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Die afrikanische Familie | Afrika | bpb.de

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Die afrikanische Familie

Pierrette Herzberger-Fofana

/ 9 Minuten zu lesen

Einleitung

Die afrikanische Familie, die traditionell eine stabile Institution war, ist über die vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte zahlreichen Einflüssen und Außenwirkungen ausgesetzt worden, die zu ihrer Zersplitterung führten. Zu diesen Einflüssen zählten unter anderem die neu in Afrika eingeführten Religionen wie der Islam und das Christentum und nicht zuletzt der Kolonialismus im 19. und 20. Jahrhundert sowie die Migration heute. Der gesellschaftliche Wandel betrifft auch nicht nur die afrikanischen Gesellschaften. Es zeichnet sich ab, dass sich die Familienstrukturen in allen Regionen der Welt mit der Zeit verändern.

Afrika ist ein Kontinent mit einer enormen Vielfalt und es wäre wohl anmaßend, für 53 Länder ein einziges Familienmuster zu entwerfen. Insofern beschränkt sich der Beitrag auf die Gesellschaften Westafrikas, die eine gemeinsame Geschichte teilen, und er thematisiert zudem Strukturen und Veränderungen, die stark verallgemeinert, alle Länder dieser Region betreffen.

Die Großfamilie

Die traditionelle afrikanische Großfamilie ist der Mittelpunkt der Gesellschaft und eine ideale Schule zur Vorbereitung auf eine soziale Verantwortung innerhalb der Gemeinschaft. Hier werden Sozialfälle abgefangen und moralische Werte vermittelt. Der Einzelne identifiziert sich über die Familie als die für ihn wichtigste Institution. So entstehen Verbindlichkeiten und ein Verantwortungsgefühl für die Familie und die Gemeinschaft im weiteren Sinne. Diese lebenslange Wechselbeziehung bestimmt das private sowie das öffentliche Leben bis in die Bereiche der Politik und Wirtschaft hinein. So kann auch durchaus ungewollt und unbeabsichtigt ein System der Vetternwirtschaft als eine falsch verstandene Solidarität entstehen.

Eheschließung

Frauentagsfeier (© Adelheid Hahmann)

In der traditionellen Gesellschaft und heute noch in ländlichen Gebieten ist es üblich, dass die eheliche Verbindung zweier Menschen durch die Verwandtschaft ausgehandelt wird. Die Ehe gilt hier nicht als Allianz zwischen zwei Personen, sondern zwischen zwei Gruppen etwa gemeinsamer Vorfahren bzw. zwischen Volksgruppen; und die Exogamie [Heiratsordnung, Anm.d. Red.] ist die Regel. Diese Allianzen symbolisieren die Fortsetzung der Gemeinschaft.

Der Bräutigam muss der Familie seiner Braut für die entzogene Arbeitskraft einen Brautpreis zahlen, meist in Form von Naturalien wie Rindern oder in Arbeitstagen, die er selbst auf den Feldern der Familie leistet. Diese Arbeit hat einen symbolischen Wert als Friedenszeichen für die zukünftig verschwägerten Familien. Der Brautpreis kann auch als eine Ablösung für die geleistete Erziehung der Töchter verstanden werden und dient in den Fällen einer Trennung, unter anderem durch Scheidung, für den Unterhalt der Frau, die fast immer zu ihrer Familie zurückkehrt.

Wenn allerdings einige westliche Autoren die Ehe in afrikanischen Gesellschaften einseitig als eine rein zweckmäßige Verbindung zweier Familien darstellen, zeugt das von einer eher eurozentrischen Sichtweise. Es existieren verschiedene Formen des Ehelebens. Prinzipiell muss die Braut auch gefragt werden, ob sie in die Ehe einwilligt. Sicherlich werden dort, wo Not am dringendsten ist, die eigenen Werte nicht immer respektiert und eine Zustimmung der Brautleute mag sachlichen Zwängen unterliegen.

Auch wenn in zunehmendem Maße die jungen Leute selbst entscheiden können, wen sie heiraten, beobachtet man heutzutage einen Rückzug in die arrangierte Ehe. Paradoxerweise spielt sich dieses Phänomen in allen Schichten ab. Nachdem die Scheidungsziffern in den vergangenen Jahren dramatisch explodiert sind, ist selbst im städtischen Milieu und in den oberen Kreisen der Gesellschaft eine freiwillige Rückkehr zur arrangierten Ehe zu verzeichnen, da diese angeblich eine größere Stabilität bietet.

Die "afrikanische Familie"

Jedes Familienmitglied bekleidet eine bestimmte Position in der Familie. Die Stellung des Einzelnen ergibt sich aus einer sehr starken Rangordnung, welche sich auf die Älteren und die Ahnen bezieht. Denn afrikanische Familien sind im Allgemeinen sehr religiös. Jeder kennt den ihm zugewiesenen Platz und weiß somit, wie er sich einbringen kann und bis wohin seine Kräfte reichen. Das gilt auch für die Festlegung der Geschlechterrollen.

Die Solidarität in traditionellen Gesellschaften

Marktverkäuferin in Ruanda mit ihrem Sohn. (© FAO/17621/ G. Diana)

Eine Familie funktioniert nicht ohne Solidarität und die afrikanische Solidarität ist legendär. Sie beruht auf Werten wie Gastfreundschaft, Menschlichkeit und einem ausgeprägten Sinn für eine gegenseitige Hilfe. Die Gastfreundschaft ist besonders ausgeprägt, einem Gast wird grundsätzlich die beste Unterkunft, die beste Schlafmatte oder das beste Bett angeboten. Es wird alles getan, um ihm eine Integration in die Gemeinschaft zu erleichtern.

Das Gebot der Menschlichkeit und der gegenseitigen Hilfe ist nur eine Konsequenz der allgemeinen Achtung vor dem Leben. Das Leben ist heilig. Jede Geburt, ob gewollt oder ungewollt, wird als Zeichen dafür begrüßt, dass die Götter der Gemeinschaft wohlwollend gesinnt sind und die Ahnen ihren Segen erteilt haben. Demnach wird in traditionellen Familien jede Geburt als eine Bereicherung der Gemeinschaft empfunden. Solche Prinzipien stehen im starken Gegensatz zu modernen Tendenzen der Familienplanung.

Die Fürsorge erstreckte sich schon immer auf alle Mitglieder der Gemeinschaft. Es gab daher keine Obdachlosen, wie man sie in Europa versteht, Menschen am Rande der Gesellschaft. Die desolaten Zustände an Armut und Hunger, die heutzutage viele Regionen in Afrika charakterisieren, wurden durch die Gemeinschaft aufgefangen. Dieses Gefühl der Verantwortung ist auch in der heutigen Zeit noch generationsübergreifend in den Köpfen der Afrikanerinnen und Afrikaner verankert, ein Grund, weshalb man wohl in Westafrika kein Altersheim finden wird.

Die Solidarität spiegelt sich in den glücklichen und unglücklichen Augenblicken des Lebens wie bei der Geburt, der Taufe, einer Hochzeit und in Todesfällen wider. In der traditionellen Gesellschaft werden solche Lebensabschnitte nicht nur von den direkt Betroffenen gemeistert, sondern von der Familie bis hin zur gesamten Gemeinschaft. Denn auch die Familie vergrößert sich durch Geburt, behauptet und verstärkt sich durch Allianzen und verringert sich durch Todesfälle. Solche Ereignisse werden daher von allen mitgetragen.

Die Familie im gesellschaftlichen Wandel

Mütter aus dem Senegal geben ihren Kindern Hirse und Milch zum Essen. (© FAO/18794/I. Balderi)

Die beschriebenen Merkmale der Zusammengehörigkeit verlieren in einer modernen Gesellschaft zunehmend an Bedeutung und stoßen auf wachsende Widerstände. Man findet sie teilweise noch in ländlichen Gebieten, während sich im städtischen Raum schon seit Jahrzehnten eine Kultur des Individualismus herauszubilden begann, verstärkt durch das Entstehen von Klassengesellschaften. Solidarität wird durch Mitleid ersetzt und das eigene Vorankommen gewinnt an Priorität.

Die meisten sichtbaren Veränderungen sind in der Familienstruktur selbst festzustellen. Die Großfamilie ist in der Auflösung begriffen und einige, mit ihr verbundene Werte gehen unweigerlich verloren. Zahlreiche Risse haben sich in das Gebäude der afrikanischen Solidarität eingeschlichen. Sie sind zum Teil dem "unumkehrbaren" Vormarsch des Fortschritts geschuldet. Besonders bei den Afrikanern im städtischen Raum haben sich Reserviertheit, Vorbehalte und eine gewisse Gleichgültigkeit breit gemacht. Die Städter verhalten sich zurückhaltend gegenüber der entfernten Verwandtschaft und unerwartete Familienbesuche werden als Verletzung der privaten Sphäre empfunden. Im gleichen Maß zerbröckelt das Zugehörigkeitsgefühl zum Familienbund. Der Mensch bewegt sich in der Anonymität der Masse und passt sein eigenes Verhalten entsprechend an. Jegliche zusätzliche Person wird nicht mehr als Segen, sondern als Last empfunden. Vor allem die Sorge für ältere Menschen reduziert sich für viele auf eine Pflichterfüllung.

Familie auf dem Weg zum Markt (© Adelheid Hahmann)

Diese Entwicklung kam nicht von heute auf morgen. Während der Kolonialzeit hatte die Generation von älteren Menschen noch wenig unter diesen negativen Begleiterscheinungen der mit der Kolonialisierung Einzug haltenden 'Moderne' zu leiden. Ganz im Gegenteil. In dieser Epoche war das Zugehörigkeitsgefühl besonders intensiv ausgeprägt. Die bereits erwachsenen Kinder kamen häufig zurück ins Dorf, um sich Rat zu holen. Die Angst vor der fremden Herrschaft und der gemeinsame Widerstand verfestigten die Beziehungen zwischen den Altersgruppen. In dieser Atmosphäre wuchs die nachfolgende Generation älterer Menschen heran. Auch hier blieben die Familienbande noch intakt und gegenseitige Hilfe und Verantwortungsgefühl spielten in den persönlichen Beziehungen nach wie vor eine große Rolle. Die jetzige Generation ist dagegen bereits von den Folgen der sozialen Veränderungen betroffen. Die jungen Paare aus der Stadt kümmern sich nunmehr um ihre Eltern sozusagen auf Distanz. Ältere Menschen werden zunehmend seltener in Entscheidungsprozesse und in das Leben der Jüngeren einbezogen.

Ursachen für den gesellschaftlichen Wandel

Familien mit Kindern tragen eine große Verantwortung. (© Helen Pinkham, SXC.hu)

Die Vernetzung der Welt und vor allem die Medien bewirkten die Idealisierung des westlichen Lebensstils, der nun auch von einem Teil der afrikanischen Gesellschaft angestrebt wurde. Modernität ist an sich ebenso wenig wie die Tradition zu verurteilen. Jedem dieser Konzepte entspricht eine familiäre Lebensform mit ihren Vor- und Nachteilen.

Denn die traditionelle afrikanische Familie birgt durchaus negative Seiten in sich. Sie bürdet dem Einzelnen unzählige Verpflichtungen auf, die ihn auch überfordern können. Kranke müssen unterstützt, Trauernden muss geholfen werden und im Prinzip gebietet es die Höflichkeit, jeden zu empfangen, der an die Tür klopft. Wird ein Kind vom Land auf die Schule geschickt, so wohnt es bei den Verwandten. Die Familie übt zudem einen großen Druck auf ihre Mitglieder aus. Dies führt dazu, dass jüngere Paare immer mehr Lust verspüren, diesen Zwängen zu entfliehen. Die modernen städtischen Familien kapseln sich nach Möglichkeit ab und treffen eine sorgfältige Auswahl unter ihren fernen und angeheirateten Verwandten, mit denen sie engere Beziehungen unterhalten wollen.

Die jüngeren Generationen schaffen sich ein neues Netzwerk an Freunden, Nachbarn und Kollegen, die an die Stelle der ursprünglichen Familie treten. Sie sind im Gegensatz zu den Verwandten weniger fordernd und bieten in Notfällen sicheren Halt. Die Familie passt sich somit dem heutigen sozio-ökonomischen Kontext an. Eine moderne Familie im urbanen Afrika hat mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie eine städtische Familie in Europa. Berufstätige Frauen finden wenig Zeit, ihre Kinder zu erziehen und sich um ihre Verwandten zu kümmern. Die familiären Bindungen lockern sich und die moralischen Werte werden nicht mehr von Generation zu Generation weiter vermittelt. Kinder aus diesen Familien werden im schlimmsten Falle unfähig, zu einem späteren Zeitpunkt ihren eigenen Pflichten nachzukommen und ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Auch die heutigen Bildungseinrichtungen können die erzieherische Funktion nicht uneingeschränkt ausfüllen, da sie sich vorrangig auf die Wissensvermittlung konzentrieren und die Wertevermittlung häufig zu kurz kommt.

Weibliche Solidarität

Zu den neuen Netzwerken gehören Zusammenschlüsse von Frauen, die verstanden haben, dass niemand ihre Situation besser versteht als sie selbst. Sie organisieren sich und entwickeln Modelle sozialer und politischer Macht, um gegen existierende Ungleichbehandlung vorzugehen. Sie arbeiten in Landprojekten auf der Grundlage der Selbstversorgung mit der Möglichkeit des Zugangs zu Landbesitz, zu Krediten und zu technischen Geräten. In den meisten frankophonen Ländern haben sie das Prinzip der "tontines" geschaffen, welches wie folgt funktioniert: Eine Gruppe von Frauen schließt sich zusammen, die jeden Monat eine vereinbarte Summe in einen gemeinsamen Topf zahlen.

Im Rotationssystem erhält eine der Frauen am Ende des jeweiligen Monats den gesammelten Betrag. In Notfällen, wie dem anstehenden Kauf von Düngemitteln oder bei wichtigen Ereignissen wie einer Taufe oder Trauerfeier, wird das Geld derjenigen gewährt, die es am dringendsten braucht. Das System hat sich bewährt und ersetzt zum Teil den fehlenden Zugang zu Krediten. Selbstständige und erfolgreiche Projekte von Frauen für Frauen sind inzwischen in mehrfacher Hinsicht Realität geworden. Sie haben ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass Frauen ihre Zukunft in die Hand nehmen und Strukturen verändern können. Beispiele wie das des "Green-Belt-Movements" in Kenia mit der Friedensnobelpreisträgerin Prof. Wangari Maathai an der Spitze beweisen, dass es Frauen gelingen kann, solidarische Entwicklungsmodelle zu schaffen, die bei den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Frauen ansetzen.

Fazit: Ein Symbol der Menschlichkeit

Die afrikanische Familie hat tiefe Veränderungen erlebt. Sie ist vielerorts von der Groß- zur Kleinfamilie übergegangen. Dennoch ist die den bisherigen Gemeinschaftsstrukturen zugeschriebene Solidarität notwendiger denn je in der Gesellschaft. Sie stammt aus einer langen afrikanischen Tradition, gilt schließlich als Bestandteil der afrikanischen Kultur und trägt als solche zur Wahrung von Identität und Authentizität bei.

Afrika steht vor der Herausforderung, in einer globalisierten Welt seine traditionellen Werte zu wahren und mit einer modernen Entwicklung in Einklang zu bringen. Das betrifft auch das Solidarsystem Familie. Denn die 'afrikanische Familie' ist Trägerin von Signalen und Symbolen und verewigt den Menschen in seiner Menschlichkeit.

Literatur

Hountoundji, Paulin : Les savoirs endogènes. Pistes pour une recherche, Paris, Karthala 1994.

Wade, Adoulaye : Un destin pour l' Afrique, Paris, Karthala 1989, 2. Auflage, Paris Laffon.

Fussnoten

Dr. Pierrette Herzberger-Fofana ist Sozialwissenschafterin, Soziolinguistin und Germanistin. Sie ist Dozentin an der Universität Erlangen-Nürnberg, Mitglied im Stadtrat von Erlangen und Vorsitzende der Europa–Sektion des Verbands der afrikanischen Frauen für Forschung und Entwicklung (AFARD-AAWORD). Frau Dr. Herzberger-Fofana kommt aus dem Senegal und ist Spezialistin u.a. für die Rolle der Frau in der islamischen Kultur.