Im Sommer 2014 waren anlässlich des Gaza-Konflikts auf anti-israelischen Demonstrationen in vielen deutschen Städten antisemitische Parolen wie "Jude, Jude, feiges Schwein!" (Berlin), oder "Stoppt den Judenterror!" (Essen) zu hören. Im Internet gab es Tausende von Twitter- und Facebook-Kommentaren wie "jüdische Zionisten-Nazis!". Die israelische Botschaft erhielt täglich
Die Äußerungen machen die zugrundeliegenden mentalen Strukturen der Sprachbenutzer transparent und geben Einblick in deren geistige Vorstellungwelt und emotionale Einstellung. Es zeigt sich, dass trotz aller Aufklärungsarbeit nach dem Holocaust immer noch seit Jahrhunderten tradierte judeophobe Sprach- und Argumentationsmuster reproduziert werden - und zwar gesamtgesellschaftlich in allen sozialen Schichten und politischen Gruppierungen der Bevölkerung. Diese Muster sind tief im kommunikativen Gedächtnis verankerte Bestandteile des abendländischen Gedanken- und Gefühlssystems, in dem Judenfeindschaft normal und habituell war. In diesem Weltdeutungs- und Glaubenssystem sind Juden als das ultimativ Andere (und prinzipiell Schlechte) konzeptualisiert. Heute lassen Wörter, Phrasen und Sätze, die in den letzten Jahren tausendfach artikuliert in E-Mails an den Zentralrat der Juden, die israelische Botschaft oder auf Internet-Seiten kommuniziert wurden, diese Basis-Konzeptualisierung sprachlich zum Vorschein kommen: Dort werden Juden zum Beispiel als "Weltenübel", "das Schlimmste, was Gott der Menschheit angetan hat", "übelster Unrat" und "Abschaum der Erde" beschimpft.
Empirische Langzeitstudien zur Sprache der aktuellen Judenfeindschaft
Parallel dazu zeigt sich die Tendenz, aktuellen Antisemitismus in seiner besonders frequenten Manifestationsvariante des Anti-Israelismus zu leugnen, zu bagatellisieren oder semantisch als "legitime Kritik" umzudeuten. Der Kommunikationsraum für die Verbreitung von Verbal-Antisemitismen wird dadurch größer. Der aktuelle antisemitische Sprachgebrauch, gleich aus welcher politischen Richtung, basiert auf identischen Stereotyprepräsentationen und benutzt austauschbare Argumente. Dadurch ist im Internet eine klare Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe oft kaum möglich: Die Grenzen zwischen ideologisch geprägten Verbal-Antisemitismen verschwimmen und als Resultat kommt es im Kommunikationsraum des Web 2.0 zu einer multiplen, kontrollresistenten Ausbreitung judenfeindlichen Gedankengutes.
Konzeptuelle Einstellung und Verbal-Antisemitismus
Als geistiges Phänomen ist Antisemitismus eine feindselige, ressentimentgeleitete Einstellung gegenüber Juden und Judentum, sowie gegenüber Israel, das als jüdischer Staat im besonderen Fokus aller antisemitischen Aktivitäten steht, da es das wichtigste Symbol für genuin jüdische Lebensweise nach dem Holocaust ist.
Der sprachlichen Kodierung judenfeindlicher Ideen, dem Verbal-Antisemitismus, kommt bei der Tradierung antisemitischer Gedanken und Gefühle auf breiter sozialer Ebene eine Schlüsselrolle zu: Über die Sprache werden Stereotype seit Jahrhunderten ständig reproduziert und im kollektiven Bewusstsein erhalten. Über spontan und natürlich produzierte Äußerungen erhält man in Korpusstudien (also Analysen quantitativ umfangreicher Mengen natürlichsprachiger Äußerungen aus bestimmten Kommunikationsräumen) signifikante Einblicke in die aktuelle judeophobe Gedanken- und Gefühlswelt
Verbal-Antisemitismus umfasst alle Äußerungen, mittels derer Juden direkt oder indirekt bewusst oder unbewusst über Stereotypzuweisungen als Juden entwertet, stigmatisiert, diskriminiert und diffamiert werden. Verbal-Antisemitismus ist gekennzeichnet durch die Semantik der Abgrenzung (Juden als ‚Fremde', als ‚Nicht-Deutsche', modern: als ‚Israelis'), der kollektiven Fixierung durch Stereotype (Juden als ‚gierig, rachsüchtig, zersetzend, blutrünstig, amoralisch') und der generellen Ab-/Entwertung von Juden und Judentum (als ‚atavistisch, egoistisch' usw.). Diese drei Grundkonstanten judenfeindlicher Sprachgebrauchsmuster haben eine lange Tradition und sind nahezu unverändert erhalten geblieben, wie das historische und das aktuelle Beispiel zeigen: "Judentum ist Verbrechertum" (NS-Zeit, Der Stürmer, 1938) und "Zionismus ist Verbrechertum" (E-Mail an die israelische Botschaft 2014). Konzeptuell und strukturell sind die Äußerungen identisch, lediglich lexikalisch erfolgte modern adaptiert die Substitution des Wortes Judentum. Verbal-Antisemitismen sind keinesfalls ein kommunikatives Randgruppen- oder Nischenphänomen: Im Netz finden sie sich auch in normalen, alltäglichen Chats, Kommentarbereichen und Foren, wie auf gutefrage.net, Zugriff am 01.01.2011, die Frage: "Wieso sind Juden immer so böse?" und auf e-hausaufgaben.de: "Juden machen nur STRESS und besetzen ein Land das denen nicht gehört und töten Frauen und Kinder [...] das sind Juden ..."
Kontinuität und Adaptation der Stereotype im Wandel der Zeit
Bei den judeophoben Stereotypen handelt sich um Fantasiekonstrukte, die bar jeder Realität sind, von überzeugten Antisemiten aber unerschütterlich geglaubt werden. Trotz historischer Aufarbeitung und Erinnerungskultur finden sich auch im aktuellen Diskurs klassische Stereotype wie "Juden als Geldmenschen, als Lügner, als Verräter, rachsüchtige Intriganten, als Kindermörder, als Weltverschwörer" usw. Diese basieren auf dem Grund-Konzept von Juden als "dem ultimativ Bösen". Wurden im Mittelalter Juden dämonisierend als Teufel und Anti-Christen klassifiziert und dies stets mit der Unterstellung "Juden allein sind schuld daran, wenn man sie hasst", finden wir dieses Stereotyp in zwei modernen Varianten: "Juden sind schuld am Antisemitismus, weil sie den Holocaust ausbeuten und die Erinnerung nicht ruhen lassen" und "Juden sind schuld am Antisemitismus, weil sie sich solidarisch mit Israel zeigen". Oft werden deutsche Juden synonym mit Israelis gesetzt (es wird also das alte Stereotyp "Juden sind Fremde" modern angepasst kodiert). Israel wird metaphorisch als "der Schurke unter den Staaten", dehumanisierend als "nahöstliches Krebsgeschwür" und mittels Hyperbeln als "das größte Übel in der Welt" charakterisiert. So werden die klassischen judenfeindlichen Ressentiments auf den jüdischen Staat projiziert: "Israel stört den Weltfrieden" basiert auf dem uralten Denkmuster ‚Juden sind die Störenfriede in der Welt'.
Während rechtsextreme Sprachproduzenten nahezu alle klassischen und rassistischen Stereotype (‚Gottesmörder, minderwertige Rasse,' usw.) verbalisieren und den Holocaust entweder leugnen oder seine Unvollständigkeit bedauern, artikulieren linke und mittige Schreiber primär Post-Holocaust-Stereotype (wie ‚Kritiktabu', ‚israelischer/jüdischer Sonderstatus' durch Holocaustausnutzung' und ‚mediales Meinungsdiktat durch Antisemitismuskeule') sowie israelbezogene Judeophobie (,Israel als Weltfriedensbedroher', ,jüdische Israelis als amoralische, intentional mordende Menschen'). Gebildete Schreiber präsentieren sich dabei besonders häufig als nicht-rassistische, den Juden moralisch überlegene Personen, denen sie menschliches Versagen und - in der Traditionslinie der antisemitischen Dehumanisierungssemantik - Inhumanität vorwerfen: So fragte ein Akademiker den Zentralrat der Juden anlässlich der Gaza-Krise 2009: "Habt ihr überhaupt menschliche Gefühle?"
Israelisierung der antisemitischen Semantik
Israel zieht als jüdischer Staat den Hass von Antisemiten jedweder politischen Ausrichtung auf sich und ist in den letzten Jahrzehnten die primäre Projektionsfläche judenfeindlicher und verschwörungsbasierter Fantasien geworden. In antisemitischen Texten wird Israel unikal fokussiert und als ‚Frevel in der Völkergemeinschaft' konzeptualisiert sowie in seiner Existenz delegitimiert. Dies führt zu Argumentationsmustern, die rhetorisch und syntaktisch identisch sind: "Juden sind das größte Übel der Menschheit und bedrohen den Weltfrieden."
Die Texte zeigen insgesamt eine große Homogenität in Bezug auf die Verwendung spezifischer Mittel und argumentativer Muster. Viele lesen sich mehrheitlich wie Abschriften mit geringfügigen Variationen zu einer gemeinsamen Vorlage. Inhalte und sprachliche Formen sind oft nahezu austauschbar: Es wird deutlich, wie ausgeprägt tradierte judeophobe Sprachmuster im kommunikativen Gedächtnis verankert sind und wie diese aktuellen Situationen angepasst werden.
Indirekte Sprechakte und verbale Camouflage: sprachliche Re-Kodierungen
Explizite generische Aussagen judeophoben Inhalts wie "Alle Juden sind ..." sind nur ein kleiner Teil antisemitischer Kommunikationspraxis. Aufgrund der Ächtung und Sanktionierung offen verbalisierter Judenfeindschaft seit 1945 werden judenfeindliche Ideen heute (mit Ausnahme von rechtsextremistischen und neonazistischen Kreisen) vielmehr re-kodiert und verschlüsselt, also als indirekte Sprechakte mit sprachlicher Camouflage verbalisiert. Statt explizit die Wörter Juden, jüdisch und Judentum zu verwenden, benutzt man referenziell vage gehaltene Paraphrasen wie "die Banker von der Ostküste", "jene einflussreichen Kreise", die "Finanzoligarchie", oder "jene gewisse Religionsgemeinschaft"
Die Verwendung von Tier- bzw. Dehumanisierungsmetaphorik in einem Kontext, der eine judenfeindliche Lesart nahelegt, ist ein weiteres Kennzeichen des modernen antisemitischen Diskurses: Juden oder Israelis werden als Ratten, Heuschrecken, Parasiten, Bazillen usw. bezeichnet. Häufig werden auch rhetorische Fragen gestellt wie "Wer verhindert denn in Deutschland Kritik an Israel?". Durch die spezifische Verknüpfung von Argumenten, die aus dem antisemitischen Diskurs bekannt und habitualisiert sind, werden gezielt antisemitische Vorstellungen und Assoziationen hervorgerufen, zum Beispiel durch die Aneinanderreihung von Lexemen wie Geld, Lobbyisten, Einfluss einer kleinen Gruppe, internationale Finanzoligarchie, zersetzende, mächtige Kräfte, Brandstifter in Jerusalem, besonders im Zusammenhang mit jüdischen oder jüdisch klingenden Namen und Bezügen zu Israel. Aus der judeophoben Phantasie von der jüdischen Macht, die weltweit die Fäden ziehe, wird "die Finanzlobby" oder die "Israel-Lobby", die alles lenke. Da diese indirekten Sprechakte immer in einem bestimmten Kontext geäußert und die entsprechenden Schlussfolgerungen vom Sprachproduzenten mit Kalkül vorweggenommen werden, ist ersichtlich, wer und was damit gemeint wird. Diese Kodierungsformen sind mittlerweile so häufig, dass man davon ausgehen kann, dass Produzenten und Rezipienten sehr genau um ihre tatsächliche Bedeutung wissen. Die indirekten Verbalisierungen sind somit reine Schutzmaßnahmen, um sozialen Sanktionen oder juristischer Strafverfolgung vorzubeugen.
Kampf um Wörter: Antisemitismusleugnung und semantische Umdeutung
Auch wenn alle Kriterien des Verbal-Antisemitismus in ihren Äußerungen nachzuweisen sind, leugnen insbesondere die Sprachproduzenten aus dem links-liberalen Spektrum vehement, antisemitisch zu sein, und deklarieren ihre judeophoben Aussagen als "Meinungsfreiheit" und "politische Kritik". Diese Reklassifikation (also die Umbenennung antisemitischer Äußerungen als legitime Sprachhandlungen) ist fester Bestandteil des modernen antisemitischen Diskurses und sie lässt einen Kampf um Bedeutungshoheiten erkennen, der die Relevanz der Sprache als realitätskonstituierendes und -konstruierendes Instrument zeigt. Intensiv ist die konzeptuelle Auseinandersetzung v.a. bei dem Ausdruck Antisemitismus und dessen Bedeutungsauslegung. Dabei deuten Antisemiten das Lexem semantisch und faktisch unangemessen, indem sie ihm entweder eine zu enge, restriktive Lesart zuordnen, die Antisemitismus auf die NS-Zeit begrenzt und rassistisch-völkisch festlegt ("Ich bin kein Antisemit, denn ich bin kein Nazi oder Rassist") oder seine Etymologie heranziehen ("Ich bin kein Antisemit, ich bin selbst Semit") und dabei die tatsächliche kommunikative Bedeutung des Wortes negieren. Dies geschieht zumeist mittels re-klassifizierender Sprechakt-Umbenennungen: Der verbale Antisemitismus wird euphemistisch als "Kritik" bezeichnet. Aus sprachlicher Diskriminierung wird somit durch oberflächliche Camouflage eine akzeptable soziale Handlung. Im Zusammenhang mit dem ebenfalls stets reproduzierten Klischee, es gebe ein Kritiktabu an Juden und Israel und somit auch eine "Antisemitismuskeule", die gegen Kritiker geschwungen würde, finden sich auch konzeptuell tief greifende Umdeutungen
Diese Re-Interpretationen, welche Faktenresistenz und das Unvermögen zur kritischen Selbstreflexion offenlegen, haben im Diskurs zwei Funktionen: Zum einen sollen sie die Schreiber gegen den Vorwurf des Antisemitismus immunisieren, zum anderen aber auch das radikale Gedankengut ihrer Äußerungen formal entradikalisieren und damit kommunikativ akzeptabel machen. Die kommunikative Leugnung und semantische Umdeutung des eigenen Verbal-Antisemitismus gehört heute standardmäßig zu den Strategien moderner Antisemiten.