Mythos freie Marktwirtschaft
Die weltweiten Versuche zur Liberalisierung unter der Welthandelsorganisation WTO werfen die Frage auf, ob Märkte vor allem in den so genannten Entwicklungsländern des Südens der Herausforderung durch die freie Konkurrenz mit den Industrieländern gewachsen sind oder ob sie eines fortgesetzten Schutzes bedürfen. Diese Frage erweist sich bei genauer Prüfung als falsch gestellt und lässt eine richtige Antwort nicht zu, da sie von irrigen Annahmen ausgeht. Tatsächlich sind es bislang die Märkte der industriell entwickelten OECD-Staaten, die mittels einer protektionistischen Politik in Form von Subventionen ihre eigene Warenproduktion einseitig begünstigen und damit jegliche Form fairer Markt- und Handelsbeziehungen zur Illusion werden lassen.
Befürworter einer Liberalisierung von Handelsbeziehungen tragen zu der Fehlwahrnehmung bei, dass diese gleichbedeutend mit einer Deregulierung von Waren-Austauschbeziehungen sei. Tatsächlich ist der Trend eher umgekehrt: die vermeintlich liberale weltweite Handelsstruktur war noch nie so festgelegt und verklausuliert. In den vergangenen 15 Jahren haben sich die abgeschlossenen bi- und multilateralen Handelsverträge auf insgesamt etwa 230 vervierfacht. Ungefähr weitere 60 werden derzeit ausgehandelt. Diese eingerechnet gibt es derzeit also annähernd doppelt so viele Handels-Vereinbarungen wie Staaten, die am Welthandel partizipieren. Wie schon das Beispiel der Reglementierungen innerhalb der EU verdeutlicht, entzieht sich so gut wie nichts der Regulierung einer so genannten freien Marktwirtschaft.
Freier Handel gleich fairer Handel?
Eine zweite Fehlwahrnehmung ist die vermeintliche Gleichung, dass solcherart freier Handel gleichbedeutend mit einem fairen Handel sei. Damit wird suggeriert, dass die Handelspartner gleiche Voraussetzungen hätten. Weit gefehlt. Volkswirtschaften des Südens sind als Ergebnis der strukturellen Defizite, die Kolonialismus und Imperialismus über Jahrhunderte produziert und verfestigt haben, benachteiligt. Nach wie vor gilt, dass deren kolonialwirtschaftlich zugerichteten Ökonomien den Weltmarkt mit weitgehend unverarbeiteten Rohstoffen (Agrarprodukte, Erze und Mineralien sowie andere natürliche Ressourcen) zu meist sinkenden Preisen beliefern, während die eigentliche Wertschöpfung über deren Weiterverarbeitung zu Fertigwaren andernorts erfolgt. Die daraus resultierenden proportionalen Benachteiligungen durch sich ständig verschlechternde "terms of trade" gehen fast ausnahmslos zu Lasten der Rohstofflieferanten.
Ein weiteres Handicap ist die Subventionspolitik der Industriestaaten. Durch die Begünstigung ihrer eigenen Produzenten werden diese in die Lage versetzt, ihre Produkte im Wettbewerb erheblich konkurrenzfähiger anzubieten. So ist Butter aus Oldenburg oder Irland in den Supermärkten des südlichen Afrika billiger als die aus der Region. Mit frei und fair hat diese Absurdität wenig bis nichts zu tun, mit Protektionismus hingegen viel. Gleichen Problemen wie den davon betroffenen Molkereibetrieben sehen sich die Bauern zentralafrikanischer Länder ausgesetzt, deren Baumwolle mit den hoch subventionierten Ernteerträgen in den US-amerikanischen Südstaaten nicht konkurrieren kann.
Subventionierung bedeutet Benachteiligung
Maggi-Turm in Benin (© Adelheid Hahmann)
Maggi-Turm in Benin (© Adelheid Hahmann)
Die durchschnittliche tägliche Subventionsleistung für eine Kuh in den EU-Staaten liegt deutlich über dem Einkommen eines Großteils der Bevölkerung, die in den Ländern Afrikas südlich der Sahara unterhalb der Armutsgrenze lebt. Es ist also ein Trugschluss, davon auszugehen, dass eine Freigabe von Märkten der Schaffung gleicher Voraussetzungen entspricht, solange die Bezuschussung von Produzenten oder deren Produkten einen Wettbewerb einseitig verzerrt und auf Kosten jener geht, die von solch staatlicher Begünstigung ausgeschlossen oder vor dieser nicht geschützt sind.
Die jährlichen Subventionen landwirtschaftlicher Produkte in den EU-Staaten und den USA werden auf etwa 250 Mrd. US-Dollar geschätzt. Wenn diese einseitige Protektion heimischer Produzenten in den Industrieländern entfiele, bedürfte es keiner Entwicklungshilfe. Afrikanische Produzenten hätten stattdessen erstmals den Nutzen halbwegs gleicher Wettbewerbsbedingungen und könnten ihre Lage dadurch aus eigener Kraft verbessern.
Dass viele Länder Asiens ein vergleichsweise großes Wirtschaftswachstum erzielten, hat zwar auch mit speziellen Hemmfaktoren in afrikanischen Gesellschaften, aber wenig mit einer allgemeinen Marktliberalisierung dieser asiatischen Länder zu tun. Deren Eingliederung in den Weltmarkt erfolgte vielmehr selektiv und schrittweise gerade als Folge binnenorientierter Entwicklungsfortschritte. So konnten diese zeitweilig relativ geschützten Volkswirtschaften innerhalb von Jahrzehnten zu konkurrenzfähigen Exporteuren von Fertigwaren sogar im "High-Tech" Bereich heranwachsen.
Zollschutz als Notwehr?
Zwiebelverkäuferin in Benin (© Adelheid Hahmann)
Zwiebelverkäuferin in Benin (© Adelheid Hahmann)
Die reichen Länder des Nordens koppelten im Zuge ihrer Industrialisierung während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Erschließung kolonialer Märkte als Rohstofflieferanten mit einer Schutzzoll-Politik. Diese ermöglichte ihnen den Aufbau einer eigenen Fertigwarenproduktion und damit die langfristige - wenn auch nicht unbegrenzte - Sicherung einer Vormachtstellung auf dem Weltmarkt. Ein solches Entwicklungsmodell lässt sich nicht wiederholen. Es hat Strukturen geschaffen, die nicht rückgängig zu machen sind. Aber die im Zuge dieses Prozesses und seither benachteiligten Gesellschaften sollten wenigstens eine Chance bekommen, sich aus eigener Kraft sozialökonomisch entwickeln zu können. Dazu bedarf es der Schaffung von Rahmenbedingungen, innerhalb derer Protektionismus als legitime Überlebensstrategie zur Stärkung heimischer Produzenten und Märkte verstanden wird. So könnten Voraussetzungen geschaffen werden, dass sowohl die Menschen in den Industriestaaten als auch in den Ländern Afrikas von partnerschaftlichen wirtschaftlichen Austauschbeziehungen profitieren. Damit wären dann auch Europa und Nordamerika reif für die Konkurrenz.