Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Gesellschaftlicher Wandlungsprozess | Afrika | bpb.de

Afrika Geschichte Globalgeschichte Afrikas Kontinent im Umbruch Kolonialismus Chronologie deutscher Kolonien Deutschland in Afrika Staatliche Unabhängigkeit Ideen der Unabhängigkeitsbewegung Afrikas steiniger Weg Gesellschaft Die Perspektive der Jugend Multikulturelle Gesellschaften Toleranzprinzip Wandel der Gesellschaft Zuwanderung in Großstädte Die afrikanische Familie Gender und Agrarpolitik Sprachenvielfalt Sprachen und Kulturen Afrikas Religionen Kwanzaa Islam in Afrika Entwicklung der Demokratie Wirtschaft Wirtschaftliche Entwicklung in Afrika Innovation und Transformation in Afrika Strategien für Entwicklung Afrikas Märkte Rohstoffe für den Export Natürliche Ressourcen Industrie in Maghrebstaaten Beispiel Ägypten Reformen der Wirtschaft Anpassung der Strukturen Glossar Panafrika Afrikanische regionale Integration und globale Politik Herausforderungen Kampf gegen Korruption Autokratie und Demokratie Demokratie in Afrika? Kriege als Geschäft NEPAD Horn von Afrika Südafrikas Wandel Krieg in Zaire Nigerias Zukunft Kampf gegen Aids Aids in Sub-Sahara-Afrika Digitale Kluft Armut in Sub-Sahara-Afrika Ressource Wasser Afrika und Europa Afrikanisch- europäische Beziehungen Akteur EU Euro-mediterrane Partnerschaft Afrika - Europa - USA Nation Building Strukturen stabilisieren Game in Town Herausforderungen Neokolonialismus Kultur Literatur Kunst Hip-Hop, Kwaito-Musik Theater Afrikanischer Musikmarkt Ausstellung: Gleichzeitig in Afrika Afrika und China Hintergründe der chinesischen Außenpolitik in Afrika Redaktion

Gesellschaftlicher Wandlungsprozess

Ernst Hillebrand

/ 15 Minuten zu lesen

Seit einigen Jahrzehnten erlebt Afrika südlich der Sahara eine gesellschaftlichen Wandlung. Sie äußert sich in Bevölkerungswachstum, Urbanisierung, Erziehungswesen, Wertewandel, Kriminalität und Krankheiten.

Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 264) - Gesellschaftlicher Wandlungsprozess

Soziale und wirtschaftliche Entwicklung

Afrika südlich der Sahara ist die Region, die nach allen wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren weit hinter andere Weltregionen zurückfällt. In den vergangenen 20 Jahren überstieg das jährliche Wirtschaftswachstum in den meisten Ländern der Region kaum das Bevölkerungswachstum. Die Folge war in vielen Fällen eine Stagnation, in einigen gar ein Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens. Die meisten Volkswirtschaften Afrikas hängen wie schon in der Kolonialzeit vom Export landwirtschaftlicher und mineralischer Rohstoffe ab, die großen Preisschwankungen unterliegen. Industrielle Entwicklung hat nur ansatzweise stattgefunden.

Die durchschnittliche Lebenserwartung ist mit circa 50 Jahren nach wie vor gering, die Kindersterblichkeit noch immer außerordentlich hoch, ebenso wie die Analphabetenrate. Der von der UNDP (United Nations Development Programme) erstellte Index für menschliche Entwicklung (Human Development Index, HDI) weist für Afrika südlich der Sahara im Vergleich zu anderen Ländern den geringsten Durchschnittswert auf. Der Großteil der am wenigsten entwickelten Länder der Welt befindet sich in dieser Region.

Afrika ist ein Kontinent gescheiterter Entwicklungsstrategien, die nicht nur überehrgeizigen Plänen afrikanischer Politiker entsprangen, sondern auch den Rezeptbüchern westlicher Entwicklungstheoretiker. Die formelle Wirtschaft liegt darnieder. Um so mehr Afrikanerinnen und Afrikaner suchen ihr Auskommen im sogenannten informellen Sektor, für den sich mehr und mehr der Begriff Kleingewerbe durchgesetzt hat. Es ist nicht nur von großer wirtschaftlicher Bedeutung. In ihm äußert sich auch der große gesellschaftliche Wandel, der wiederum vor allem Folge von Verstädterung und Alphabetisierung ist. Denn trotz der insgesamt ernüchternden Bilanz afrikanischer Entwicklungsanstrengungen sind doch erhebliche Aufbauleistungen im Bildungswesen zu verzeichnen.

Die Ausweitung des Gesundheitswesens führte zu einem wesentlichen Ansteigen der Lebenserwartung und zur Reduzierung der Kindersterblichkeit. Aufgrund der hohen Staatsverschuldung und des Zwanges zu Sparmaßnahmen im Staatshaushalt sind aber diese Erfolge gefährdet. Afrikanische Politiker setzen in der Regel den Rotstift als erstes bei den Sozialausgaben an. Dies dürfte gesellschaftliche Konflikte verschärfen, die stets mit sozialem Wandel einhergehen. Wachsende Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit von Jugendlichen sowie das Anwachsen der städtischen Slums und der Gewaltkriminalität sind die Schattenseiten dieses Wandels.

Für viele Ökonomen und auch eine wachsende Zahl von afrikanischen Politikern wird immer deutlicher, daß kaum eines der afrikanischen Länder für sich allein die Kraft besitzt, diese Probleme zu lösen, die notwendige wirtschaftliche Entwicklung einzuleiten und im internationalen Wettbewerb der Investitionsstandorte zu bestehen. Immer stärker wird daher der Ruf nach regionaler Zusammenarbeit und Integration nach dem Muster der Europäischen Union. Bisher haben jedoch vor allem nationale Eifersüchteleien, unzureichende Infrastruktur und eine geringe Produktvielfalt der einzelnen Volkswirtschaften ein Zusammenwachsen afrikanischer Regionen verhindert.

Gesellschaftlicher Wandlungsprozess

Afrika südlich der Sahara erlebt seit einigen Jahrzehnten das rascheste jemals in der Menschheitsgeschichte erlebte Bevölkerungswachstum. War Afrika am Anfang des Jahrhunderts ein relativ schwach besiedelter Kontinent, so hat die Bevölkerungsdichte seither stetig zugenommen. Die Bevölkerungswachstumsrate liegt gegenwärtig bei circa 2,8 Prozent und ist damit die höchste aller Regionen der Erde

Bevölkerungswachstum

Die Zahl der im subsaharischen Afrika lebenden Menschen ist von 210 Millionen 1960 auf heute über 600 Millionen angewachsen. Angesichts der Altersstruktur der Bevölkerung stehen Afrika selbst bei sinkender Geburtenrate die absolut größten Schübe in der Bevölkerungsentwicklung noch bevor. Experten gehen davon aus, daß das Bevölkerungswachstum in Afrika erst gegen Ende des 21. Jahrhunderts mit circa 2 Milliarden Menschen – dies entspricht ungefähr einem Viertel der Erdbevölkerung – zu einem gewissen Gleichgewichtspunkt kommen wird.

Die Gründe für dieses ungewöhnliche Wachstum sind vielfältig. Sehr vereinfachend kann man es aus der Kombination von drei Faktoren erklären:

  • Eine ökonomische und kulturelle Tradition, die eine große Anzahl von Kindern in einer agrarischen, nichtmechanisierten und strukturell unberechenbaren Umwelt positiv bewertet.

  • Das Vorhandensein einer zwar unzureichenden, aber insoweit wirksamen medizinischen Basisversorgung, als sie die Säuglings- und Kindersterblichkeit reduziert hat.

  • Eine sehr langsame Modernisierung der Lebenssituation und der Mentalitäten der Menschen, die den traditionellen Kinderreichtum erst ansatzweise einem kalkulierenden Umgang mit Familienplanung weichen läßt.

Urbanisierung

Eine der Folgen des raschen Bevölkerungswachstums ist die rapide voranschreitende Verstädterung des bis vor wenigen Jahrzehnten fast ausschließlich ländlich geprägten Kontinents. Größere Städte waren in Afrika bis zur Kolonialzeit hauptsächlich an der Küste gelegene Handelsposten gewesen, die erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu nennenswerter Größe heranwuchsen.

In den Gebieten mit ausgeprägter Minenwirtschaft, wie in Süd- und im südlichen Afrika, hatte sich im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schon eine Entwicklung zu einer temporären Verstädterung der männlichen Wanderarbeiter in den Bergbauregionen abgezeichnet. Diese war aber als Lebensphase begrenzt und in der Regel mit der Rückkehr der Wanderarbeiter in ihre Herkunftsregionen verbunden. Erst mit der Unabhängigkeit und der Entstehung urbaner Zentren, moderner Arbeitsplätze und der in den achtziger Jahren massiv einsetzenden Krise der der eigenen Versorgung dienenden Subsistenzlandwirtschaft – gekoppelt mit dem raschen Bevölkerungswachstum – hat sich der Verstädterungsprozeß verstetigt und erheblich beschleunigt.

Das rasche Wachstum der Städte hat verschiedene Ursachen. Die sinkende Verfügbarkeit von Boden, geringe Ernteerträge, eine wachsende Überbevölkerung in ländlichen Gebieten, zunehmende ökologische Probleme in den halbwüstenhaften Problemzonen des Kontinents treiben die Landflucht voran. Das Stadt-Land-Gefälle, die Attraktivität eines westlich-urbanen Lebensstils und Möglichkeiten von Lohnarbeit im formellen und informellen Sektor machen die Städte gerade für junge Menschen besonders anziehend.

Lebten 1960 erst circa 15 Prozent der Afrikanerinnen und Afrikaner in Städten, so dürfte im Jahr 2000 dieser Wert bei 35 Prozent liegen. Keine andere Region der Erde hat seit 1980 eine ähnlich hohe Zunahme der städtischen Bevölkerung gekannt (jährliches Wachstum im Durchschnitt: fünf Prozent). Allerdings sollte nicht übersehen werden, daß diese Entwicklung von einer extrem niedrigen Basis ausging und keineswegs überall gleichförmig verläuft. Ländern mit relativ hohem Anteil an städtischer Bevölkerung wie Kongo-Brazzaville (63 Prozent) oder der Elfenbeinküste (47 Prozent) stehen Länder mit einem sehr geringen Anteil von städtischer Bevölkerung gegenüber, wie etwa Äthiopien (15 Prozent) oder Uganda (14 Prozent). Das Ausmaß der Verstädterung spiegelt somit nicht zuletzt das Ausmaß der Industrialisierung bzw. den sozio-ökonomischen Entwicklungsstand eines Landes wider.

Bisher sind noch wenige afrikanische Städte in die Kategorie der Mega-Städte (mehr als zehn Millionen Einwohner) hinein gewachsen, wie sie für Lateinamerika oder Asien zunehmend prägend sind. Lediglich Kairo, Lagos (circa 12 Millionen Einwohner), und Kinshasa (mit circa 5 Millionen Einwohnern) kommen an diese Dimensionen heran. Läßt man Lagos in Nigeria beiseite, dann leben im brasilianischen Sao Paulo allein immer noch mehr Menschen als in allen Millionenstädten Westafrikas zusammen.

Das Besondere des Urbanisierungsprozesses in Afrika in den letzten fünfundzwanzig Jahren liegt also nicht in der Zunahme der Stadtbevölkerung an sich. Ihren spezifischen Charakter erhält die Verstädterung in Afrika erst durch die Verbindung mit zwei anderen Entwicklungen: Während die Stadtbevölkerung stetig anwuchs, entstanden in der Industrie und im formellen Sektor nur wenige neue Arbeitsplätze. Gleichzeitig hat sich der Staat im Laufe der achtziger und neunziger Jahre weitestgehend aus allen Bereichen der Stadtplanung und -entwicklung zurückgezogen. Folge ist eine ungeordnete spontane Urbanisierung, in der Slums ohne jegliche Infrastruktur an den Außenbezirken der Großstädte in die Landschaft wuchern. Trotz der schwierigen Lage in diesen übervölkerten Vierteln der afrikanischen Großstädte ist der Staat als ordnendes Element oder als Bereitsteller von sozialer Infrastruktur kaum mehr vertreten.

QuellentextWachsende Verstädterung

Zwar lebt die Mehrheit der Afrikaner im ländlichen Raum, doch sind die gegenwärtig und wahrscheinlich auch künftig sehr hohen Verstädterungsraten nicht Ausdruck wirtschaftlicher Dynamik, sondern von Marginalisierung und zunehmenden räumlichen Ungleichgewichten der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Ein Symptom dieser massiven Probleme sind stark wachsende Squattersiedlungen (Siedler ohne Rechtstitel, Anm. d. Red.). Afrikanische Städte unterschiedlicher Genese gleichen sich in ihrem Erscheinungsbild an. Da effiziente und eine nachhaltige Entwicklung sichernde Steuerungsinstrumente fehlen, belasten die Städte in sehr starkem Maße Umwelt und Ressourcen.

Afrika, neben Asien der am wenigsten verstädterte Erdteil (1990 lebte hier knapp ein Drittel der Bevölkerung in Städten), weist gegenwärtig die weltweit höchsten Verstädterungsraten auf. Der Verstädterungsgrad, ausgedrückt durch den Anteil der städtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung, ist am höchsten in Süd- und Nordafrika (Libyen, Tunesien und Algerien), am geringsten in Ost- und Zentralafrika. Zu den am stärksten verstädterten Ländern Schwarzafrikas gehören Südafrika, Sambia und die Zentralafrikanische Republik. Die Verstädterungsraten sind höher als in Lateinamerika und Asien, am höchsten in Ost-, Zentral- und Westafrika. [...]

Die Umschlagplätze im Kolonialhandel und Zentren der Kolonialverwaltung blieben die Knotenpunkte im Siedlungsnetz der unabhängig gewordenen Staaten. Die von Europäern für Europäer errichteten Städte, wie zum Beispiel Nairobi, Lusaka und Harare, sind trotz der Afrikanisierung, das heißt Übernahme der Wohngebiete, Arbeitsplätze und Funktionen der Europäer durch Afrikaner, noch wenig in den afrikanischen Gesellschaften verwurzelt.

Die Unterschiede zwischen vorkolonialen Städten und Kolonialstädten nehmen jedoch ab. Die Kolonialstädte entwickeln sich allmählich zu Städten der Afrikaner. Kennzeichnungen der Kolonialstädte und der in der Kolonialzeit überformten Städte wie kleine Ober- und Mittelschicht, Trennung der Rassen und Ethnien, sehr starke wirtschaftliche Disparitäten, intensive Stadt-Land-Beziehungen und starke externe Einflüsse auf die Flächennutzung, Architektur und Bebauung werden modifiziert durch siedlungsgeschichtliche, religiöse und kulturspezifische Faktoren. Sie prägen die Yorubastädte Ife und Ibadan anders als die islamischen Städte der Sahelzone wie Timbuktu und in der Kolonialzeit gegründete oder veränderte Städte wie Lusaka, Dakar, Lagos, Kinshasa und Khartum. Die Unterscheidung in Europäerstädte, Kolonialstädte und duale Städte ist daher nicht sehr trennscharf.

In den ostafrikanischen Städten sind die demographischen und sozioökonomischen Veränderungen größer als in denen Westafrikas. Die starken demographischen Verzerrungen der Kolonialzeit, vor allem der hohe Männerüberschuß in ostafrikanischen Städten, der geringe Anteil Kinder und älterer Menschen und hohe Anteil jüngerer erwerbstätiger Afrikaner, sind schwächer geworden. In wenigen Jahren ist eine stabile, junge afrikanische Stadtbevölkerung entstanden. Die für Afrika typische Großfamilie löst sich in Kernfamilien auf. [...]

Zwischen Städten und ländlichem Raum bestehen [...] auch große Unterschiede in der Stärke der Wanderungsströme, der Verteilung von Markt, Einfluß und Einkommen und in der Versorgung mit Gütern und Leistungen.

Zuwanderer in große Städte kommen häufig nicht direkt aus dem ländlichen Raum, sondern über andere Städte. Sie sind älter und besser ausgebildet als Zuwanderer direkt aus dem ländlichen Raum. In den sechziger und siebziger Jahren bestimmten vor allem Wanderungen die Bevölkerungszunahme der Städte, seither tragen zunehmend Geburten zur Bevölkerungszunahme bei. Der Geburtenüberschuß ist in vielen afrikanischen Städten zur wichtigsten Wachstumskomponente geworden.

In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit nahm die Zahl der Arbeitsplätze stark zu. Verwaltung, Industrie und Handel wurden differenzierter und diversifizierter. Seit der weltwirtschaftlichen Rezession in den siebziger Jahren entwickeln sich Bevölkerung und Wirtschaft auseinander. Fast alle Arbeitsplätze des formellen Sektors befinden sich in den Städten. Nur etwa fünf bis 15 Prozent der Erwerbspersonen finden hier eine Beschäftigung, vor allem im öffentlichen Dienst. Arbeitslosigkeit, insbesondere Jugendarbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und informelle Tätigkeiten sind entsprechend groß. Frauen haben es aufgrund ihres allgemein niedrigen Bildungsstands, soziokultureller Normen und praktischer Probleme, wie die Betreuung der Kinder, sehr schwer, bezahlte Tätigkeiten zu finden. Sie sind deshalb mehr als Männer im informellen Sektor tätig, vor allem im Straßenhandel. Der informelle Sektor, ein zunehmend wichtigerer Teil der Stadtökonomie, verschleiert die Arbeitslosigkeit. Seine Bedeutung als Tätigkeitsfeld und Versorgungsbasis ist in westafrikanischen Städten größer als in zentral- und ostafrikanischen Städten. Asiaten, in Westafrika vor allem Libanesen und Syrer, in Ost- und Südafrika Inder, dominieren den Handel in früheren Kolonialstädten und behindern zum Teil die Entwicklung des afrikanischen Kleinhandels.

Wolf Gaebe, "Urbanisierung in Afrika", in: Geographische Rundschau 10/1994, S. 570 ff

Erziehungswesen

Eine der großen Hoffnungen der Unabhängigkeitsära war die Erwartung, daß die entstehenden jungen Nationalstaaten die durch die koloniale Schul- und Bildungspolitik verursachten Defizite rasch beseitigen und durch eine intensive Bildungs- und Ausbildungspolitik den Grundstein für einen selbsttragenden Entwicklungsprozeß legen würden. In der Tat haben die afrikanischen Staaten – mit Unterstützung durch die Entwicklungshilfe – Beeindruckendes in der Bildungspolitik geleistet und nicht unerhebliche Anstrengungen unternommen, den Bildungsstand der Bevölkerung zu heben. Lag die Alphabetisierungsrate 1970 noch bei lediglich 27 Prozent, so hat sie sich 1994 mit 56 Prozent dem Durchschnitt der Entwicklungsländer angenähert (64 Prozent). Die Länder des subsaharischen Afrika geben nach wie vor einen höheren Anteil ihres Bruttosozialprodukts für Bildung aus als die anderen Staaten der Erde – einschließlich der Industriestaaten des Nordens.

Diese allgemein beeindruckende Entwicklung kann allerdings nicht darüber hinweg- täuschen, daß sowohl innerhalb der einzelnen Staaten große Unterschiede im Zugang zu Bildung bestehen, als auch zwischen den einzelnen Staaten. Erreichten Länder wie Kenia oder Sambia Alphabetisierungsquoten von 77 Prozent, so liegt derselbe Wert nach Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP, United Nations Development Programme) in den islamisch geprägten Ländern des Sahel bei 13 Prozent (Niger) oder 19 Prozent (Burkina Faso). Neben großen Unterschieden zwischen Stadt und Land ist nach wie vor (zumal in den islamischen Ländern) der Unterschied zwischen Männern und Frauen erheblich. Lag 1994 die Alphabetisierungsquote im afrikanischen Durchschnitt bei Männern bei 64,3 Prozent, so lag derselbe Wert für Frauen bei lediglich 44,4 Prozent.

In den letzten zwei Jahrzehnten sind die in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit erreichten Erfolge allerdings wieder in Frage gestellt worden. Nahezu alle Staaten haben die Ausgaben für die Bildung gekürzt und die Investitionen in die Infrastruktur des Bildungssektors sträflich vernachlässigt. Dies, verbunden mit der Bevölkerungsexplosion, hat zu einem erheblichen Rückgang vor allem der Qualität des staatlichen Bildungsangebots geführt.

QuellentextZu arm für die Schule

Rund 40 Millionen junger Afrikaner haben einer neuen Studie des Weltkinderhilfswerks (Unicef) zufolge noch immer keinen Zugang zu allgemeinen Schulen.

Im Vergleich zu 1960, als erst ein Viertel aller Kinder des Kontinents am Schulunterricht teilnehmen konnte, hat sich die Bildungssituation zwar deutlich verbessert. Unicef zufolge werden aber auch heute noch viele Minderjährige durch Armut, Kriege und Versäumnisse des Staates von den Schulen ferngehalten. Von Chancengleichheit für Mädchen und Jungen kann ebenfalls keine Rede sein.

Wie aus dem „Bericht über die Lage der Kinder in der Welt 1999“ hervorgeht, bräuchten die Staaten der Region zusätzlich 1,9 Milliarden US-Dollar für den öffentlichen Bildungshaushalt. In Schwarzafrika erreichen derzeit nur sechs Länder – Botswana, die Kapverden, Malawi, Mauritius, Simbabwe und Südafrika – eine Einschulungsrate von bis zu 90 Prozent in den Grundschulen. Der Durchschnitt in der gesamten Region liegt bei knapp 60 Prozent. Etwa ein Drittel der ABC-Schützen kehrt der Schulbank vor Abschluß der vierten Klasse den Rücken. Besonders kritisch ist die Lage laut Unicef-Report in Gabun, in der Republik Kongo (Brazzaville), auf den Komoren und in Tschad, wo über ein Drittel der Grundschüler Klassen wiederholen müssen. [...]

Die Regierungen in der Region führen die Bildungsmisere vor allem auf die hohen Auslandsschulden zurück. Unicef zufolge muß etwa Tansania fast sechsmal mehr öffentliche Gelder für den Schuldendienst als für den Bildungssektor aufwenden. Insgesamt stehen die Länder südlich der Sahara bei internationalen Gläubigern mit 227,2 Milliarden US-Dollar in der Kreide [...]. Jeder Einwohner der Region trägt [...] eine Schuldenlast von 379 Dollar bei einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen, das häufig noch unter diesem Wert liegt. [...]

Zudem werden in vielen Ländern Afrikas nach wie vor Mädchen bei der Ausbildung benachteiligt. Dem Unicef-Bericht zufolge sind im regionalen Durchschnitt 61 Prozent aller Jungen, aber nur 57 Prozent der Mädchen eingeschult. Auch zwischen den einzelnen Regionen zeigt sich ein großes Gefälle. In nordafrikanischen Ländern besuchen etwa 75 Prozent der Mädchen den Unterricht und in Benin nur 50 Prozent. „Vielen Mädchen wird auch weiterhin der Zugang zu Schulen verwehrt, weil sie schon früh im Haushalt Verantwortung übernehmen müssen“, erklärt Faiza Juma Mohammed von der NGO „Equality Now“ mit Sitz in der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Das Recht auf Bildung werde ihnen wohl nicht eher gewährt, bis sich die schwierigen Lebensbedingungen verbessert hätten.

Frankfurter Rundschau vom 18. Januar 1999.

Probleme des Schulsystems

Die Masse der afrikanischen Grund- und Hauptschulen erfüllt nicht einmal mehr pädagogische Mindestanforderungen. Insofern sind die hohen formalen Einschulungszahlen eher mit Vorsicht zu genießen. Gleichzeitig hat die Verschlechterung der ökonomischen Situation der meisten Familien in den letzten fünfzehn Jahren zu einer weit selektiveren Einschulung geführt. Vor allem Mädchen werden nur noch zögerlich eingeschult. Damit verbunden hat die Koranschule als kostengünstige Alternative zur "westlichen" Schule in den islamischen Teilen Afrikas eine gewisse Renaissance erlebt.

Das Hauptproblem des afrikanischen Bildungswesens stellen – neben der fehlenden Infrastruktur und dem Versagen des Staates, eine Mindestausbildung zu garantieren – allerdings zwei andere, eng miteinander verknüpfte Defizite dar: Das Nichtangepaßtsein der Lehrinhalte und Schulformen an die tatsächlichen Bedürfnisse und die Verengung der Wahrnehmung von Bildung als Vehikel des sozialen Aufstiegs. Beide Phänomene hängen eng mit der Entstehung des afrikanischen Bildungssystems zusammen. Während der Kolonialzeit war der Besuch "westlicher" Bildungseinrichtungen gleichbedeutend mit der Garantie eines Postens in der kolonialen Administration. Entsprechend standen in der Ausbildung nicht die Bedürfnisse einer angepaßten lokalen Entwicklung im Vordergrund, sondern die Übernahme von Werten und Funktionsmechanismen der Zivilisation und Kultur der europäischen Kolonialherren.

Nach der Unabhängigkeit ermöglichte die Absolvierung von Gymnasium und Universität den direkten Aufstieg in die nachkoloniale Herrschafts- und Funktionselite. Diese Schicht der kolonialen und nachkolonialen "Bildungsprofiteure" hat seither eine inhaltliche Anpassung der Schulausbildung an die Bedürfnisse agrarischer und vorindustrieller Gesellschaften nachhaltig blockiert. Wichtiger blieb für diese Schicht immer, daß die Schulabschlüsse der lokalen Schulen den Zugang zu den Universitäten der Industrieländer ermöglichen und dem übernommenen kulturellen westlichen Wertesystem entsprechen. So diskutieren heute noch afrikanische Gymnasiasten in der Elfenbeinküste oder Togo über die Aktualität Viktor Hugos und die Fabeln Racines; gleichzeitig wird in den Schulen kaum den realen Lebensverhältnissen angepaßtes Wissen vermittelt. Eine praxisorientierte Berufsschulausbildung fehlt gänzlich.

QuellentextAlltag afrikanischer Frauen

Zusammenfassend ist festzustellen, daß sich im Verlauf der historischen Entwicklung der Status der Frau in vielen gesellschaftlichen Bereichen tendenziell verschlechtert hat. Dies zeigt sich nicht nur darin, daß ihr der freie Zugang zur Landnutzung und die Einführung weniger arbeitsintensiver Anbauverfahren vorenthalten wurde. Sie war vielmehr auch kaum in den Geldkreislauf integriert und konnte oft die vorhandenen Bildungsmöglichkeiten nicht nutzen. Schließlich hat sie – ausgehend von der Position eines relativ gleichberechtigten Partners mit eigenem Verantwortungs- und Entscheidungsbereich – mehr und mehr Kompetenzen an den Mann abgetreten. Dieser Prozeß wurde in erster Linie von außen gesteuert und hat insgesamt die Abhängigkeit der Frau erhöht.

Die afrikanische Frau übt in aller Regel mehr Berufe gleichzeitig aus. Sie ist nicht nur Hausfrau und Mutter, sondern sie betreut den Pflanzenbau (Getreide, Obst und Gemüse), die Viehhaltung, Binnenfischerei und Forstwirtschaft. Teilweise ist sie auch für die Verarbeitung und den Vertrieb (Handel auf dem lokalen Markt) der Agrarprodukte zuständig und übernimmt oft auch handwerkliche Funktionen.

Als Folge dieser Mehrfachbelastung erreicht der durchschnittliche Arbeitstag der Landfrauen nach Angaben der International Labour Organization (ILO) eine Dauer von zwölf Stunden, wobei zu Aussaat- und Erntezeiten auch sechzehn Stunden festzustellen sind. Diese sehr hohe Arbeitsbelastung kommt vielfach in Statistiken über die Beschäftigung von Frauen nicht zum Ausdruck, weil die Tätigkeit in Haushalt und Landwirtschaft im Rahmen der Subsistenzwirtschaft nicht als produktive Leistung mit ökonomischer Bewertung angesehen wird. [...]

Einen realistischen Einblick in das Arbeitsprogramm von Frauen bietet eine differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen Arbeitsbereiche. Hier steht zunächst die Hausarbeit im Vordergrund. Neben den klassischen Aufgaben der Zubereitung von Grundnahrungsmitteln und der Kinderbetreuung haben vor allem in Entwicklungsländern das Sammeln von Brennholz und die Beschaffung von Wasser Priorität. Damit sind lange Wege und hohe Lasten verbunden [...]

Als Subsistenzlandwirtin produziert sie Getreide, Knollengewächse (Kassava) und Gemüse, vor allem Zwiebeln. Dabei entscheidet die Frau alleine, was wann angebaut wird und wann sie die Feldarbeiten erledigt. [...] Der Anbau von Gemüse hängt sehr von der Verfügbarkeit von Wasser ab und damit von der Bereitschaft, für jeden zusätzlichen Gang zur Wasserstelle einen Zeitaufwand von ein bis zwei Stunden in Kauf zu nehmen. [...]

Walter Schug, „Die Rolle der afrikanischen Frau im Entwicklungsprozeß“, in: Universitas 5/1988, S. 580 ff.

Über viertausend Jahre lang hat man in afrikanischen Kulturen Frauen verstümmelt. Viele sind der Ansicht, der Koran würde das vorschreiben, da dieser Brauch hauptsächlich in moslemischen Ländern verbreitet ist. Doch weder im Koran noch in der Bibel steht, daß die Beschneidung der Frau ein gottgefälliges Werk sei. Vielmehr wird diese Praktik schlicht von Männern unterstützt und gefordert, von unwissenden, egoistischen Männern, die sich damit ihr alleiniges Anrecht auf die sexuellen Dienste ihrer Frauen sichern wollen. Deshalb verlangen sie, daß ihre Frauen beschnitten sind. Die Mütter fügen sich und lassen die eigenen Töchter beschneiden, aus Angst, diese könnten sonst keinen Ehemann finden. Denn eine Frau, die nicht beschnitten wurde, gilt als schmutzig und mannstoll und kann daher nicht verheiratet werden. In einer Nomadenkultur wie der, in der ich groß wurde, ist jedoch kein Platz für eine unverheiratete Frau. Deshalb betrachten es die Mütter als ihre Pflicht, ihren Töchtern möglichst gute Startchancen zu verschaffen [...] Für die Verstümmelung von Millionen von Mädchen jedes Jahr gibt es keinen Grund – außer Unwissenheit und Aberglaube. Aber die Schmerzen, das Leid und die Todesfälle aufgrund von Beschneidungen sind mehr als genug Gründe, schnellstens damit aufzuhören.

Waris Dirie, Wüstenblume, München 1998, S. 338 f.

„Wir können Frauenbeschneidung nur durch intensive Aufklärungskampagnen verhindern. Nur wenn wir die Einstellung der Menschen verändern, sie überzeugen, können wir ihr Verhalten verändern“, sagt Abebe Kebede, beim NCTPE (National Commitee on Traditional Practices in Ethiopia) für Bildungsarbeit verantwortlich.

„Die Informationskampagnen richten sich auf dem Land vor allem an einflußreiche Mitglieder der Dorfgemeinschaften, an reiche Bauern oder an traditionelle Geburtshelferinnen.“

Abebe ist froh, daß sich die Organisation Afrikanischer Einheit (OAU) der Frauenbeschneidung jüngst angenommen hat. Die 1997 verabschiedete „Addis Abeba Declaration“ kündigt an, Frauenbeschneidung in den 28 afrikanischen Ländern, in denen sie praktiziert wird, per Gesetz unter Strafe zu stellen. Bestraft werden sollen vor allem diejenigen, die den Eingriff durchführen. „Wir hoffen, daß es im Jahr 2005 keine Frauenbeschneidung in Afrika mehr gibt“, sagt Berhane Ras-Work. Sie ist Vorsitzende des Gremiums aus namhaften afrikanischen Juristen, Gesundheitsexperten und Frauenvereinigungen, das die Deklaration verabschiedet hat.

Deutscher Frauenrat (Hg.), informationen für die frau 10/97, S. 8

Universitäten

Schließlich wurden auch die entstehenden Universitäten weitgehend an den Bedürfnissen der Verwaltung ausgerichtet, die vor allem die Natur- und Ingenieurwissenschaften vernachlässigten. Die Masse der Studierenden wurde in wachsendem Maße in rasch aufgeblähte geisteswissenschaftliche Fakultäten kanalisiert, wo sie für die Entwicklung des Landes weitgehend wertlose, für den Staat aber relativ kostengünstige Universitätsdiplome in Germanistik, Geschichte oder Literaturwissenschaften erwarben. Die expandierende Verwaltung und die entstehenden staatlichen Betriebe und Wirtschaftsverwaltungen haben als Auffangbecken für diese Hochschulabsolventen ohne berufliche Qualifikationen dienen müssen.

Auch dieses System ist mit der allgemeinen Krise der afrikanischen Volkswirtschaften und der Strukturanpassungspolitik der achtziger Jahre weitgehend zerfallen. Professoren ohne Gehalt unterrichteten zunehmend demotivierte und desillusionierte Studenten in überfüllten Hörsälen ohne Mikrophon und Klimatisierung (vom mangelhaften Zugang zu Büchern oder Fachzeitschriften ganz zu schweigen). Nur einigen Ländern gelang es, das Hochschulsystem halbwegs intakt über diese Periode zu retten. In weiten Teilen Afrikas muß sowohl das akademische System als auch das Grund- und Hauptschulsystem als grundlegend reformbedürftig angesehen werden.

Dabei ist eine Wiederbelebung des Bildungssystems durchaus möglich. Eltern in Afrika – dies zeigt auch der Boom von Privatschulen in den letzten Jahren – sind erfahrungsgemäß bereit, beträchtliche Opfer für eine gute Schulausbildung ihrer Kinder in Kauf zu nehmen.

Wertewandel

Urbanisierung, Alphabetisierung, Monetarisierung der Wirtschaft, Explosion der Bevölkerungszahlen und dramatische Veränderung der Altersstrukturen, Kodifizierung eines künstlichen, aus einer anderen Kultur importierten Rechtssystems und Einbruch der Medien in kleinräumliche, von Mündlichkeit geprägte Gesellschaften, haben zu einer dramatischen Veränderung des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Wertesystems geführt. Dabei wurden die alten tradierten Werte mit ihrer Betonung von Vorrechten aufgrund von Alter und Familiensolidarität nicht einfach von den "neuen" Werten der westlichen Kultur und der Marktwirtschaft ersetzt. Typisch für Afrika ist vielmehr ein Mix von alten und neuen Werten, die gerade im urbanen Milieu immer wieder neu formuliert werden. Einerseits läßt sich hier – oft genug aus schierem Überlebenszwang heraus – das Fortbestehen von traditionellen Solidaritätsnormen beobachten. Familienmitglieder, Abkömmlinge derselben Klans oder Dörfer errichten im städtischen Milieu Solidarstrukturen, die ihnen in einer extrem schwierigen Umgebung das Überleben erleichtern und heikle Situationen (Tod von Familienmitglie-dern mit den hohen Kosten der Beerdigungen, Krankheit und deren Behandlungskosten, geschäftliche Initiativen) meistern helfen.

Andererseits wird die traditionelle Form der Familien-Solidarität gerade von den Aktiveren und Erfolgreicheren oft als extrem belastend empfunden, da es den Großfamilien die systematische Abschöpfung eines Teils der Früchte ihrer Arbeit ermöglicht. In diesem Zusammenhang ist unübersehbar, daß die Einforderung von "Solidarität" oft durch massive Drohungen bis hin zu einer Gefahr für Leib und Leben, etwa der Androhung von Vergiftung oder Hexerei, betrieben wird – ein zunehmendes, von der Masse der Afrikaner mit großen Bedrohungsgefühlen und Ängsten gelebtes sozio-kulturelles Phänomen.

Gleichzeitig verlieren jedoch andere traditionelle soziale Normen – etwa der Respekt vor Alter, Erfahrung und Abstammung – an Bedeutung. Die wichtigsten "Werte" in Afrika sind heute eindeutig Wohlstand und Macht. Geld ist das bestimmende Element fast aller sozialer Prozesse in den Knappheitsgesellschaften geworden. Entsprechend sind die sozialen und familiären, aber auch die administrativen Beziehungen in einem hohen Grad monetarisiert worden. Die allgemein beobachtbare massive Korruption im Alltag – angefangen beim Verkehrspolizisten, über den Professor, der sich für die Prüfungsabnahme bezahlen läßt, bis zum Minister, der keinen Kooperationsvertrag unterschreibt, bei dem nicht ein paar Prozente für ihn und seinen Klan herausspringen – ist Ausdruck dieser Entwicklung.

Dieser Prozeß der Auflösung der alten Werte sollte jedoch nicht nur an diesen problematischen Entwicklungen gemessen werden. Individualisierung, Liberalisierung, Auflösung von hergebrachten Unterordnungsmustern (Junge unter Alten, Frauen unter Männern, bestimmte ethnische und soziale Gruppen und Kasten unter anderen) und die Herausbildung verwestlichter Wertesysteme (Individualrechte, politische, ökonomische und kulturelle Teilhabeansprüche etc.) eröffnen auch für die einzelnen Menschen eine Chance, ein freieres und selbstbestimmteres Leben als innerhalb des traditionellen Wertekorsetts zu führen.

Der Prozeß der Entstehung eines neuen Wertesystems mit seinen Status-, Wert- und Norm-Unsicherheiten, mit der Entwertung traditioneller Werte und der Zerstörung sozialer Beziehungen und traditioneller Solidaritätsmuster ist allerdings für die Betroffenen oft genug schwierig und schmerzhaft. Dies erklärt auch die große Bedeutung, die ethnischer Solidarität nach wie vor im Alltag der Menschen zukommt: In einer Welt sich verändernder gesellschaftlicher Normen stellen die gegenseitigen Solidaritätsverpflichtungen im Rahmen ethnischer Gemeinschaften einen der wenigen kalkulierbaren und verläßlichen Faktoren im Überlebenskampf dar.

Krankheiten

Die afrikanischen Großstädte mit ihrer hohen Bevölkerungsdichte und ihren schlechten hygienischen Bedingungen spielen eine große Rolle bei der Verbreitung von ansteckenden Krankheiten. Dennoch ist die Gesundheitslage der Menschen in den ländlichen Gebieten oft weit schwieriger. Während in den Städten eine einfache medizinische Versorgung zumindest ansatzweise gewährleistet ist, sieht dies in den ländlichen Gebieten völlig anders aus. In den meisten Ländern Afrikas hat sich der Staat weitgehend aus dem ländlichen Gesundheitswesen verabschiedet. Private Organisationen, Entwicklungseinrichtungen, religiöse Gemeinschaften und kommunale Initiativen versuchen eine medizinische Minimalversorgung der ländlichen Bevölkerung aufrecht- zuerhalten. Insgesamt liegt Afrika bei der ärztlichen Versorgung mit 18514 Menschen pro Arzt/Ärztin weit unter dem Durchschnitt der Entwicklungsländer (5833 Menschen pro Arzt/Ärztin).

Trotz dieses negativen Befundes wurden auch im Gesundheitswesen in Afrika – ähnlich wie im Bildungssektor – durchaus Erfolge erzielt. Die erheblich gestiegene Lebenserwartung in Afrika seit 1960 – von 39,9 auf 49,9 Jahre (1994) ist hiervon ein deutlicher Ausdruck. Allerdings liegt sie damit noch immer weit unter dem Wert der arabischen Staaten (63 Jahre) oder dem Südasiens (61,3 Jahre).

Die Wahrnehmung der Gesundheitsprobleme in Afrika wird seit Jahren vor allem von der AIDS-Epidemie großen Ausma- ßes geprägt. Keine Region ist von dieser Seuche so betroffen wie das subsaharische Afrika. Diese bedrückende Entwicklung sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Haupttodesursachen in Afrika nach wie vor andere Krankheiten sind: Unter diesen ragt im gesamten tropischen Raum die Malaria deutlich heraus.

Während das Problem der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum eher im Fehlen medizinischer Einrichtungen und geschulten Personals liegt, stellt sich die Lage für die Einwohner der Großstädte anders dar. In den meisten afrikanischen Großstädten existiert heute ansatzweise eine qualifizierte Infrastruktur und ein entsprechendes medizinisches Personal. Allerdings ist die Inanspruchnahme der Leistungen dieses Sektors für die Masse der städtischen Bevölkerung kaum bezahlbar. Hier macht sich das Fehlen eines Minimums an Sozialstaatlichkeit und die weitgehende Ökonomisierung der Sozialbeziehungen deutlich bemerkbar: Wenn weder der Patient noch seine Verwandten über genügend liquide Geldmittel verfügen, kommt es vor, daß auch akut Schwerkranke in den Gängen afrikanischer Großstadtkrankenhäuser ohne jegliche Behandlungsbemühungen durch das medizinische Personal vor sich hin siechen.

Auch in den Großstädten sind normale Krankheiten die wichtigsten Probleme, bleiben Säuglings- und Kindersterblichkeit bedrückend hoch. Aber gerade dort sind AIDS und Geschlechtskrankheiten (in der Folge der Auflösung der restriktiven Sexualnormen der traditionell dörflichen Gesellschaften bei gleichzeitig kaum vorhandener Aufklärung über Präventionsmöglichkeiten) auf dem Vormarsch. Sie verursachen vor allem in den ökonomisch aktivsten Altersgruppen eine steigende Sterblichkeit.

Kriminalität

Mit der Verschlechterung der Lebensverhältnisse und dem raschen Anwachsen der Städte hat sich das Phänomen der Gewaltkriminalität stark entwickelt. Vor allem die größten Städte des Kontinents – Lagos, Abidjan, Kinshasa, Luanda, Nairobi, Johannesburg – weisen ein hohes Kriminalitätsniveau auf. Diese Alltagskriminalität ist besonders für die Bewohner der einfachen Viertel ein erheblicher Streßfaktor, führt sie doch zu einer Art Leben im Belagerungszustand. Nächtliches Zuhausebleiben und die organisierte Bewachung von Häusern und ganzen Vierteln durch ihre Bewohner sind in diesen Städten alltägliche Lebensrealität. Diese Tendenz hat sich durch die rapide Zunahme von Waffen in der Folge der Bürgerkriege des Kontinents in den letzten Jahren erheblich verschärft.

Ein anderer, die Lage in den Großstädten zuspitzender Faktor ist die wachsende Verbreitung von harten Drogen. War Afrika zunächst nur als Transitgebiet für den internationalen Drogenhandel interessant gewesen (über Ostafrika aus Asien, über Nigeria und Westafrika aus Lateinamerika), so läßt sich in den letzten Jahren feststellen, daß einerseits afrikanische Drogenhändler (oft genug unter stillschweigender Komplizenschaft korrupter Staats- und Sicherheitsapparate) in den vergangenen Jahren massiv in den internationalen Rauschgifthandel eingestiegen sind. Dies gilt vor allem für nigerianische Banden, die heute bereits ein Fünftel des Heroinmarkts in New York kontrollieren sollen und den südafrikanischen Markt weitgehend unter sich aufgeteilt haben. Auf der anderen Seite sind harte Drogen – vor allem Heroin und seine Derivate – auch in den Großstädten Afrikas zunehmend verbreitet. Die beobachtbare Brutalisierung im Vorgehen der Kriminellen dürfte auch damit zusammenhängen.

Die Ordnungskräfte spielen bei der Bekämpfung der Kriminalität oft eine zwiespältige Rolle. Schlecht ausgebildet, kaum bezahlt, mangelhaft ausgestattet, sind sie in mancher Hinsicht sogar Teil des Unsicherheitsproblems: Nicht wenige der Gewalttaten werden mit "ausgeliehenen" Polizeiwaffen verübt.

Eine ähnliche, wenn auch weniger dramatische Entwicklung von Gewaltkriminalität läßt sich im ländlichen Raum feststellen. Hier ist vor allem die rapide Zunahme von organisierten Überfällen entlang der Überlandstraßen zu nennen. Transporte zwischen einzelnen städtischen Zentren können in einigen Teilen Afrikas nur unter erheblichen Sicherheitsmaßnahmen durchgeführt werden. Das Gewaltmonopol des Staates hat in diesen Randgebieten der Staaten Afrikas schon lange kaum eine Bedeutung mehr. Allerdings kann auch festgestellt werden, daß die Rückkehr der groß angelegten Straßenkriminalität dort, wo von den nationalen oder regionalen Sicherheitsbehörden ernsthafte Sicherheitsanstrengungen unternommen wurden, relativ rasch unterbunden werden konnte.

Fussnoten