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Globalgeschichte Afrikas | Afrika | bpb.de

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Globalgeschichte Afrikas

Toby Green

/ 16 Minuten zu lesen

Der Historiker Toby Green wirft Schlaglichter auf afrikanische Geschichte(n), um ein Verständnis der komplexen globalen Beziehungen zu vermitteln, die Afrika bis heute prägen – und weit über die Themen Sklaverei und Kolonialismus hinausreichen.

Straßenszene in Freetown, Sierra Leone (© picture-alliance)

Die Geschichte Afrikas ist seit Jahrtausenden global – und damit viel länger als die globalen Verbindungen vieler Teile Nord- und Westeuropas. Schon vor der Entstehung des Christentums gab es in China und Europa afrikanische Armeen und Botschafter/-innen. Das Verständnis dieser globalen Geschichte ist von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung eines realistischeren und komplexeren Verständnisses der globalen Beziehungen, die Afrika hatte und die den Kontinent bis heute prägen.
Doch obwohl die Afrikaner:innen seit vielen Jahrhunderten in komplexe Interaktionen verwickelt sind, wissen die meisten Menschen in Deutschland kaum etwas darüber. Wenn, dann ist der transatlantische Sklavenhandel bekannt, teilweise auch der trans-saharische und der Sklavenhandel im Indischen Ozean, die den Kontinent ebenfalls betrafen. Aber die Beziehungen sind weitaus komplexer, als dies allein vermuten ließe, und ein umfassenderes Verständnis ist erforderlich, um ein facettenreiches Bild der Welt zu bekommen, in der wir heute alle gemeinsam leben. Der Sklavenhandel ist so komplex, dass er ein viel tieferes Nachdenken erfordert. Gleichzeitig schränkt die Art der Fragen, die über den Kontinent aus historischer Perspektive gestellt werden, ein.

Um ein komplexeres Verständnis dieser Geschichte zu erlangen, gibt es keinen besseren Ort als Freetown. Die Hauptstadt von Sierra Leone liegt im Windschatten des „löwenförmigen“ Berges, der dem Land seinen heutigen Namen gibt. Heute beherbergt der Berg südlich von Freetown die gehobenen Strandresorts. In der Ferne kann man von dort aus den großen Buckel von Banana Island sehen, wo der Sklavenhändler John Newton (Komponist der Hymne Amazing Grace) 1747 von einem Temne-Händler gefangen gehalten wurde. Auf der Insel sind noch einige Ruinen der Sklavenhalterbaracken und von Newtons eigenem Gefängnis erhalten.

Auch andere Symbole dieser frühen Handelsgeschichte und der afrikanisch-europäischen Begegnungen sind in Freetown erhalten geblieben: Am Strand, in der Nähe des Hafens, befindet sich der „Ruiters-Stein“. Der wurde nach dem holländischen Admiral Michiel de Ruiters benannt, der dort in einer Reihe von mit Wellblech verkleideten Ständen Fisch trocknete und für den Verkauf vorbereitete. Er kam Mitte des 17. Jahrhunderts, während der europäischen Kriege zur Kontrolle des Sklavenhandels, nach Freetown und soll seinen Namen in einen der Felsen geritzt haben.

Zu diesem Zeitpunkt waren die Temne und Mane in der Gegend um Freetown bereits seit über 150 Jahren in Kontakt mit Europäer:innen. Schon zuvor, im späten 15. Jahrhundert, waren Elfenbeinschnitzereien von Völkern der Region, die als Sapi bekannt waren, bei wohlhabenden europäischen Familien sehr begehrt. Sie zirkulierten in Südeuropa als Schnitzereien mit katholischer religiöser Ikonografie. Das am meisten verbreitete Motiv war ein Seil – eine Erinnerung an die Takelage der portugiesischen Karavellen. Heute erinnern Elfenbeinschnitzereien auch an die komplexen kulturübergreifenden Beziehungen dieses frühen afrikanisch-europäischen Austauschs. Sie verdeutlichen, dass die Vergangenheit Afrikas äußerst variiert, komplex und ständig im Wandel war und dass es, selbst wenn wir ein Beispiel aus der Blütezeit des atlantischen Handels nehmen, viel mehr über die westafrikanische Geschichte zu erzählen gibt, als nur den Sklavenhandel.

Wenn wir etwas tiefer in Freetown eindringen finden wir weitere Hinweise: Freetown wurde 1792 gegründet und entwickelte sich bald zu einem Zentrum der Anti-Sklaverei-Bewegung. 1808, nachdem das britische Parlament das Gesetz zur Abschaffung des Sklavenhandels verabschiedet hatte , wurde Freetown Sitz des Royal Naval West Africa Squadron . Die Marineschiffe des Squadron patrouillierten vor der westafrikanischen Küste, um nach Schiffen Ausschau zu halten, die nach britischer Auffassung illegale Sklavenarbeit betrieben. Nach Mai 1820 zählten dazu auch alle Sklavenhandelsschiffe nördlich des Äquators . Die gekaperten Schiffe wurden nach Freetown gebracht und die Gefangenen befreit. So entwickelte sich Freetown im 19. Jahrhundert zu einer der multikulturellsten Städte überhaupt – sie beherbergte Menschen aus ganz Westafrika, aus dem Süden des Königreichs Kongo, aus dem heutigen Südnigeria und aus Dahomey.

Das Asylum in Freetown. (© Toby Green)

Diese Geschichte ist im modernen Freetown sehr präsent. Nur ein paar hundert Meter oberhalb des Ruiters-Steins befindet sich das so genannte Asylum. Es wurde 1817 gegründet, dem Jahr, in dem der anglo-spanische Sklavenhandelsvertrag unterzeichnet wurde. Die befreiten Afrikaner/-innen wurden als erstes dorthin gebracht. An den verschlossenen Toren des Asylums hängen bunte Schilder, auf denen die Namen einzelner früherer Gefangener eingraviert sind, die Historiker/-innen in den Archiven gefunden haben. Das Schild über dem Asylum erklärt es zum „Royal Hospital and Asylum for Africans Rescued from Slavery by British Valour and Philanthropy“ (Königliches Krankenhaus und Asyl für Afrikaner/-innen, die durch britische Tapferkeit und Philanthropie aus der Sklaverei gerettet wurden) – und übergeht damit wie selbstverständlich die Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, als britische Sklavenhändler/-innen (wie John Newton) in Sierra Leone verkehrten.

Natürlich war Freetown im frühen 19. Jahrhundert nicht nur ein Ort der Philanthropie, wenn es das überhaupt war. In der Hauptstadt Sierra Leones wurde um die Abschaffung des Sklavenhandels gekämpft und es bildeten sich neue Allianzen unter Afrikaner/-innen aus diversen Ländern und auch aus der atlantischen Diaspora. Denn nach Freetown, an diesen Ort des aufkommenden britischen Imperialismus, kamen auch viele Maroons aus Amerika.

Maroons waren entflohene Sklaven, die im jamaikanischen Hochland (wie auch in Teilen Brasiliens, Kolumbiens, Kubas, Panamas und darüber hinaus) ihre eigenen Gemeinschaften gebildet hatten. Einige von ihnen kämpften Ende des 18. Jahrhunderts in den Revolutionskriegen in den USA und fanden dann Anfang des 19. Jahrhunderts ihren Weg nach Freetown. Nur wenige Häuserblocks vom Asylum entfernt befindet sich ihre Kirche, die 1808 gegründete und kürzlich restaurierte St. John's Maroon Church. Sie ist ein Zeugnis dafür, wie afrikanische Völker während der Zeit des Sklavenhandels die Kolonialmacht herausforderten, bekämpften und Widerstand leisteten.

In Freetown zogen die Maroons mit ihren Gumbay-Trommeln auf und ab, denselben Trommeln, mit denen sie in Jamaika ihre Aufstandspläne mitgeteilt hatten. Die britischen Beamten waren davon nicht beeindruckt und versuchten, gegen den „Schläger“ vorzugehen. Aber die Gumbay-Musik verbreitete sich immer weiter, bis in den Norden Guinea-Bissaus, wo sie bis heute eine Art Volksmusik ist (wie auch in Freetown). Man sagt ihr dort nach, dass sie in den Unabhängigkeitskriegen (1963-74) entscheidend zum Sieg über den portugiesischen Kolonialismus beigetragen hat. Denn der Rhythmus und die Sprache des Gumbay entzogen sich der Kontrolle durch die Kolonialmacht und halfen somit, diese zu beseitigen.

Die Flagge der Maroons vor der St.-Johannes-Kirche, Freetown (© Toby Green)

Heute erinnert die St.-Johannes-Kirche an die Befreiung Sierra Leones. Die Dachsparren wurden mittlerweile neu gestrichen – leuchtend rot. Vor der Kirche weht eine kastanienbraune Flagge (das Symbol der Maroons), und ein Satz neuer Gumbay-Trommeln begleitet die Chöre beim Gottesdienst.

Von der St.-Johannes-Kirche aus kann man das Zentrum von Freetown durchqueren, bis man am äußersten Ende, im Norden, auf das Viertel Kongo Cross trifft. Hier siedelten sich fast 100.000 befreite Afrikaner/-innen an, nachdem sie zwischen 1808 und 1863 von der Royal Naval Squadron von den Sklavenschiffen befreit worden waren. Es erinnert daran, dass Freetown, wie so viele Städte des Kontinents, ein Schmelztiegel von Völkern und Orten ist, deren Einflüsse sich über viele Jahrhunderte hinweg überlagert haben. Das Kreuz war in den Kongo-Religionen ein starkes Symbol für den Übergang zwischen den Lebenden und den Toten und wurde in der Zeit des atlantischen Sklavenhandels bis in den amerikanischen Süden und nach Brasilien getragen. Kongo Cross ist also nicht nur eine Kreuzung in der Stadt, sondern steht auch dafür, wie sich die Ideen und Überzeugungen der Afrikaner/-innen auf ihren Reisen in Freiheit und Gefangenschaft während der Zeit des Sklavenhandels vermischten.

Im westlichen Geschichtsbewusstsein gilt Afrika stereotyp als „Kontinent ohne Geschichte“. Dies folgt Hegels Diktum, dass Afrika „kein historischer Teil der Welt ist“ . Doch das ist meiner Meinung nach eine ahistorische Herangehensweise an die Geschichte eines der großen Kontinente der Welt. Botschafter/-innen aus Kongo und Ndongo im heutigen Angola waren im 17. Jahrhundert regelmäßig im Vatikan und in Brasilien zu Gast. Pilger/-innen aus dem Reich Mali unternahmen ab dem frühen 14. Jahrhundert jährlich Pilgerfahrten nach Mekka. Der berühmteste von ihnen war Mansa Musa im Jahr 1324/5. Prinzen aus dem senegambischen Jolof-Reich besuchten Portugal bereits im späten 15. Jahrhundert, um militärische Allianzen zu schmieden.

Über diese globalen Verbindungen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit hinaus ist Afrikas uralte Weltgeschichte von großer Bedeutung, auch wenn viele traditionelle Historiker/-innen außerhalb des Kontinents dies ignoriert haben. Einige Quellen weisen darauf hin, dass Botschafter/-innen aus dem damaligen Aksum (in der Region Nordäthiopien und Eritrea) China um 150 v. Chr. besuchten. Hannibals Reise von Karthago zu den Alpen spricht für die fruchtbarere Zeit der Sahara-Wüste, aus der seine Elefanten stammten – und für die alten globalen Verbindungen dieser Regionen mit anderen Teilen der Welt. Das Aufkommen von Kaurischnecken von den Malediven im Indischen Ozean als Zahlungsmittel am Niger im 12. Jahrhundert und die regelmäßigen Funde chinesischer Keramik bei archäologischen Ausgrabungen in der Sahara zeugen von der wahrhaft globalen Natur des Kontinents, lange vor der Ankunft der portugiesischen Schiffe im 15. Jahrhundert.

Diese Verbindungen sind keineswegs auf die westlichen und sahelischen Teile des Kontinents beschränkt. Im südöstlichen Afrika gelangten die Dhaus aus der Handelswelt des Indischen Ozeans bis nach Sofala (heute Beira in Zentralmosambik). Dort handelten sie etwa ab dem 10. Jahrhundert mit dem Gold, das im Hochland des Sambesi abgebaut wurde, und stellten vielleicht eine Verbindung zu dem Reichtum her, der die Zivilisation von Groß-Simbabwe begründete. Great Zimbabwe trug dann zur Gründung künftiger Reiche in diesem Teil Südost- und Südzentralafrikas bei, wie Mutapa und Changamire, die später zu Handelspartnern und politischen Gegnern des ersten europäischen Reiches in der Region, der Portugiesen, wurden.

Doch trotz dieser langen Geschichte globaler Interaktion bestimmt die Vorstellung, dass Afrika irgendwie „außerhalb der Geschichte“ stehe, immer noch das Afrika-Bild in internationalen Organisationen. Afrikas Probleme werden als dringlich und unmittelbar angesehen und es werden unmittelbare Lösungen erwartet (die von externen Organisationen mit internationaler Finanzierung entwickelt werden). Damit wird jedoch lediglich die von Aufklärern wie Hegel und Smith entwickelte Vorstellung von Afrika als geschichtslosem Kontinent, der gerettet werden muss, wiederholt; und natürlich ist diese Geschichtslosigkeit auch recht bequem. Denn auf einem geschichtslosen Kontinent spielen die historischen Ursachen der gegenwärtigen Probleme keine Rolle. Und das kommt vielen der beteiligten Akteure entgegen.

Tatsächlich sind Kenntnisse über die Geschichte Afrikas unerlässlich, um viele der heutigen Herausforderungen anzugehen, aus mehreren Gründen: Erstens zeigen sie, wie weitreichend die globalen Verbindungen vieler verschiedener afrikanischer Staaten und Reiche in den Jahrtausenden vor der Ankunft des europäischen Handels waren. Zweitens können sie ein Gefühl für die enorme Bandbreite dessen vermitteln, was in westlichen Bildungssystemen, wie dem in Deutschland, noch gelernt und verinnerlicht werden muss. Und drittens ermöglichen sie auch eine viel positivere historische Erzählung, die für den afrikanischen Kontinent erzählt werden kann und muss. Wir sollten uns also mit drei Schlüsselbereichen beschäftigen, die deutlich machen, wie wichtig Kenntnisse über die Geschichte Afrikas für die heutige Welt sind – für Menschen innerhalb und außerhalb des Kontinents.

Ein Großteil der aktuellen politischen Nachrichten über Afrika befasst sich erstens mit dem Aufkommen der Jihād-Bewegungen in Mali und Nordnigeria, zweitens mit dem Fehlen einer soliden finanziellen Grundlage für viele der Dinge, die mit modernen Staaten verbunden sind, und drittens mit dem Problem der „gescheiterten Staaten“ (Zentralafrikanische Republik, Guinea-Bissau, Somalia). Diese Themen bilden die Grundlage vieler politischer Papiere und Forschungspläne im Zusammenhang mit Afrika, von denen die meisten ohne profunde Kenntnis der afrikanischen Vergangenheit entwickelt werden. Viele dieser Fragen sehen jedoch ganz anders aus, wenn man sie aus einer historischen Perspektive betrachtet: Es gibt weite Bereiche der Geschichte des Kontinents, die dabei ausgeklammert werden, vom Königreich von Aksum in Ostafrika und dem Kaiserreich Äthiopien bis hin zu Groß-Simbabwe und dem Königreich Benin.
Um auf das Aufkommen des jihād zurückzukommen: Der Islam wurde viele Jahre als ein Weg des Widerstands gegen soziale Ungleichheiten in Westafrika verstanden. Boko Haram ist vielleicht die bekannteste dieser jihād-Bewegungen außerhalb des Kontinents und wird unmittelbar als Instrument des gegenwärtigen soziopolitischen Kontextes in Nordnigeria gesehen; aber die Anführer von Boko Haram haben oft darauf verwiesen, dass sie sich vom Sokoto-Kalifat inspirieren – einem der größten Staaten im Afrika des 19. Jahrhunderts. Der wurde im heutigen Nordnigeria (und mit Einflüssen bis in den Sudan) im Anschluss an eine jihād-Bewegung gegründet, die 1804 von einem Scheich namens Uthmān dān Fodio angeführt wurde. Ein wenig Verständnis für die Geschichte Sokotos ist unerlässlich, um die gegenwärtigen Bedingungen des Boko-Haram-Aufstands besser zu verstehen.

Sokoto entstand in den Hausa-Staaten rund um die nördlichen Zentren Kano und Borno (heute das Kernland von Boko Haram), aber sein Einfluss breitete sich schnell im gesamten heutigen Nigeria aus. Das Großreich Oyò im Süden fiel 1835 nach einem Aufstand, der von Sklaven der Adligen angeführt wurde. Die darauffolgenden Kriege waren einer der Hauptgründe dafür, dass viele Yoruba nach der Beschlagnahmung ihrer Sklavenhandelsschiffe schließlich nach Freetown kamen .
In der Zwischenzeit wurde der Islam von den Besitzlosen als Religion des Kampfes gegen die Ungleichheit und die zunehmende Macht des Kapitalismus angenommen. In dem Maße, wie die wirtschaftlichen Ungleichheiten weltweit zunahmen, konvertierten die Menschen und nutzten diese Religion, um sich zu wehren. Dies löste die Aufstände in Nord- und Südnigeria aus und verbreitete sich schnell bis in das heutige Mali und Gambia. Währenddessen entwickelte sich in Sokoto eine groß angelegte Textilindustrie, die mit Indigo gefärbte Textilien herstellte, die bis nach Brasilien gehandelt wurden. Sie wurden in Zusammenarbeit mit einer Reihe von kleinen Industrien und Handwerksbetrieben in den großen städtischen Zentren wie Kano und Katsina produziert.

Die Frage nach dem Aufkommen von Dschihad-Bewegungen in Nordnigeria und in der Gegend um Timbuktu – Gebiete mit akuter wirtschaftlicher Not – erinnert uns daran, dass diese Beziehung zwischen Ungleichheit und der Rolle des jihād bei ihrer Bekämpfung im Laufe der Jahre nicht weniger bedeutend geworden ist. Dies sollte zum Nachdenken anregen: Die Geschichte Westafrikas legt nahe, dass die Attraktivität des jihād angesichts der wachsenden Ungleichheiten im 21. Jahrhundert nur geschwächt werden kann, wenn eben diese Ungleichheiten angegangen werden, und zwar wahrscheinlich global.

Was den zweiten Fall, die finanzielle Grundlage der afrikanischen Politik, betrifft, so ist es bemerkenswert, dass die Staaten, die sich den revolutionären Veränderungen in Westafrika im 19. Jahrhundert widersetzt haben, die mit der stärksten Kapitalbasis waren. Asante (im heutigen Ghana) und Dahomey (in Benin) exportierten Gold, statt es zu lagern, und setzten Sklaven zum Aufbau ihrer Plantagenwirtschaft ein, statt sie weiterzuverkaufen . Aufgrund ihrer Steuer- und Finanzbasis konnten diese Staaten den revolutionären Wellen widerstehen und überlebten bis zum Beginn der Kolonialzeit im späten 19. Jahrhundert. Da sie seit langem Steuern für den Aufbau der Armee und des Staates eintrieben, konnten sie die Entstehung lokaler Milizen verhindern. Ein starker, steuerfinanzierter Staat war also das beste Mittel, um Unruhen und Revolutionen zu verhindern. Die Schaffung stabiler, steuerfinanzierter Staaten hatte eine lange vorkoloniale Geschichte, was für die Bedeutung der Schaffung stabiler, gut finanzierter Staaten in der postkolonialen Ära nicht unerheblich ist.

Gleichzeitig, und damit komme ich zum dritten Beispiel, zeigt die Erforschung der vorkolonialen afrikanischen Geschichte zwar, dass es Modelle für diese Staaten und für politische Stabilität gibt. Aber der vorkoloniale Staat war oft ein Raubtierstaat. In der Zeit des Sklavenhandels entstanden enorme Ungleichheiten zwischen Herrschenden und Untertanen, und genau diese Ungleichheiten führten zu den revolutionären Aufständen des 19. Jahrhunderts. Dieses Modell der Ungleichheit wurde in der Ära des formellen Kolonialismus weiter verfestigt. Das, was heutige Politikwissenschaftler/-innen als „Staatsprobleme“ in Afrika analysieren – „Staatsversagen“, „Narkostaaten“, „sichere Zufluchtsorte für Terroristen“ – hat also tiefe historische Wurzeln. Die afrikanischen Völker haben gelernt, dem Staat zu misstrauen, weil er in der Vergangenheit räuberische wirtschaftliche und politische Strukturen im Zusammenhang mit dem Sklavenhandel geschaffen hat. Sie wollten dem Staat nicht das Gewaltmonopol überlassen, weil diese Gewalt oft gegen sie eingesetzt wurde. Das Vertrauen in den Staat ist aber eine Voraussetzung für seinen Erfolg.

Die Überwindung dieses Musters erfordert ein tiefergehendes Denken und Handeln, das sich nicht auf eine unmittelbare Analyse der „unmittelbaren“ Ursachen, Auswirkungen und „Lösungen“ beschränkt. Es erfordert eine Historisierung der afrikanischen Völker und Gesellschaften über die Gegenwart hinaus und das Hören auf afrikanische Stimmen in diesem Prozess; in den Worten meines Kollegen am King's College London, Abiodun Alao, erfordert es die Erkenntnis, dass „Afrika eine Stimme ist, die gehört werden muss, nicht ein Problem, das gelöst werden muss“ .

Eines der Probleme, mit denen die Erforschung und Lehre der Geschichte Afrikas konfrontiert ist, sind die zahlreichen Vorurteile. Außerhalb des Kontinents entwickeln sich diese in der Regel zu Vorurteilen, die ein Narrativ der Unterdrückung bestätigen, anstatt eines der Stärke und der Chancen. Dies ist jedoch ein Narrativ, das zunehmend im Widerspruch zu den Neigungen und Bedürfnissen der vielfältigen globalen Gesellschaften im 21. Jahrhundert steht.

In vielen europäischen Ländern besteht das grundlegende Problem darin, dass die afrikanische Geschichte seit der Abschaffung der Sklaverei im westlichen Denken immer mit der Sklaverei verbunden war. Wie wir gesehen haben, ist die Sklaverei natürlich ein wichtiger Aspekt der afrikanischen Vergangenheit, aber es gibt noch viele andere Elemente, die einbezogen werden müssen, um das Bild von der Geschichte abzurunden. Die Fokussierung auf die Sklaverei unter Ausschluss der künstlerischen, musikalischen, wissenschaftlichen und ökologischen Erkenntnisse afrikanischer Gesellschaften schürt Geschichtsdarstellungen, von denen sich Menschen afrikanischer Herkunft ausgeschlossen fühlen können.

Der Umweltschutz in Afrika ist ein gutes Beispiel dafür. Jahrhundertelang haben westliche Reisende den religiösen Glauben an Geister und Heiligtümer vieler Menschen als primitiv abgewertet. Aber ihr Glaube war von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung ökologischer Praktiken, die heute als innovativ und zukunftsweisend gelten: Der gambische Historiker Assan Sarr hat in einem kürzlich erschienenen Buch gezeigt, dass Landstriche in Senegambia , die als von bösen Geistern besetzt galten, der Wildnis überlassen wurden, so dass natürliche Schutzgebiete entstanden, die heute mit westlichen Praktiken nachgeahmt werden sollen – und oft scheitern.

Das Versäumnis, ein ausgewogeneres Verständnis der afrikanischen Geschichte zu fördern, ist nicht nur deshalb problematisch, weil Student/-innen in Afrika und der ganzen Welt ein umfassenderes Verständnis der afrikanischen Vergangenheit vorenthalten wird. Es erweist auch der Geschichte als Fach einen Bärendienst. Das Studium der afrikanischen Geschichte kann Schüler/-innen schon in jungen Jahren ein viel umfassenderes Verständnis für das Fach vermitteln, da Historiker/-innen des vorkolonialen Afrikas ein viel breiteres Spektrum an Quellen nutzen müssen, als das, was als „normal“ gilt. Anstatt sich auf schriftliche Quellen (Dokumente, Bücher, Reden) oder Filmmaterial aus dem 20. Jahrhundert zu beschränken, stützen sie sich nämlich auf Anthropologie, Kunst, Linguistik, Musik und religiöse Praktiken, um die vorkoloniale Vergangenheit besser zu verstehen. Dies trägt dazu bei, dass Schüler/-innen ein grundlegend anderes Verständnis von Geschichte entwickeln, und belebt die Art und Weise, wie Geschichte geschrieben und gelehrt wird, neu.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Geschichte der Kaurimuscheln. Wie ich in meinem Buch „A Fistful of Shells“ gezeigt habe, spielen diese Muscheln in den westafrikanischen Gesellschaften verschiedene Rollen. Sie wurden zum Beispiel als Zahlungsmittel genutzt. In Ghana, wo die Währung (der Cedi) in der Sprache Akan auch als Kaurischale bezeichnet wird, erinnert man sich daran immer noch sprachlich. Aber Kaurischnecken waren auch eine Quelle religiöser Macht, zum Beispiel in Form der Ile-Ori – aus Kaurischnecken zusammengesetzte Hausheiligtümer der Yòrúba-Gesellschaften. Mündliche Überlieferungen aus Senegambia zeigen, dass Kaurischnecken eine Rolle bei Weissagungen spielten. Darüber hinaus werden Kaurischnecken in der materiellen Kultur und auf Textilien immer noch als eine Form von Reichtum dargestellt. Das zeigt, wie wichtig das Studium der Linguistik, der Religion und der materiellen Kultur für das Verständnis der Wirtschaftsgeschichte und der Bedeutungen der Vergangenheit ist.

Es gilt, die Vorurteile über Afrikas Vergangenheit zu überwinden und eine neue Perspektive auf die historische Entwicklung des Kontinents im globalen Kontext zu entwickeln. Die Ideen des ersten Präsidenten von Ghana, Kwame Nkrumah, sind dabei hilfreich. Er sagte: „Wir sollten unsere Geschichte als die Geschichte unserer Gesellschaft in ihrer ganzen Fülle schreiben. Ihre Geschichte sollte ein Spiegelbild ihrer selbst sein, und der Kontakt mit den Europäern sollte nur unter dem Gesichtspunkt der afrikanischen Erfahrung dargestellt werden.“ Während sich europäische Darstellungen auf die Sklaverei konzentrieren, geht es in afrikanischen Geschichtsdarstellungen um Fragen der Religion, der Migration, der Verwandtschaft, der Kleidung, der Mode, des Handwerks und vieles mehr.

Die Stimmen der Afrikanerinnen und Afrikaner aus der Vergangenheit sind die wichtigsten Quellen, die diese Geschichte greifbar machen können, damit sie gegenwärtig wird. Dies kann durch materielle Objekte geschehen, die geschaffen wurden – wie die Sapi Ivories –, durch mündliche Überlieferungen und auch durch die Überreste, die auf dem ganzen Kontinent noch weit verbreitet sind und die bis heute von dieser fernen Vergangenheit erzählen.

Ruinen des luso-afrikanischen Handelspostens in Bintang (© Toby Green)

Da wir unsere Reise durch Afrikas Vergangenheit in Freetown begonnen haben, beenden wir sie etwas weiter nördlich an der westafrikanischen Küste in Gambia. Denn dort zeigt sich, wie allgegenwärtig diese Geschichten heute noch sind. In der vorkolonialen Zeit war eine der einflussreichsten Siedlungen hier als Bintang bekannt. Sie lag an einem breiten südlichen Nebenfluss des Gambia-Flusses und war ein wichtiges Handelszentrum, das vor allem Lebensmittel und Textilien für den globalen atlantischen Markt produzierte. Bintang liegt heute nur noch wenige Stunden von der gambischen Hauptstadt Banjul entfernt. In der Nähe der Anlegestelle des Hafens ist ein großer Muschelhaufen zu sehen, der auf eine frühere Besiedlung hinweist, und es gibt deutliche Anzeichen für die Befestigungsanlagen, die hier vor über 400 Jahren errichtet wurden.

Die Menschen in Bintang kennen die komplexe Geschichte der Siedlung. Die Ruinen liegen überall in der modernen Stadt verstreut und einige der Häuser wurden sogar mit deren Steine gebaut, die ursprünglich aus Lissabon gebracht wurden. Die Geschichte Afrikas hat so viel mehr zu bieten als die abgestandenen Erzählungen über Sklaverei und Kolonialismus, und jetzt ist der richtige Zeitpunkt für Lehrer/-innen und Schüler/-innen innerhalb und außerhalb des Kontinents, sich eingehend damit zu befassen.

Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt.

Weitere Inhalte

Toby Green ist Professor für vorkoloniale und lusophone afrikanische Geschichte und Kultur am King's College London. Er beschäftigt sich insbesondere mit afrikanischer Wirtschaftsgeschichte und ihren Schnittmengen mit der Weltwirtschaftsgeschichte sowie Verbindungen zwischen dem vorkolonialen, dem kolonialen und dem postkolonialen Staat in Afrika.