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Von der Kornkammer zum Industrieraum | Afrika | bpb.de

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Von der Kornkammer zum Industrieraum

Konrad Schliephake

/ 21 Minuten zu lesen

Worin liegen die Gründe für den Rückgang des Bruttosozialprodukts in den Maghrebstaaten? Länder wie Tunesien, Marokko oder Ägypten mussten in den sechziger Jahren einen enormen Anstieg ihrer Bevölkerungszahlen verkraften. Fatal wirkten sich ebenso Konzepte zur Modernisierung der Landwirtschaft aus - begleitet von einer weitgehend fremdbestimmten Industrialisierung.

Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 272) - Von der Kornkammer zum Industrieraum

Einleitung

Vor und nach der Unabhängigkeit in den sechziger Jahren besaßen die Kernstaaten des Maghreb ein ausgeglichenes Außenhandelssaldo und produzierten, mit Ausnahme von Mauretanien und Libyen, Lebensmittelüberschüsse. Heutige makroökonomische Daten lassen erkennen, dass das Bruttosozialprodukt (verfügbares Einkommen) pro Einwohner im Durchschnitt aller Maghrebstaaten im Vergleich zur Welt von 1980 bis 1999 zumindest relativ zurückgegangen ist. 1980 verfügte der Maghreb noch über einen Wert von 1770 US-Dollar pro Einwohner bzw. 68 Indexpunkte (Weltdurchschnitt: 2588 US-Dollar = 100 Punkte). 1999 sank dieser Wert auf 38 Indexpunkte bzw. 1870 US-Dollar gegenüber dem Weltdurchschnitt von 4890 US-Dollar.

Das mag teilweise am Ausgangsjahr liegen, besteht doch das Bruttosozialprodukt selbst 1999 noch zu 35 Prozent (Libyen) bzw. 43 Prozent (Algerien) aus Erdölexporten. Doch beweisen die Zahlen insgesamt, dass sich die ökonomischen Bedingungen eher verschlechtert haben. Erst seit 1998/99 (neuerliche Erdölpreissteigerungen) erhalten die Länder wieder Impulse, die das Netto-Wirtschaftswachstum (bzw. pro Kopf unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums) dem Rhythmus der Weltwirtschaft angleichen, ohne dass die grundlegenden ökonomischen Probleme (soziale Disparitäten, Stagnation der Landwirtschaft) gelöst sind.

Eine Vielzahl von exogenen und endogenen Faktoren bestimmt die ökonomische Entwicklung der einzelnen Länder, sie wer-den in den Folgeabschnitten vorgestellt.

Extremer Anstieg der Bevölkerungszahlen

Konrad Schliephake

Anfang der sechziger Jahre gab es nach Abzug der Kolonisten viel Platz und zur Inwertsetzung der bergbaulichen (Erdöl, Phosphat) und agrarischen (Zitrusfrüchte, Wein, Getreide) Ressourcen fehlten Arbeitskräfte. Algerien wollte seine Menschenverluste von – nach eigenen Angaben – fast einer Million aus dem Befreiungskrieg kompensieren und in einem "demographischen Rennen" gegen Marokko beweisen, dass es nicht nur flächenmäßig der größte Maghrebstaat sei. Libyen brauchte dringend Arbeitskräfte für seine junge Erdölindustrie. Geburtenkontrolle wurde als ein Eingriff in die Allmacht Gottes angesehen und viele Kinder bedeuteten Segen und Garantie für die Altersversorgung der Eltern.

Bevölkerungswachstumsraten von 2,7 Prozent (Verdoppelung alle 26 Jahre) bis über 3,1 Prozent pro Jahr (Verdoppelung alle 21 Jahre) sahen die staatlichen Planer als normal an. 1986 überholte Algerien mit 22 Millionen Menschen Marokko.

Im Jahr 2025 ist mit 113 bis 135 Millionen Maghrebinierinnen und Maghrebiniern zu rechnen. Das bedeutet mindestens eine Verdreifachung der Bevölkerung innerhalb von 55 Jahren.

Aus den aktuellen Prozessen ergeben sich enorme physische und ökonomische Belastungen. Die ökonomischen Wachstumsraten müssten die Bevölkerungswachstumsraten überschreiten, um überhaupt einen Effekt zu haben. Kapitalakkumulation insbesondere der privaten Hände ist kaum möglich, ein Großteil der Familieneinnahmen wird für Hausbau und nicht für produktive Investitionen ausgegeben.

Die physischen Belastungen betreffen zum Beispiel die Infrastruktur. Städte wie Algier (1970: eine Million Einwohner; 2000: 2,6 Millionen Einwohner), Casablanca (1,5/3,5 Millionen), Rabat (0,5/1,6 Millionen) und Tripolis (0,4/1,1 Millionen) haben in 30 Jahren ihre Einwohnerzahl fast verdreifacht, ohne dass die städtischen Infrastrukturen mithalten konnten. Das gleiche gilt für den Ausbau von Krankenhäusern und Schulen. Für letztere ist signifikant, dass die öffentlichen Ausgaben für Bildung von 7,8 Prozent des BSP 1980 in Algerien (Marokko: 6,1 Prozent) auf 5,1 Prozent (bzw. fünf Prozent) 1997 zurückgegangen sind. Sie lagen zwar damit immer noch über dem Weltdurchschnitt von 3,9 Prozent (1980) bzw. 4,8 Prozent 1997. In Anbetracht einer Bevölkerung, die zu 37 Prozent bzw. 32 Prozent aus Jugendlichen unter 15 Jahren besteht, und einem Analphabetenanteil von immer noch 35 Prozent (Algerien) bzw. 53 Prozent (Marokko) an den Erwachsenen ist dies sicherlich zu wenig.

Von besonderer ökonomischer Bedeutung ist die aus der Altersstruktur, aber auch aus der traditionellen Rolle der Frau (als Mutter und Hausfrau) resultierende niedrige Rate der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung, die durchschnittlich bei 36 Prozent liegt (Maximum Tunesien: 42 Prozent). Das heißt, jeder Berufstätige (zu zwei Dritteln Männer) ernährt durchschnittlich drei Personen. Kaum berechenbar ist der Anteil der Arbeitslosen und der im informellen Sektor Tätigen (siehe Seite 14f.), die in den einzelnen Ländern (außer Libyen) 20 bis 40 Prozent der Arbeitsfähigen ausmachen dürften. Hier ergibt sich ein wesentliches Hindernis für die aus sozialen, ökonomischen und demographischen Gründen notwendige Integration der Frau in das Arbeitsleben, die bislang lediglich in Tunesien geglückt ist.

Auch die Beschäftigung der nachwachsenden Generation schafft Probleme. In den fünf Maghrebstaaten suchen jährlich neu 1,3 Millionen junge Menschen nach Arbeitsplätzen. In Libyen (jährlich 110000 neue Arbeitsuchende) mag dies noch durch Ersatz von fast einer Million Gastarbeiter möglich sein. Die Ökonomien von Algerien (550000 neue Arbeitsplatzsuchende pro Jahr) und Marokko (475000) sind jedoch an ihren Absorptionsgrenzen angekommen.

Mit der anhaltenden Verbesserung der hygienischen Situation und einer Lebenserwartung, die inzwischen auf 69 Jahre gestiegen ist (Durchschnitt beide Geschlechter, bei Frauen insgesamt drei Prozent höher als bei Männern; lediglich Mauretanien liegt mit 54 Jahren weiter unter dem Durchschnitt), wird das Bevölkerungswachstum vorerst nicht zum Abklingen kommen.

Landwirtschaftliche Modernisierungskonzepte

Konrad Schliephake

Der vorkoloniale und koloniale Maghreb war ein wichtiger agrarischer Produktionsraum mit Ausnahme von Libyen und Mauretanien, die immer auf Importe von Grundnahrungsmitteln angewiesen waren. Die Erträge reichten zur Versorgung der Bevölkerung und zu regelmäßigen Ausfuhren nach Europa (Rohrzucker, Gerste, Leder, Wolle). Viehzuchtnomaden bzw. -halbnomaden ergänzten sich mit Pflugbauern (Getreide) und Gärtnern (Oliven, Obst, in den Saharaoasen Datteln) in regem Produktaustausch. Das islamische Bodenrecht gab den Landbesitzern und Landnutzern Sicherheit, förderte allerdings kaum Investition und Innovation. Es unterschied vier Typen:

  • privates Grundeigentum (insbesondere bewässertes oder dauernd durch Baumkulturen genutztes Land),

  • Staatsland zur freien Verfügung des Herrschers,

  • Kollektivland der Stämme mit unveräußerlichem Nutzungsrecht der Stammesmitglieder,

  • Land der frommen Stiftungen zugunsten religiöser oder karitativer Einrichtungen oder der eigenen Nachkommen. Dieses Land umfasste 1830 circa die Hälfte der algerischen Ackerflächen und wurde an landlose Bauern verpachtet.

Die Kolonisation übernahm das Staatsland, enteignete schrittweise den Stiftungsbesitz und Teile des Kollektivlandes und übertrug sie an französische und italienische Agrargesellschaften und Kolonisten. Die Reste des Kollektivlandes trug die Verwaltung bei Erstellung des Katasters als Besitz des jeweiligen Stammesführers ein. Mit der Beendigung der gemeinsamen Nutzung (vergleichbar mit der deutschen Allmende) kam es zu einer Feudalisierung, denn der neue Grundherr konnte nun die Flächen an seine Stammesgenossen verpachten, die als Fünftelpächter (ein Fünftel des Ertrages für die Arbeit des Pächters, vier Fünftel für Boden, Wasser, Saatgut und Geräte des Besitzers) nur einen Bruchteil der Erträge erhielten.

Zu Ende der Kolonialzeit waren in Algerien 25 Prozent besten Ackerlandes französischer Besitz und 21 Prozent einheimischer Besitz, der Rest (überwiegend Weideflächen) Kollektivland und Staatsbesitz. Zu dem auf Eigenversorgung (Subsistenz) orientierten "traditionellen" Sektor der Einheimischen gesellten sich die agroindustriellen Aktivitäten der Kolonisten. Sie produzierten exportorientiert und kapitalintensiv unter europäischer Leitung mit billigen Tagelöhnern, meist den von ihrem Land vertriebenen Bauern.

Mit Ende der Kolonialzeit verließen die europäischen Siedler fast vollständig das Land, das zum Teil in Staatsbesitz (Libyen, Marokko, teilweise Tunesien), in arbeiterselbstverwaltete Betriebe (Algerien) bzw. in die Hände einheimischer Grundbesitzer (Marokko) überging. Die Disparität zwischen den modernen Großbetrieben mit Flächen von 100 bis 10000 Hektar und den am Rand des Existenzminimums wirtschaftenden Kleinbetrieben blieb bis heute erhalten.

Zu den Disparitäten kommen Ungleichgewichte in der Produktion: Der traditionelle Sektor erzeugte Nahrungsmittel für die einheimische Bevölkerung wie Hartweizen (für Kuskus-Grieß), Gerste, Hülsenfrüchte, Oliven, Datteln und Hammelfleisch. Dagegen spezialisierte sich der "moderne" Sektor auf Produkte zum Export nach Europa wie Wein, Südfrüchte, Frühgemüse und Weichweizen (für Weißbrot). Große Agrargesellschaften und Genossenschaften produzierten in Algerien bis zur Unabhängigkeit jährlich 14 bis 16 Millionen Hektoliter einfachster Rotweine zum Verschnitt mit französischen Weinen. 1971 stoppte Frankreich die zollbegünstigte Weineinfuhr und zwang Algerien trotz großer Bedenken (Freisetzung von Arbeitskräften), die Weinkulturen sehr schnell zu reduzieren.

Die nachkoloniale landwirtschaftliche Entwicklung strebte in allen Maghreb-Ländern an:

  • Vergrößerung und Intensivierung der Anbauflächen insbesondere durch Bewässerung;

  • Erhaltung der Produktivität des modernen, ex-kolonialen Sektors ohne Zerstückelung der großen Kolonistenflächen;

  • Modernisierung des traditionellen Sektors durch Zusammenfassung der Betriebe in Genossenschaften und durch staatliche Investitionshilfen;

  • Umstellung der Produktpalette auf Grundnahrungsmittel (unter anderem Zucker), Versuche mit Sonnenblumen und Baumwolle;

  • Qualitätsverbesserung und Angebotserweiterung bei den Exportprodukten (Zitrusfrüchte, Frühgemüse, Blumen);

  • Verbesserung der Vermarktungsstrukturen durch Absatzgenossenschaften bzw. staatliche Ankauforganisationen (zum Beispiel Libyen, zeitweilig Algerien).

Trotz dieser umfangreichen Maßnahmen hat die Landwirtschaft die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Sowohl ihr Anteil am Bruttosozialprodukt (1998 Durchschnitt aller Maghrebstaaten: zwölf Prozent) als auch ihr Beitrag zur Ernährung der wachsenden Bevölkerung sind schnell zurückgegangen. 1998 verbrauchte jeder Maghreb-Bürger durchschnittlich jährlich importierte Lebensmittel im Wert von 66 US-Dollar.

Diese Entwicklung steht im Widerspruch zu den Zielen der Agrarplanung. In den siebziger Jahren hatten Erdölproduzenten wie Algerien und Libyen Angst, in Umkehrung ihrer eigenen Erdölpreispolitik mit einer plötzlichen Getreidepreiserhöhung konfrontiert zu werden. Diese als Drohung empfundene "Erpressung durch die Getreideproduzenten" (gemeint waren vor allem die Industriestaaten) gab Anlass zu einer ganzen Reihe von ökonomischen und administrativen Maßnahmen.

Mauretanien, dessen naturräumliche Bedingungen nur im Senegaltal Perspektiven aufwiesen, unternahm Versuche zur Intensivierung des Reisanbaus, die weitgehend erfolglos blieben. In der Nahrungsmittelaußenhandelsstatistik zeigt das Land gleichwohl Überschüsse, da der Mauretanien zustehende Anteil an den Fischfangmengen ausländischer Flotten innerhalb der 200-Meilen-Wirtschaftszone Mauretanien als Export zugerechnet wird, ohne dass er an Land kommt.

In Marokko sollten nach Bau von insgesamt 30 großen Staudämmen zwischen 1960 und 1985 eine Million Hektar zusätzliches Land bewässert werden. Tatsächlich hat Marokko heute mit 1,3 Millionen Hektar Bewässerungsfläche (22 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche) die höchsten Getreideerträge (1,1 Tonnen/Hektar) der Maghrebländer und eine im Export von Gemüse, Zitrusfrüchten und Olivenöl durchaus erfolgreiche Landwirtschaft. Doch müssen 40 Prozent des Grundnahrungsmittels Getreide (Gesamtverbrauch: 10,7 Millionen Tonnen) importiert werden. Die strukturellen Probleme des Gegensatzes zwischen einer feudalen Großgrundbesitzerschicht, der wohl die Mehrheit der fruchtbaren Flächen gehört, und den vor allem durch Realerbteilung weiter verarmenden Kleinbauern bleibt ungelöst.

In Algerien bestanden Anfang der achtziger Jahre die folgenden Betriebsformen:

  • sozialistischer Sektor mit arbeiterselbstverwalteten Betrieben (bis 1962 französische "colons"), denen 2,7 Millionen Hektar der besten Böden gehörten und die 1982 in überschaubare Einheiten aufgeteilt wurden. Diese Betriebe firmieren heute als Unternehmen und produzieren unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten;

  • Sektor der Agrarrevolution (seit 1972) mit zwei Millionen Hektar geringerwertiger Böden aus kommunalem und privatem Besitz mit geringer Produktivität. Statt der heute weitgehend aufgelösten Genossenschaften wirtschaften die neuen Eigentümer selbstständig;

  • privater Sektor auf weiteren 2,5 Millionen Hektar Flächen mit Subsistenz- (Wirtschaft für den Eigenbedarf) sowie wenigen marktorientierten Betrieben.

Die Nahrungsmittelproduktion konnte mit Bevölkerungswachstum und steigenden Ansprüchen nicht Schritt halten. 1969 erzeugten die einheimischen Landwirte 73 Prozent des Getreidebedarfs, 1981 waren es ebenso wie 1998 nur noch 33 Prozent. Die relative Stagnation der Agrarwirtschaft war und ist das Ergebnis gescheiterter staatlicher Experimente (Agrarrevolution), wiederholter Eingriffe in die Vermarktungsmechanismen (zeitweilige Verstaatlichung des Zwischenhandels) und damit fehlender Investitionsbereitschaft der Bauern und Grundbesitzer.

Nachdem die Planer Mitte der achtziger Jahre das Scheitern des staatlichen Eingreifens konstatierten, liberalisierten sie den Bodenmarkt und überließen die Produktion den Marktmechanismen. Die mit den Jahresniederschlägen stark schwankende Getreideproduktion konnte zwar von (1990) 2,4 Millionen Tonnen auf (1998) 3,6 Millionen Tonnen gesteigert werden (aber 1997 nur 0,9 Millionen Tonnen), doch deckt dies nur ein Drittel des nationalen Bedarfs von durchschnittlich 11,8 Millionen Tonnen/Jahr. Die Schere zwischen wachsender Bevölkerung und stagnierender agrarischer Produktion wird sich weiter öffnen.

Tunesien mit seiner marktorientierten Landwirtschaft, die nach Genossenschafts-experimenten in den sechziger Jahren weitgehend sich selbst überlassen wurde, war gemeinsam mit Marokko unter ökonomischen Gesichtspunkten der erfolgreichste Produzent. Bei recht günstigen Bedingungen – 19 Prozent der Staatsfläche können landwirtschaftlich genutzt werden – und Ausbau der Bewässerungsinfrastruktur durch den Staat (13 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche sind bewässert) bauten groß- und mittelbäuerliche Betriebe Plantagen für Zitrusfrüchte, Gemüse, Wein, Frühkartoffeln und Oliven (letztere ohne Bewässerung) auf, die in der Europäischen Union guten Absatz finden. Einwohnerbezogen ist heute Tunesien der wichtigste Agrarexporteur des Maghreb, allerdings müssen auch hier 70 Prozent des Getreideverbrauches von durchschnittlich 5,2 Millionen Tonnen (teilweise für Viehfutter) importiert werden.

Die libysche Landwirtschaft hat trotz enormer Investitionen nur Einzelerfolge gezeigt. Größtes Vorhaben ist das 1983 begonnene Projekt des Großen Künstlichen Flusses, der in einem Ost- und West-Strang bis zum Jahre 2010 täglich fast sechs Millionen Kubikmeter fossiles Grundwasser aus der Sahara in die städtischen Zentren und landwirtschaftlichen Kernzonen der Küste transportieren soll. Das von anglo-amerikanischen Beratern konzipierte und von koreanischen Baufirmen verlegte System von vier Meter breiten Röhren wird von den Libyern stolz als achtes Weltwunder bezeichnet. Im Endausbau wird das 4600 Kilometer lange Röhrensystem 27 Milliarden US-Dollar verschlungen haben.

Doch die aktuellen landwirtschaftlichen Daten sind nicht günstig. Nur ein Prozent des Staatsgebietes kann landwirtschaftlich genutzt werden, davon 26 Prozent bewässert. Unklare Besitzverhältnisse und bessere Verdienstchancen außerhalb der Landwirtschaft verhinderten einen Aufschwung. Heute unterlaufen zunehmend Privatbetriebe mit Gastarbeitern die Vorschriften des "Grünen Buches" (das Land dem, der es bebaut). Sie erzeugen Gemüse, Zitrusfrüchte, Kartoffeln, Weintrauben und Oliven. Trotz aller Anstrengungen – die unter anderem eine 80-prozentige Lebensmittelselbstversorgung im Jahr 2000 vorsahen – wird das wohlhabende Erdölland Libyen immer Lebensmittelimporteur bleiben, aktuell muss es 90 Prozent des Getreideverbrauches einführen.

Bergbauliche Ressourcen

Konrad Schliephake

Während der Kolonialzeit galt Nordafrika vor allem als Produktionsraum für den primären Sektor einschließlich des Bergbaus. Der Abbau der Bodenschätze Eisen, Blei/Zink/Silber (so genannte NE-Erze) und Phosphat begann Anfang des 20. Jahrhunderts durch ausländische Kapitalgesellschaften. Die Nähe zum "Mutterland" führte bei niedrigen Transportkosten zu einem stürmischen Produktionsaufschwung bei Eisenerzen (marokkanischer Rif, Ostalgerien, Nordtunesien), NE-Metallen (Atlasgebirge) sowie bei Kupfer (seit den sechziger Jahren in Mauretanien).

Die Bedeutung der kleineren Lagerstätten im Bereich der Atlasgebirge hat nachgelassen; die Erzgruben in Marokko, Algerien und Tunesien arbeiten nur noch sporadisch.

Anders als die Erze haben die Phosphatvorkommen des Maghreb (seit 1913 rund um Gafsa/Tunesien; 1921 Khouribga/Marokko; Tbessa/Algerien) Weltbedeutung, vor allem nach der Erschließung des 1947 entdeckten Vorkommens vor Bu Craa in der Westsahara.

Heute stammen ein Viertel der Weltproduktion und über 30 Prozent der auf dem Weltmarkt gehandelten Phosphate aus Nordafrika. Die Hälfte der Produktion wird im Lande zu Phosphorsäure und Düngemitteln verarbeitet und gemeinsam mit Rohphosphat hauptsächlich in die Staaten Süd- und Ostasiens verschifft.

Während der Kolonialzeit fehlte es in Nordafrika an fossiler Energie, abgesehen von den kleinen Kohlenlagern von Jerada/Marokko, die heute noch lokal verstromt werden. Französische Geologen fanden 1956 das erste algerische Erdölfeld im Becken von Edjeleh und kurz danach das wichtigste Vorkommen von Hassi Messaoud. 1958 begann der Export. In Sorge um die relativ geringen Vorräte von 1,24 Milliarden Tonnen sank die algerische Förderung von einem Höhepunkt mit über 50 Millionen Tonnen auf inzwischen 40 Millionen Tonnen pro Jahr.

Das Nachbarland Tunesien mit seinem kleinen Saharaanteil war weniger privilegiert. Das Erdölfeld von Al Borma wurde 1966 mit einer Pipeline nach Skhirra erschlossen.

Die libysche Erdölwirtschaft entwickelte sich im Syrtebogen. Zwischen 1961 und 1968 legten die überwiegend US-amerikanischen Unternehmen fünf Verladehäfen in der Syrte und bei Tobruk an. Günstige Lage zum Weltmarkt und liberale Wirtschaftspolitik des Königreichs (bis 1969) führten bei Vorräten von knapp vier Milliarden Tonnen zur Rekordproduktion von maximal (1970) 160 Millionen Tonnen pro Jahr. Nach der libyschen Revolution 1969 und der Übernahme der Kapitalmehrheit bei den Produktionsgesellschaften (1971–74) schränkte der Staat die Produktion ein, die bis heute auf 69 Millionen Tonnen sank.

Alle Förderländer bauten die Verladehäfen (vor allem Arzew, Skikda) zu Standorten petrochemischer Großbetriebe aus, die Erdöl und Erdgas als Rohstoff und Energiequelle verarbeiten. Es entstanden Raffinerien und Unternehmen für die Herstellung von chemischen Rohstoffen (zum Beispiel PVC, PET) und Düngemitteln.

Besondere Bedeutung kommt auch dem Erdgas zu. Libyen und Algerien besitzen insgesamt sieben Prozent der Welt-Erdgasreserven. Ein Teil wird nach Verflüssigung (Abkühlung auf –162°C) verschifft, der Rest wird für die Energieversorgung der Industrie und die Stromerzeugung verbraucht.

Wenn auch die mineralischen Ressourcen der Region im Weltmaßstab keine große Rolle spielen, so sind sie doch für die Ökonomie der jeweiligen Staaten unerläßlich. Sie machen 64 Prozent der gesamten Exporte der Region aus (Algerien und Libyen fast 100 Prozent) und erbringen in den Erdölförderländern 70–80 Prozent der Staatseinnahmen. Ausgerechnet die Länder, die in den siebziger Jahren mit eindrucksvollen Industrialisierungskonzepten angetreten sind, um nicht mehr ausschließlich Rohstoffe zu exportieren, sind heute mehr denn je auf Erdöl- und Erdgasexport angewiesen, die ihre alleinigen Devisenbringer blieben.

Industrie und Infrastruktur

Konrad Schliephake

Die Kolonialmächte hatten kaum Interesse an einer eigenbestimmten Industrialisierung. Lebensmittel- und Baumaterialproduzenten versorgten lokale Märkte, doch die meisten Rohstoffe gingen unverarbeitet ins "Mutterland". Lediglich einige französische Kapitalgesellschaften verarbeiteten seit den fünfziger Jahren Phosphate in den Hafenstädten Casablanca und Sfax. Mit der Unabhängigkeit konzipierte jeder Staat eine eigene Industrialisierungspolitik, die sich im wesentlichen auf eine Inwertsetzung der natürlichen Ressourcen stützte.

Mauretanien baute Fischkonservenfabriken in Nouadhibou.

In der Westsahara transportiert das marokkanisch-spanische Gemeinschaftsunternehmen "Fos Bu Craa" die Phosphate unverarbeitet per Förderband zum Atlantikhafen.

Marokko setzte auf sein Phosphat und wandelt heute 50 Prozent der Jahresproduktion von 23 Millionen Tonnen in den Fabriken von Casablanca, Safi und Jorf Lasfar in Kunstdünger und Schwefelsäure (2,7 Millionen Tonnen; weltgrößter Exporteur, davon 50 Prozent nach Indien) um. Der Konsumgüterbereich ist zwar gut entwickelt und macht Marokko zum (statistisch) am stärksten industrialisierten Maghrebstaat, doch fehlen höherwertige Branchen wie Elektronik und Fahrzeugbau.

Tunesien durchlief in den sechziger Jahren wie Algerien eine Phase staatlich gesteuerter Grundstoffindustrialisierung. Mit dem Stahl- und Walzwerk von El Fouladh (seit 1966, bei Menzel-Bourguiba), der Raffinerie von Bizerte, den Kunstdüngerfabriken von Sfax und Gabes und der Zellulosefabrik von Kasserine (Rohstoff: Halfagras) schufen die Planer Wachstumspole außerhalb der Hauptstadt Tunis. Die siebziger und achtziger Jahre prägte die Verlagerung europäischer Textilproduktionen (Jeans- und Hemdennähereien) zur "verlängerten Werkbank" im Sahel, wo auf lokalen Traditionen (Hausweberei) aufgebaut werden konnte. Dieser Boom ist wieder abgeklungen und zum Teil durch Elektronik-Montage (Kabelbäume, komplette Pkws) abgelöst worden. Heute bestimmen kleine und mittlere Privatbetriebe, die in die weltweite Arbeitsteilung eingebunden sind, die Entwicklung. Sie macht Tunesien zum am stärksten industrialisierten und diversifizierten Staat; seine Konsumgüter versorgen die Nachbarregionen in Libyen und Algerien.

Libyen stand als einziges Maghrebland bis in die neunziger Jahre nicht unter dem Druck, Arbeitsplätze für seine Bevölkerung schaffen zu müssen, denn diese war mit der Verwaltung des Erdölreichtums genug beschäftigt. Trotzdem realisierte der Staat seit den siebziger Jahren Projekte zur Inwertsetzung von Erdöl und Erdgas (Petrochemie und Kunstdünger in Marsa al Burayqah und Ras Lanuf; Raffinerien ebenda, in Zawiya und Tobruk) sowie einige Prestigeobjekte wie Traktormontage, Glashütte und andere. Komparative Kostenvorteile (billiges Erdgas, das vorher abgefackelt wurde) machten die petrochemische Produktion erfolgreich (Export nach Italien). Die Unsicherheiten der Innen- und Außenpolitik ließen die übrigen Projekte nicht recht gedeihen und der private Sektor scheute jegliches Engagement (Ausnahme: private Zementfabrik in Khums). Das Stahlwerk in Misurata (Kapazität: 1,5 Millionen Tonnen pro Jahr) war zehn Jahre bis 1991 in Bau und verarbeitet nicht etwa lokale Erze, sondern Importe aus Australien. Fast eine Million Gastarbeiter vor allem aus den Nachbarländern (Ägypten, Tunesien) sind in der Industrie, aber auch in der Landwirtschaft und im Dienstleistungssektor beschäftigt. Die Libyer dürfen nach den Vorschriften des "Grünen Buches" ihres Führers Muammar al-Gaddafi nur als Miteigentümer, nicht als Angestellte eines Privatunternehmens tätig werden, lediglich für den Staat und die Erdölindustrie gibt es Ausnahmen.

Industrialisierung am Beispiel Algeriens

Adolf Arnold

Während der Regierungszeit des Präsidenten Houari Boumedienne (1965–1978) erprobte Algerien ein damals weltweit beachtetes Entwicklungsmodell. Es zielte auf eine sektoral integrierte, autozentrierte (vom Weltmarkt abgekoppelte) Wirtschaft, welche die sozialen und materiellen Bedürfnisse der rasch wachsenden Bevölkerung befriedigen sollte. Fünf Merkmale charakterisieren das Modell:

  • Beseitigung der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Ausland,

  • Vorherrschaft des Staates in der Wirtschaft,

  • Mehrjahrespläne mit verbindlichen Investitions- und Produktionszielen,

  • hohe Investitionsquoten auf Kosten des Konsums sowie

  • eindeutige Priorität für die Industrialisierung.

Die algerische Entwicklungspolitik war bis Anfang der achtziger Jahre von Modernisierungstheorien bestimmt, welche die Industrialisierung als Haupthebel der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung ansahen. Dafür wurden andere Wirtschaftssektoren wie Landwirtschaft, Wohnungsbau und Fremdenverkehr vernachlässigt. Ab 1967 begann der Aufbau einer vorwiegend an der Küste angesiedelten Grundstoffindustrie (Eisenhüttenwerk, Erdölraffinerien, Petrochemie, Phosphatverarbeitung, Baustoffindustrien). Darauf aufbauend wurden von den siebziger Jahren an Investitions- und Konsumgüterindustrien an zahlreichen Binnenstandorten errichtet. Die Industrialisierung diente auch als Mittel der Landesplanung: Die Schaffung von Arbeitsplätzen im Binnenland sollte die Abwanderung der Bevölkerung zu den Küstenländern bremsen. Die Finanzierung des kapitalaufwändigen Entwicklungsmodells erfolgte aus dem Export der Kohlenwasserstoffe und den daraus resultierenden Devisenerlösen ("Erdölrente").

Der zeitgleiche Preisanstieg von 1,70 US-Dollar (1970) auf 34 US-Dollar (1981) je Barrel Rohöl füllte die Kassen des algerischen Staates. Der unerwartete Ölpreisverfall von 1986 – binnen Jahresfrist sank der Durchschnittspreis für einen Barrel Rohöl auf zwölf US-Dollar – traf das Land wie ein Schock. Hierdurch wurde den Entwicklungsplänen die finanzielle Basis entzogen und die Regierung zu einem scharfen Sparkurs gezwungen, der soziale Unruhen zur Folge hatte. Die Wirtschaftspolitik musste sich nun wieder vom Staatskapitalismus in Richtung Marktwirtschaft bewegen: Neue Industrieprojekte wurden nicht mehr entworfen, der Staat zerlegte die Staatskonzerne in Einzelfirmen, beseitigte schrittweise die Hemmnisse für die Privatwirtschaft und ausländische Investitionen und gab den verbindlichen Charakter des Plans auf. Ölpreisverfall und die politischen Wirren ab 1988 bewirkten eine starke Rezession der Wirtschaft. Das Bruttosozialprodukt, das zwischen 1965 und 1986 um das Zwanzigfache von 3,17 Milliarden US-Dollar auf 60,76 Milliarden US-Dollar gestiegen war, fiel bis 1989 um ein Drittel auf 39,78 Milliarden US-Dollar und ist seitdem nur leicht auf 46,5 Milliarden US-Dollar (1998) gestiegen.

Das algerische Entwicklungsmodell hat die Erwartungen nicht erfüllt. Zwar wurde ein beachtlicher Industriebesatz errichtet und bei vielen Gütern die Selbstversorgung erreicht. Die Kehrseite aber sind geringe Kapitaleffizienz, geringe Auslastung der Anlagen, unrentable Produktion und neue technologische Abhängigkeiten vom Ausland. Auf dem Weltmarkt sind die algerischen Industrieprodukte wegen Qualitätsmängeln nicht konkurrenzfähig. Da 97 Prozent der Exporte aus Kohlenwasserstoffen bestehen, ist die algerische Volkswirtschaft von deren enormen Preisschwankungen auf dem Weltmarkt unmittelbar betroffen. Die Monostruktur des Weinbaus wurde von der der Kohlenwasserstoffe abgelöst. Es ist zu hoffen, dass die Liberalisierung der Wirtschaftspolitik sowie der jüngste Preisanstieg bei den Kohlenwasserstoffen die wirtschaftliche und soziale Situation des Landes nachhaltig verbessern werden.

Tertiärer Sektor

Konrad Schliephake

Wesentlich dynamischer als die Industrie ist der tertiäre Sektor. Hierzu gehört die Verkehrsinfrastruktur mit überall gut ausgebauten Straßen und zahllosen Transporteuren als Kleinunternehmern. Den staatlichen Eisenbahnen, deren Trans-Maghreb-Achse nach Libyen verlängert werden soll, fehlt dagegen ein Modernisierungsschub und bessere Verknüpfung der nationalen Netze. Sie sind noch stark (bzw. in Mauretanien ausschließlich) auf den Rohstoffexport zur Küste hin orientiert. Der nationale und internationale Ferntransport erfolgt mit – meist noch staatlichen – Buslinien und nationalen Fluggesellschaften.

Zum tertiären Sektor zählt weiterhin der Handel. Wie in Europa sind Verlagerungstendenzen aus den Innenstädten zu neuen formellen (Einkaufszentren) und informellen (Budenmärkte) Standorten an den Peripherien der Siedlungen zu beobachten. Ein wichtiger (statistischer) Teilbereich des tertiären Sektors waren bislang die Angestellten des Staates (Verwaltung, Schule, Gesundheitsdienste) und das Militär. So sind noch heute circa drei Viertel der libyschen Erwerbstätigen beim Staat beschäftigt. Mit zunehmender Liberalisierung und Privatisierung wird der Anteil in Zukunft jedoch wieder zurückgehen.

Trotz der Bedenken traditionalistischer Kreise haben Tunesien und Marokko einige Küstenregionen dem Massentourismus geöffnet. Der reale ökonomische Beitrag ist schwer abzuschätzen, immerhin erbrachten 1998 in Marokko zwei Millionen und in Tunesien 4,7 Millionen ausländische Touristen jeweils 1,5 Milliarden US-Dollar an Einnahmen. Ob der Fremdenverkehr jedoch das ökonomische Zaubermittel zur Lösung der strukturellen Krisen ist, die sich in offiziellen Arbeitslosenraten zwischen 16 Prozent (Tunesien) und fast 30 Prozent (Algerien) ausdrücken, sei dahingestellt.

Tourismus in Nordafrika

Walter Englert

Nach Angaben der Welttourismusorganisation lag der Anteil Afrikas am gesamten weltweiten touristischen Aufkommen des Jahres 1999 bei vier Prozent. Nur die Zielländer Südafrika, Tunesien und Ägypten zählten im Vergleich zu den größeren Reisezielen, sie allein vereinigten mehr als 60 Prozent der gesamten Ankünfte des Kontinents auf sich. Nordafrika ist eine der wichtigsten Fremdenverkehrsregionen des afrikanischen Kontinents. Zahlreiche Stätten des Weltkulturerbes, pharaonische, griechische und römische Baudenkmäler sowie großartige Wüsten- und Gebirgslandschaften bilden in Verbindung mit langen Küstengebieten und geeigneten klimatischen Bedingungen die Anziehungspunkte für den Tourismus.

Nur wenige Flugstunden entfernt von den europäischen Quellregionen gelegen, haben die Länder Tunesien, Ägypten, Marokko, (und in etwas geringerem Ausmaße auch) Libyen, Algerien und Mauretanien in den neunziger Jahren bedeutende Zuwächse zu verzeichnen. Drei Faktoren waren dafür verantwortlich, dass die Potenziale stärker als vorher ausgeschöpft wurden: Zunächst das gesteigerte Reiseaufkommen aus Europa, daneben aber auch die Probleme in anderen, konkurrierenden Aufnahmeländern wie zum Beispiel der Türkei oder den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens, die damit zeitweise als Ziel für Touristenankünfte ausfielen, sowie drittens die Eigenanstrengungen der nordafrikanischen Staaten, den Urlaub in ihren Ländern attraktiver zu gestalten.

Dabei unterscheiden sich die Entwicklungen in den sechs Ländern trotz ähnlicher natur- und kulturräumlicher Ausstattung stark voneinander. Auf der einen Seite zählen Tunesien und Marokko schon seit langer Zeit zu den "klassischen" Zielen des Bade- und Sommertourismus aus Europa und den Golfstaaten und erzielen hohe Gästezahlen. Auf der anderen Seite beschränken sich Libyen, Algerien und Mauretanien auf eine kleine Zielgruppe, den Kultur- und Naturtourismus. Ägypten verzeichnet seit langem in beiden Kategorien große Aktivitäten.

Ähnlich dynamisch wie die Zahl der Ankünfte entwickelte sich in den drei großen Zielländern das Deviseneinkommen aus der Tourismuswirtschaft. Ägypten hatte von 1995 bis 1999 ein Plus von 42 Prozent auf 3,815 Milliarden US-Dollar zu verzeichnen, wobei der durchschnittliche Ertrag pro Tourist bei 850 US-Dollar lag. Die Werte für Tunesien lagen bei 13,2 Prozent bzw. 330 US-Dollar – dies ist einer der niedrigsten Werte weltweit – und für Marokko bei 41,87 Prozent bzw. 470 US-Dollar.

In Ägypten trägt der Fremdenverkehr fünf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei, mit wachsender Tendenz. 1,5 Millionen Menschen oder zwölf Prozent der Beschäftigten des formellen Sektors fanden in diesem Wirtschaftszweig eine Arbeit. Die Krisen, die der Golfkrieg 1991 und der terroristische Anschlag auf Touristen in Luxor im Jahr 1997 auslösten, scheinen überwunden zu sein, für 1999 waren neue Rekordzahlen vermeldet. Die Ereignisse belegen jedoch deutlich die Anfälligkeit dieses Wirtschaftszweigs – und dies trifft für alle Länder Nordafrikas zu – für externe und interne politische Einflüsse.

In Tunesien ist der Fremdenverkehr mit einem Anteil von sechs Prozent am BIP nach der Industrie der zweitgrößte Devisenbringer des Landes, 69000 direkt und 196000 indirekt Beschäftigte finden dort ihr Auskommen. Die Entscheidungsträger setzten dabei lange Zeit auf das Motto "Masse statt Klasse", mit dem Resultat niedriger Einnahmen pro Gast. Zwar ist dieses Marktsegment mit dem Hinzukommen neuer Entsenderstaaten vor allem aus Zentral- und Osteuropa noch ausbaufähig. Doch will man ähnlich wie in Ägypten mit der Entwicklung neuer Angebote (Kongress-, Gesundheits-, Golf-, Kulturtourismus) in Zukunft eine einkommensstärkere Klientel anziehen. Auch der Ausbau des Binnentourismus besitzt inzwischen eine hohe Priorität.

In Marokko kam es ab der Mitte des vergangenen Jahrzehnts zu einem starken Anstieg des Touristenaufkommens. Dieser wurde durch transporttechnische Verbesserungen wie die drastische Erhöhung der Zahl günstigerer Charterflüge von Europa nach Marokko, durch eine verbesserte Hotelinfrastruktur und andere tourismusbezogene Dienstleistungen, aber auch durch vermehrte Werbemaßnahmen in Frankreich und anderen Ländern Europas erreicht. Der Tourismus wurde 1999 erstmals zum wichtigsten Devisenbringer des Landes, zu dessen BIP er im gleichen Kalenderjahr acht Prozent beitrug. Doch sind momentan die Aufnahmekapazitäten des Landes so weit erschöpft, dass man ohne große Investitionen in der Hochsaison 2001 bei den Beherbergungskapazitäten kein Wachstum mehr erzielen wird.

Trotz ähnlicher bedeutender beziehungsweise in mancherlei Hinsicht sogar noch größerer Potenziale hat sich der Tourismus in den übrigen Ländern Nordafrikas völlig anders entwickelt. Dies hat seine Ursache teilweise in dem politischen Willen der Entscheidungsträger (Libyen, zeitweise von Boykottmaßnahmen betroffen, teilweise Algerien), in der sicherheitspolitischen Situation (Algerien) oder aber der schlechten Erreichbarkeit, verbunden mit einer fehlenden Infrastruktur (Mauretanien, teilweise Libyen). Die jüngere Wirtschaftspolitik dieser Staaten setzt jedoch mehr Ressourcen dafür ein, diesen Sektor langsam aufzubauen.

In allen drei Ländern gibt es inzwischen einen Wüstentourismus. In Algerien war dieser in den achtziger Jahren schon gut entwickelt. In Libyen nahm er seit dem Beginn der neunziger Jahre verbunden mit der einsetzenden wirtschaftspolitischen Liberalisierung und der gleichzeitigen Verschlechterung der Bedingungen für den Saharatourismus in Algerien seinen Aufschwung.

Zahlen über Gäste und deren Struktur sind rar, doch gehen Schätzungen für Libyen davon aus, dass im Jahr 1997 erstmals über 100000 Touristen und zu einem großen Teil Geschäftsreisende das Land besuchten. Seit dieser Zeit sind fast alle großen europäischen Reiseveranstalter mit Kultur- und Naturreisen im Land vertreten. Außerdem wird mit dem anstehenden Ausbau der Infrastruktur und der Einbindung in den internationalen Luftverkehr nach der Aussetzung des Embargos der Vereinten Nationen im April 1999 eine Fortsetzung des Aufschwungs erwartet. Algerien leidet unter seinem Image, welches durch den jahrelangen gewaltsamen innenpolitischen Konflikt bestimmt wird. Immerhin sind seit Mitte 1998 wieder Touristengruppen im saharischen Süden unterwegs, der ebenso wie die großen Städte als sicher gilt. Mauretanien, das bisher kaum auf der globalen Landkarte des Tourismus zu finden war, wurde 1999 von 7000 Touristen besucht. Doch auch dort bemüht man sich, diesen Wirtschaftszweig zu entwickeln.

Der Tourismus bietet große Möglichkeiten für weitere Steigerungen. Doch gibt es für die Verantwortlichen zahlreiche Herausforderungen, was sich an zwei Beispielen belegen lässt: Erstere ist die ökologische Problematik (Wasser, Abfälle), letztere die Frage nach der Ausrichtung, ob Massen- oder eher hochpreisiger Individualtourismus angestrebt wird. Einerseits würden die Ansprüche an Service und damit Ausbildung beträchtlich steigen, andererseits stellt sich insbesondere bei Massentourismus die Frage nach der Akzeptanz des Tourismus in der eigenen Bevölkerung.

Insbesondere traditionell und religiös orientierte Bevölkerungsgruppen betrachten die freizügig auftretenden, dem Alkohol und anderen Vergnügen zugeneigten Touristenscharen sehr misstrauisch.

Fussnoten