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Die Debatte um "asiatische Werte" | Menschenrechte | bpb.de

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Die Debatte um "asiatische Werte" Rückblick und Bilanz

Sonja Ernst

/ 5 Minuten zu lesen

In den 1990er Jahren lieferten sich westliche Länder und Teile Asiens einen Schlagabtausch über die so genannten "asiatischen Werte": eine Debatte über individuelle Rechte versus Gemeinschaftsrechte sowie über die wirtschaftliche und soziale Entwicklung.

Massenhochzeit in Südkorea (© AP)

Das Konzept "asiatischer Werte" wurde vor allem von China, Indonesien, Malaysia und Singapur postuliert. Die politischen Eliten betonten Fleiß, Sparsamkeit sowie die Anerkennung von Autorität und Gemeinschaft als wesentliche ethische Merkmale ihrer Gesellschaften. Die Bedeutung von Familie und Bildung wurde unterstrichen; ebenso das Streben nach Harmonie und Konsens sowie die Ablehnung von Konfrontation und Konflikt. Nicht das Recht des Einzelnen gegenüber dem Staat stand im Vordergrund, wie es im westlichen Demokratieverständnis festgeschrieben ist. Vielmehr galt der Einzelne als Teil einer größeren Gemeinschaft. Die Rechte und Interessen dieser Gemeinschaft wurden über die des Individuums gestellt. Und der Staat sollte die Interessen der Gemeinschaft, der Nation definieren und repräsentieren: Dieses paternalistische Staatsverständnis bildete ein wichtiges Element im Konzept "asiatischer Werte". Zugleich instrumentalisierten autoritäre Regierungen dieses Konzept aber auch für ihre eigenen Interessen – als Legitimation für staatliche Repressionen, das Verbot freier Gewerkschaften, die Einschränkung der Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit, der Religionsfreiheit sowie weiterer Menschenrechte. Die Debatte um "asiatische Werte" wurde auf verschiedenen Ebenen geführt. Zum einen wurde die Universalität der Menschenrechte von einzelnen asiatischen Regierungen, wie China oder Singapur, in Frage gestellt: Menschenrechte sollten demnach abhängig von kulturellen Besonderheiten gelten. Zum anderen ging es um das Verhältnis zwischen Entwicklung und Demokratie.
Ab den 1960er bis in die 1990er Jahre hinein hatten die Länder Ost- und Südostasiens eine beispiellose wirtschaftliche Erfolgsgeschichte geschrieben. Japan, Südkorea, Hongkong, Singapur, Taiwan sowie China, Indonesien, Malaysia und Thailand galten als "Ostasiatisches Wunder". Einzelne Regierungen deuteten die spezifisch konfuzianische, asiatische Kultur als Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufstieg der Region. Der ökonomische Erfolg ließ eine selbstbewusste politische Elite entstehen, die vom Westen das Recht auf einen eigenen entwicklungspolitischen Weg einforderte und die Vormachtstellung der alten Industriestaaten Europas und Nordamerikas herausforderte.

"Westliche" versus "asiatische Werte"?


"Gibt es denn nur eine Form der Demokratie oder nur einen Hohen Priester, der sie interpretiert – den Westen?", so Mahathir Mohamad in einem Interview im August 1995. Der damalige Ministerpräsident Malaysias war neben dem Ministerpräsidenten Singapurs, Lee Kuan Yew, der zentrale Wortführer der Debatte. Mahathir sprach über die jungen Menschen in seinem Land: "Wir wollen ihnen klarmachen, dass der Niedergang des Westens dem Werteverfall zuzuschreiben ist. Dass die Rechte des Individuums nicht über denen der Gemeinschaft stehen, sondern umgekehrt", so Mahathir. Den Werteverfall des Westens sah er vor allem im Verfall der Familien, im Drogenkonsum, in zunehmender Gewalt und Kriminalität.

Die "asiatischen Werte" sollten dieser Auffassung nach dazu beitragen, der Bevormundung durch den Westen einen Riegel vorzuschieben. "Indem man anstrebte, eine eigene asiatische Identität hervorzuheben, wollte man sich sicherlich auch gegen westliche Politik absetzen, die in diesen Ländern vielfach Kolonialpolitik gewesen war, und sich jede Einmischung von außen verbitten", sagt Dr. Wolfgang S. Heinz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Menschenrechte in Berlin sowie Mitglied im Expertenausschuss des UN-Menschenrechtsrats.

Instrumentalisierung der "asiatischen Werte"?

Die Debatte um "asiatische Werte" hatte jedoch nicht nur eine außenpolitische Dimension. Auch innenpolitisch erfüllte sie ihren Zweck. "Das Konzept der asiatischen Werte hatte auch die Funktion der Rechtfertigung und Legitimierung der eigenen autoritären Regierungsform, die offiziell auf eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung als Hauptziel setzte", so Heinz. In dem ökonomischen Erfolg sahen autoritäre Regierungen wie in Singapur oder Malaysia die Rechtfertigung, dass es keiner Zivilgesellschaft bedürfe – dass die aktive politische Teilhabe der Bevölkerung gleichsam überflüssig sei, solange der Staat mit Bravour die wirtschaftlichen Geschicke des Landes regelt.

Das Konzept der "asiatischen Werte" war jedoch an vielen Stellen problematisch. Mit dem Wirtschaftsboom wandelten sich die Gesellschaften Ost- und Südostasiens: Die Phase der Industrialisierung, eine teils rapide Urbanisierung sowie anhaltende Migrationsbewegungen führten auch hier zu Individualisierungsprozessen. In vielen städtischen Haushalten Asiens wich die Groß- der Kleinfamilie. Ein solcher Wertewandel war im Konzept der "asiatischen Werte" nicht vorgesehen – fußte es doch auf angeblich stabilen, ewigen Werten. Zugleich diente das Beharren auf einen festgeschriebenen Wertekanon den autoritär-konservativen Regierungen, den gesellschaftlichen Status quo und die eigene Macht zu zementieren.

Kritik und Opposition waren nicht vorgesehen


Die Region Ost- und Südostasien, für die die "asiatischen Werte" gelten sollten, umfasste unterschiedlichste Staaten. Zwar lässt sich einräumen, dass es durchaus gemeinsame kulturelle und historisch-politische Erfahrungen in der Region gibt. Doch die Debatte um eine asiatische Identität war auf das Spannungsverhältnis zwischen den Interessen des Einzelnen und der Gemeinschaft fokussiert. Daraus leiteten die politischen Eliten die Notwendigkeit eines starken Staates und die Ablehnung des "westlichen Individualismus" ab. So wurde laut Heinz aus einer Vielfalt kultureller und politischer Erfahrungen in diesen Ländern vor allem die Erfahrungen mit dem paternalistischen Staatsmodell in den Mittelpunkt gestellt und ideologisiert. "Andere 'störende' historische Erfahrungen wurden ausgeblendet", sagt Heinz, "die Erfahrung von zum Beispiel Opposition, Gewerkschaften, von Bauernaufständen oder auch die Forderungen der Mittelschicht nach Menschenrechten und Demokratie."

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Dieser blinde Fleck ließ oppositionelle Gruppen, Nichtregierungsorganisationen, religiöse Gemeinschaften außen vor, die für mehr Demokratie und Menschenrechte eintraten. Denn Kritik und Opposition waren im Konzept der "asiatischen Werte" nicht vorgesehen und wurden unterdrückt. Allerdings gab es auch keine monolithische asiatische Position zu einer "asiatischen Identität": Die Regierungen Japans, der Philippinen oder auch Südkoreas nahmen nicht Teil an der Debatte. Südkorea zum Beispiel erlebte in den 1970er und 1980er Jahren eine breite Demokratiebewegung. Eine ihrer Symbolfiguren war Kim Dae-Jung. Der spätere Präsident Südkoreas sowie Friedensnobelpreisträger empfand nicht nur Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung im Einklang, sondern auch asiatische Kultur und westliches Demokratieverständnis.

Die Kehrtwende innerhalb der Debatte


Im Jahr 1997 erschütterte eine Finanz- und Wirtschaftskrise Asien. Nun waren es plötzlich die "asiatischen Werte", die als Ursache der Krise gedeutet wurden: Vetternwirtschaft, Familismus und staatlicher Interventionismus wurden von Organisationen wie dem "Internationalen Währungsfonds" für die Krise mitverantwortlich gemacht. Diese Kehrtwende innerhalb der Debatte um "asiatische Werte" konnte wohl kaum die Finanzkrise in den betroffenen asiatischen Ländern vollständig erklären; genauso wenig wie die "asiatischen Werte" den wirtschaftlichen Erfolg hatten vollständig erklären können.

Die Debatte um "asiatische Werte" wird seit Ende der 1990er Jahre nicht mehr aktiv geführt. Doch der Nachklang der Auseinandersetzung bestimmt Wolfgang Heinz zufolge auch heute noch die Diskussion: Demnach zielten die Eliten in einzelnen Staaten Ost- und Südostasiens darauf ab, nicht das Modell westlicher Demokratien zu übernehmen, sondern eine eigenständige Entwicklung zu verfolgen. "Hierbei wird nicht mehr in Bezug auf asiatische Werte argumentiert. Aber es bleibt die Forderung seitens einzelner asiatischer Länder, wie vor allem Pakistans oder Chinas, international müsse die Durchsetzung der Menschenrechte auf Konsens und konstruktive Kooperation basieren", meint der Menschenrechtsexperte. Konsens bedeutet in dieser Lesart, dass starke Kritik aus dem Westen an der Menschenrechtssituation eines Landes pauschal als unfair und als Einmischung in die inneren Angelegenheiten zurückgewiesen werden kann. So wie es in der Menschenrechtsdiskussion um Birma, Tibet oder auch China passiert. Ob die Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen in einem Staat unterstützt wird oder ob das Recht auf Nicht-Einmischung stark gemacht wird, hängt sicherlich auch von den außenpolitischen Interessen ab – das gilt für Staaten in Asien wie auch im Westen. Was bleibt ist dennoch der Anspruch einzelner asiatischer Länder auf einen eigenen Entwicklungsweg, der den Dialog mit "dem Westen" auch in Zukunft prägen wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. "Sie zelebrieren das Chaos", Interview mit Malaysias Premier Mahathir Mohamad, in: DER SPIEGEL, Nr. 34, 21. August 1995, Seite 136-139.

  2. Dr. Wolfgang S. Heinz im Gespräch mit der Autorin am 26. August 2009.

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Sonja Ernst ist freie Journalistin und Redakteurin. Die Politikwissenschaftlerin arbeitet zu den Schwerpunkten Urbanismus und Asien.