gemeinschaft in Deutschland wiederzubegründen. Ich weiß nicht, ob sie langfristig planten oder tatsächlich nur eine vorübergehende Existenz in dem Land, von dem die Vernichtung ihrer Familien ausging, im Auge hatten. Niemand wusste das wohl damals so genau. Doch je länger sie blieben, umso mehr Hoffnung setzten sie auf einen Neuanfang in Deutschland. Sie nahmen wahr, wie der in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende noch so schwierige Umgang mit der jüngsten Geschichte ab den siebziger Jahren einem ernsthaften Versuch Platz machte, sich der Vergangenheit zu stellen. Sie halfen mit, die nach dem Mauerfall 1989 ins Land kommenden jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland zu integrieren. Sie sahen die Eröffnung jüdischer Museen und neuer Synagogen wie auch des Mahnmals für die ermordeten Juden zu Beginn der 2000er Jahre als Zeichen der Zuversicht und einer besseren Zukunft.
Die Juden in Deutschland haben auch nach dem Schrecken des
Mittlerweile hat dieser Keim aber Knospen getrieben, hässliche Knospen, braune Knospen. Wenn 75 Jahre nach Auschwitz Juden, oder diejenigen, die dafür gehalten werden, auf der Straße beschimpft, bespuckt oder geschlagen werden; wenn der Zentralratspräsident und der Antisemitismusbeauftragte der Bundesrepublik zu dem Ergebnis kommen, man könne in bestimmten Gegenden nicht zum Tragen einer Kippa raten; wenn das Wort "Jude" in Schulklassen und Fußballstadien als beliebtestes Schimpfwort gilt; wenn eine Partei, deren Vorsitzender den Nationalsozialismus als "Vogelschiss in unserer über 1000jährigen Geschichte" bezeichnet, in manchen Bundesländern jede vierte Wählerstimme erhält; wenn ein Externer Link: Massaker gegen Betende in einer Synagoge nur durch das wunderhafte Standhalten einer Holztüre verhindert wird; wenn
Etwas ist heute doch anders als damals, als 1923 oder 1933, etwas ganz Entscheidendes. Wir wissen heute, nach Auschwitz, wohin Rassenhetze und Antisemitismus führen können. Und noch etwas ist anders: Im Gegensatz zu den zwanziger und dreißiger Jahren
Doch zurück nach Deutschland. Die wenigen Juden, die zum Wiederaufbau Deutschlands, und vor allem zu seiner moralischen Anerkennung in der Welt keinen kleinen Teil beitrugen, taten dies in der Überzeugung und unter der Bedingung, dass der Antisemitismus in diesem Land – nach den beispiellosen Verbrechen – wenn auch nicht völlig verschwinden, dann doch zumindest auf eine kleine Randgruppe beschränkt bliebe. Heute muss man sich fragen: Wann ist der Punkt gekommen, an dem auch die jüdische Existenz wieder in Frage gestellt wird? Die Repräsentanten jüdischen Lebens haben unlängst ausgedrückt, wann für sie ein Weiterleben hierzulande nicht mehr möglich sein wird. Sowohl Michel Friedman wie auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, haben in Interviews den Eintritt der AfD in eine Koalitionsregierung als einen solchen Marker genannt.
Trotz allem Anlass zur Skepsis, lassen Sie uns aber nicht vergessen: Es gibt auch Gegenmaßnahmen, Zeichen der Hoffnung, vorsichtigen Grund zum Optimismus. Wir leben in einer liberalen Demokratie, die im Unterschied zur Weimarer Republik von der großen Mehrheit des Volkes getragen ist und zu deren Verteidigung Menschen öffentlich auf die Straße gehen. Wir haben Gesetze, die im Rahmen der Meinungsfreiheit zumindest einen Teil der antisemitischen Verleumdungen nicht ohne Konsequenzen belassen. Seit wenigen Jahren haben wir in Deutschland Antisemitismusbeauftragte. Ich bitte Sie an dieser Stelle: Setzen Sie sich auch dafür ein, dass die Flugblätter der Weißen Rose an unseren Schulen gelesen werden. Wenige Texte können in ihrer Kürze und Prägnanz, geschrieben von jungen Menschen, anderen jungen Menschen vermitteln, wie scharfsinnig man auch schon damals urteilen konnte, wenn man nur seine Augen öffnen wollte.
Denn: Erziehung macht immer noch den größten Unterschied. Diese Universität hat deutlich gemacht, wie wichtig dies vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte ist. Vor 23 Jahren wurde der erste Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an einer deutschen Universität hier ins Leben gerufen, wenige Jahre später folgte die erste Professur für Mittelalterliche Jüdische Geschichte, dann gemeinsam mit dem Institut für Zeitgeschichte das erste Zentrum für Holocaust-Studien. Und mittlerweile gibt es das NS-Dokumentationszentrum in unmittelbarer Nachbarschaft. Und lassen Sie mich hinzufügen: Die LMU könnte auch ein deutschlandweites Beispiel setzen und die erste Professur für Israel-Studien etablieren, eine Einrichtung, die in vielen anderen Ländern bereits existiert.
Wann also erkennen wir die Gefahr und welche Schlüsse ziehen wir daraus? Ich habe über die frühen zwanziger Jahre gesprochen, als ein jüdischer Kommerzienrat in München blutig geschlagen wurde, als Schmierereien an Synagogen angebracht wurden, als die Anhänger der neuen Nazipartei Angst und Schrecken verbreiteten und dann mit Wählerstimmen belohnt wurden. Hätten die Münchner Juden die Schrift an der Wand nicht damals schon lesen müssen? Ich habe über 1933 gesprochen, als auf ganz legale Weise ein Zerstörer der jungen deutschen Demokratie zu ihrem Hüter ernannt wurde. Hätte man damals flüchten müssen? Oder ein Jahr später? Oder fünf Jahre später? Meine Antworten lauteten: Wie konnte man denn die Zukunft voraussehen? Wer konnte denn einen Völkermord erahnen, der in dieser Form ohne Beispiel gewesen war? Und wer weiß, ob das, was wir heute erleben, eine Episode ist, die bald vorübergehen wird, oder der Beginn einer neuen Epoche?
"Entscheidet Euch, eh‘ es zu spät ist!" So endet das fünfte Flugblatt der Weißen Rose vom Januar 1943. Wann es zu spät sein wird, dies zu erkennen übersteigt unsere Urteilskraft. Jeder Blick in die Zukunft ist eine Reise ins Ungewisse. Die Gefahren am Horizont mögen wir erahnen – doch richtig einschätzen können wir sie erst aus der Rückschau, erst dann, wenn es zu spät ist. Denn genau wie in den zwanziger und dreißiger Jahren, so gibt es auch heute mehrere Wege in die Zukunft. Welchen wir gehen werden, das wissen wir nicht. Und dennoch können wir in einer demokratischen Gesellschaft alle, und zwar ohne Aufopferung unseres Lebens, einen kleinen Beitrag dazu leisten, den Kurs dieser Reise zu steuern. Wir können uns gegen die anziehenden Gefahren stemmen, wir können die demokratische Grundordnung verteidigen, verfolgten Minderheiten Schutz bieten und eine Zukunft mitgestalten helfen, die unsere Gesellschaft, unsere Werte und unseren Planeten rettet. In diesem Sinne also noch einmal: "Entscheidet Euch, eh‘ es zu spät ist!"
Dieser Text ist in einer gekürzten Fassung zuerst in der Mai-Ausgabe 2020 des Externer Link: MünchnerUni Magazins erschienen.