Einleitung
Einen ähnlichen Einschnitt, wie ihn die Bildung der sozialliberalen Koalition 1969 für die Geschichte der Bundesrepublik darstellte, bedeutete die Ablösung Walter Ulbrichts durch Erich Honecker im Mai 1971 für die Geschichte der DDR. Der Führungswechsel wurde als normaler Vorgang dargestellt und verlief äußerlich undramatisch: Auf der 16. Tagung des ZK der SED bat Walter Ulbricht am 3. Mai 1971, ihn aus Altersgründen von der Funktion des Ersten Sekretärs des ZK der SED zu entbinden. Er schlug als Nachfolger Erich Honecker vor, und das ZK akzeptierte einstimmig.
Diesem schlichten Vorgang waren jedoch erbitterte Auseinandersetzungen innerhalb der SED-Führung und intensive Gespräche mit der Moskauer Führung vorausgegangen. Seit 1965 hatte sich innerhalb des Politbüros der SED eine Gruppe um Erich Honecker gebildet, die zunächst Ulbrichts Wirtschaftspolitik skeptisch gegenüberstand, dann seine ideologischen Alleingänge mißbilligte und ab 1969 seine deutschlandpolitischen Vorstellungen ablehnte.
Ulbrichts Sturz
Diese wachsende Opposition innerhalb der SED-Parteiführung konnte auf Unterstützung der neuen Moskauer Führung unter Breschnew hoffen, da Ulbrichts politische Alleingänge und sein Auftreten als Lehrmeister des wahren Sozialismus dort für große Irritationen gesorgt hatten.
Auf der Grundlage der neuen ökonomischen Politik hatte Ulbricht seit 1967 die These aufgestellt, daß sich die DDR auf dem Weg in das "entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus" befände und daß dieses eine relativ "eigenständige Gesellschaftsformation" darstelle. Mit dieser ideologischen Konstruktion versuchte er, die Eigenart der in der DDR errichteten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur gegenüber der Bundesrepublik Deutschland hervorzuheben. Er wollte auch mit der KPdSU gleichziehen, die behauptete, sie habe in der Sowjetunion den Sozialismus bereits verwirklicht und sei auf dem Wege zum Kommunismus. Ulbricht stellte damit den Monopol-Anspruch der KPdSU auf Auslegung marxistisch-leninistischer Grundsätze in Frage und erhob seinerseits den Anspruch, ein Vorbild für die Verwirklichung des Sozialismus in einem industrialisierten Land zu sein. Kein Wunder also, daß vor allem sowjetische Gesellschaftswissenschaftler diese Position heftig angriffen.
Als sich im Oktober 1969 in Bonn die sozialliberale Koalition bildete und ihre neue Ost- und Deutschlandpolitik startete, schien nach Meinung westlicher Beobachter Ulbricht derjenige zu sein, der den Versuch eines Ausgleichs zwischen Bonn und Moskau und den Prozeß einer deutsch-deutschen Verständigung verzögerte, indem er hartnäckig an seinen Maximalzielen festhielt: uneingeschränkte völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik, keine Sonderbeziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten, Festschreiben eines Viermächtestatus für West-Berlin bei gleichzeitiger Lockerung oder sogar Aufhebung der Bindungen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik.
Nach dem Ende der DDR bekanntgewordene Dokumente lassen allerdings eher den gegenteiligen Schluß zu, daß Ulbricht nämlich im Gegensatz zur Mehrheit des Politbüros der SED in der sozialliberalen Ostpolitik eine Chance sah, seinerseits eine aktive "Westpolitik" zu betreiben. Manche Äußerungen Ulbrichts sprechen dafür, daß er Ende 1969 zu der Überzeugung gelangt war, die neue Ostpolitik Willy Brandts könne auch der DDR Vorteile bringen - nicht zuletzt wirtschaftlicher Art. Die neue ökonomische Politik steckte in einer Krise, unter anderem deshalb, weil die Sowjetunion bestimmte Lieferwünsche der DDR abgelehnt hatte. Wollte Ulbricht seine hochgesteckten wirtschaftlichen Ziele erreichen, dann mußte er Hilfe beim "Klassenfeind" im Westen suchen. Ihm schwebte eine zunächst wirtschaftliche Konföderation vor, die er nutzen wollte, um die Bundesrepublik schließlich doch noch wirtschaftlich zu überholen.
Ulbricht war daher bereit, in Verhandlungen über die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik zurückzustecken und zum Beispiel auf den Austausch von Botschaftern zu verzichten und sich mit der Errichtung von "diplomatischen Missionen" zu begnügen. Dagegen bestanden die Mehrheit des Politbüros der SED und auch die sowjetische Führung damals noch auf der vollen diplomatischen Anerkennung der DDR durch den Austausch von Botschaftern. Daß der schließlich 1972 geschlossene Grundlagenvertrag die Errichtung von "besonderen Vertretungen" vorsah, lag auf Ulbrichts Linie, fand aber 1969 noch keine Mehrheit in den Entscheidungsgremien der SED und der KPdSU.
Vorbereitung in Moskau
Vorbereitet wurde der Sturz Ulbrichts in einem Gespräch zwischen Breschnew und Honecker am 28. Juli 1970 in Moskau. Darin betonte Breschnew: "Es wird ihm (Walter Ulbricht) auch nicht möglich sein, an uns vorbei zu regieren. [...] Wir haben doch Truppen bei Ihnen. [...] Die DDR kann ohne uns, ohne die Sowjetunion, ihre Macht und Stärke, nicht existieren. Ohne uns gibt es keine DDR. [...] Es darf zu keinem Prozeß der Annäherung zwischen der BRD und der DDR kommen. [...] Brandt hat in Bezug auf die DDR andere Ziele als wir" (vgl. dazu auch "Literaturhinweise" S. 58, Jochen Stelkens).
Eingeleitet wurde Ulbrichts Sturz auf der 14. Tagung des SED-Zentralkomitees, die vom 9. bis 11. Dezember 1970 stattfand. Im Mittelpunkt der Diskussionen stand die Wirtschaftspolitik des NÖS. Erstmals wurden öffentlich die akuten Versorgungsprobleme angesprochen, die negative Auswirkungen auf die Stimmung der Bevölkerung hatten. Es hagelte Vorwürfe gegen Ulbrichts Führungsstil und seine Alleingänge in der Deutschlandpolitik. Ulbricht wies in einem Schlußwort die Vorwürfe zurück, doch sorgte Honecker dafür, daß diese Rede nicht veröffentlicht wurde. Ulbricht hatte eine empfindliche Niederlage erlitten, die der Öffentlichkeit allerdings noch verborgen blieb.
Am 21. Januar 1971 schrieben 13 Mitglieder und Kandidaten des damals 20 Mitglieder und Kandidaten umfassenden Politbüros der SED ohne Wissen Ulbrichts einen zur "Geheimen Verschlußsache" deklarierten siebenseitigen Brief an Leonid Breschnew und das Politbüro der KPdSU. Darin beklagten sich die führenden SED-Funktionäre, unter ihnen Honecker, Stoph und Mittag, bei den sowjetischen Genossen darüber, daß Ulbricht seit Mitte 1970 nicht mehr in der Lage sei, die wirtschaftlichen und politischen Realitäten richtig einzuschätzen und daß seine Haltung gegenüber der Bundesrepublik eine eigene Linie verfolge, die das mit der KPdSU abgesprochene Vorgehen der SED empfindlich störe. Sie schlugen vor, daß Ulbricht auf eine Weise entmachtet werden sollte, die Breschnew bereits im Juli angedeutet hatte: Die Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED sollte von der des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR getrennt werden und Ulbricht sollte nur noch die Funktion des Vorsitzenden des Staatsrates ausüben. Dabei müßten zugleich die Befugnisse des Staatsrates beschränkt werden. Die Unterzeichner baten Breschnew, mit Ulbricht auf der Grundlage dieser Vorschläge zu sprechen und ihn zum Rücktritt zu überreden. Ziel der Ulbricht-Gegner in Berlin und Moskau war es, die beginnende Entspannungspolitik so unter Kontrolle zu halten, daß der sowjetische Führungsanspruch nicht durch eine Annäherung zwischen den beiden deutschen Staaten gefährdet würde.
Am 29. März 1971 reiste Ulbricht an der Spitze einer SED-Delegation zum 24. Parteitag der KPdSU nach Moskau. In seiner Begrüßungsrede erinnerte er am 31. März daran, daß er Lenin noch persönlich gekannt hatte, was die meisten Mitglieder der sowjetischen Führung nicht von sich behaupten konnten, und pries erneut die DDR als Modell für die industriell entwickelten sozialistischen Länder an. Angesichts der Krise, in die das NÖS in der DDR geraten war, wurden Ulbrichts Äußerungen von den sowjetischen Zuhörern in einer Mischung aus Skepsis und Empörung aufgenommen. Bei Gesprächen am Rande des Parteitages machte Breschnew Ulbricht klar, daß er weder mit der Unterstützung der sowjetischen Genossen rechnen könne noch die Mehrheit des eigenen Politbüros hinter sich habe, und legte ihm den Rücktritt nahe.
Nachfolger Erich Honecker
Dieser vollzog sich wie geplant: Am 3. Mai erklärte Ulbricht vor dem ZK seinen Rücktritt und Honecker wurde zu seinem Nachfolger nominiert. Mit 58 Jahren war Honecker, als er an die Macht kam, relativ jung. Als Mitbegründer der FDJ verkörperte er die jüngere Generation der DDR-Führung. Zuständig für Sicherheitsfragen, hatte er sich 1961 bei der Absperrung der DDR hervorgetan und galt seitdem - so berichteten die Informanten des Ministeriums für Staatssicherheit - bei vielen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern als Vertreter eines "harten Kurses" und einer stärkeren Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik.
Der Abschied von der "Ära Ulbricht" und die gesellschaftspolitische Neuorientierung der SED fand ihren programmatischen Ausdruck auf dem VIII. Parteitag der SED, der vom 15. bis zum 19. Juni 1971 in Ost-Berlin stattfand. Honecker wurde als Erster Sekretär des ZK der SED bestätigt.
Walter Ulbricht durfte sein vorbereitetes Grundsatzreferat über "Das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus in den siebziger Jahren" nicht mehr halten. Er nahm auch nicht am Parteitag teil. Das Grundsatzreferat hielt Honecker. Im ersten Teil seiner Rede bewegte er sich ganz im Rahmen der Abgrenzungspolitik gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, wenn er einerseits die immer festere Verankerung der DDR in der "sozialistischen Staatengemeinschaft" als "Grundbedingung für die Verwirklichung der Lebensinteressen der Arbeiterklasse und aller Bürger der DDR" bezeichnete und andererseits einen klaren Trennungsstrich zwischen der "sozialistischen DDR" und der "imperialistischen BRD" zog.
Am 24. Juni 1971 übernahm Honecker auch den Vorsitz des Nationalen Verteidigungsrats, des für die Landesverteidigung und die innere Sicherheit entscheidenden Gremiums der DDR. Ulbricht erhielt den im Statut der Partei nicht vorgesehenen Posten eines Vorsitzenden der SED und blieb Vorsitzender des Staatsrats. Der Staatsrat jedoch verlor seine politischen Kompetenzen weitgehend, als die Volkskammer am 16. Oktober 1972 die Rechte des Ministerrats erweiterte. Dieser war nunmehr nicht nur für die Wirtschafts- und Kulturpolitik, sondern auch für die Innen- und Außenpolitik der DDR zuständig. Der Staatsrat verblieb als eine Art kollektives Staatsoberhaupt, das für die völkerrechtliche Vertretung der DDR, die Ernennung und Abberufung von DDR-Diplomaten zuständig war, die Wahlen für die Volksvertretungen ausschrieb, das Oberste Gericht und den Generalstaatsanwalt beaufsichtigte und formell die Entscheidungen in Verteidigungsfragen fällte.
Der Tod Ulbrichts am 1. August 1973 bot die Gelegenheit zu einem Ämter- und Personalaustausch, der als "Abrechnung" mit der "Mannschaft der Wirtschaftsreformer" charakterisiert worden ist: Staatsratsvorsitzender - und damit politisch weitgehend kaltgestellt - wurde am 3. Oktober 1973 Willi Stoph, der als langjähriger Vorsitzender des Ministerrats die staatliche Durchführung der Wirtschaftsreformen in den sechziger Jahren zu verantworten hatte. Neuer Vorsitzender des Ministerrats wurde sein ehemaliger Stellvertreter Horst Sindermann. Gleichzeitig wurde Günter Mittag, neben Erich Apel der Schöpfer des NÖS, seiner Funktion als Sekretär für Wirtschaft im ZK der SED enthoben und zu einem der Stellvertreter Sindermanns ernannt.
Angesichts wirtschaftlicher Schwierigkeiten in der DDR wurden diese Umsetzungen am 29. Oktober 1976 wieder rückgängig gemacht: Willi Stoph wurde erneut Vorsitzender des Ministerrats, Günter Mittag kehrte als Verantwortlicher für die Wirtschaftspolitik ins ZK der SED zurück. Am selben Tag wählte die Volkskammer Erich Honecker zum Vorsitzenden des Staatsrats und damit zum formellen Staatsoberhaupt der DDR. Erst relativ spät vereinigte er damit die höchsten Posten von Staat und Partei in seiner Person.
Im zweiten Teil seines Grundsatzreferats auf dem VIII. Parteitag 1971 hatte sich Honecker von der bisher betriebenen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik abgegrenzt, als er kritisierte, daß "sich einige Disproportionen in der Volkswirtschaft störend bemerkbar" machten, dann eine "realistische Einschätzung unserer Kräfte und Möglichkeiten" forderte und schließlich in deutlicher Anspielung auf überzogene Pläne in der Vergangenheit feststellte: "Genossen, das ökonomische System des Sozialismus entwickelt sich gut, nur, allzu viele außerplanmäßige Wunder kann es nicht verkraften".
Offenbar war die SED-Führung bemüht, aus den wirtschaftlichen Fehlschlägen der vergangenen Jahre und aus den Unruhen in Polen Konsequenzen zu ziehen. Statt die Parteimitglieder und die Bürgerinnen und Bürger der DDR immer wieder auf eine bessere Zukunft zu vertrösten, sollten die gesteigerten Wünsche und Bedürfnisse der jetzt lebenden Generation ernst genommen und so weit wie möglich erfüllt werden. Die "Hauptaufgabe" des Fünfjahresplans 1971 bis 1975 sollte die Erfüllung "der Bedürfnisse der Menschen" in der DDR sein. Kennzeichnend für diese Orientierung an den "realen Gegebenheiten" ist die Formel vom "real existierenden Sozialismus", die Honecker auf der 9. Tagung des ZK der SED im Mai 1973 zum ersten Mal benutzte und die danach immer wieder in offiziellen Verlautbarungen zur Charakterisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR verwendet wurde.
Honeckers Sozialismus
Die Neuorientierung der SED von den Fernzielen auf die allmähliche Verbesserung des täglichen Lebens der Bevölkerung wirkte sich vor allem auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet aus. Hatte in den sechziger Jahren die Parole gelautet: "Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben", so forderte der neue Fünfjahresplan "die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik". Damit sollte erreicht werden, daß Arbeitsergebnisse und Lebensstandard gleichzeitig und rasch stiegen. In wesentlichen Punkten wurden die Ziele dieses Plans auch erreicht.
Bei aller Vorsicht gegenüber DDR-Statistiken läßt sich als Trend feststellen, daß die wirtschaftliche Entwicklung stetiger verlief als vorher. Das Nationaleinkommen wuchs zwischen 1970 und 1975 ständig, und auch die industrielle Warenproduktion konnte gesteigert werden. Der Lebensstandard der Bevölkerung besserte sich, wenn auch in bescheidenem Rahmen. Die Forderung der "Hauptaufgabe" nach "Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus" der Bevölkerung wurde in besonderem Maße im Wohnungsbau erfüllt. Die Bauwirtschaft konnte ihr Planziel, das für 1975 auf 125 Prozent von 1970 festgesetzt war, mit 128,5 Prozent überschreiten. Diese Steigerung der Bautätigkeit beschränkte sich nicht auf den Neu- oder Umbau von Fabrikanlagen, sondern kam in hohem Maße dem lange Zeit vernachlässigten Wohnungsbau zugute. Besonders seit 1973 nahm die Zahl der neuerbauten oder modernisierten Wohnungen sprunghaft zu.
Das Hauptproblem der DDR-Wohnungswirtschaft blieb freilich die Überalterung und der schlechte bauliche Zustand der meisten Wohnungen. Dafür waren die Mieten niedrig: Sie wurden staatlich subventioniert und lagen zwischen 0,80 und 1,25 Mark pro Quadratmeter. Für Miete und Mietnebenkosten gab ein Vier-Personen-Haushalt in der Bundesrepublik 1975 durchschnittlich 20,8 Prozent des Nettoeinkommens aus, ein entsprechender DDR-Haushalt aber nur 4,4 Prozent. Eine Folge der niedrigen Mieten war allerdings, daß gerade die zahlreichen Altbauten vernachlässigt wurden und die Innenstädte verfielen. Seit 1971 wurden die Mieten nach dem Einkommen gestaffelt und Arbeiter bei der Zuteilung von Neubauwohnungen bevorzugt berücksichtigt.
Zwischen 1970 und 1980 erreichte die DDR unter den Ländern des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) den höchsten Lebensstandard. Das Durchschnittseinkommen stieg von 755 Mark 1970 auf 1021 Mark 1980. Die Versorgung mit hochwertigen Konsumgütern besserte sich erheblich: Von 100 Haushalten hatten 1970 erst 15 einen Personenwagen und 56 einen Kühlschrank, 1975 kamen auf je 100 Haushalte bereits 26 Personenkraftwagen und 86 Kühlschränke. 1980 verfügten 38 Prozent aller Haushalte über ein Auto und praktisch jeder Haushalt über einen Kühlschrank, ein Fernsehgerät und eine Waschmaschine. Personenkraftwagen aus DDR-Produktion - der "Trabant" und der "Wartburg" - waren reparaturanfällig und weder besonders schnell noch sehr komfortabel. Hinzu kam, daß die Käufer jahrelang auf die Zuteilung eines Wagens warten mußten. Für die Menschen in der DDR verkörperte der "Trabi" jedoch ein Stück individueller Freiheit und Lebensqualität, wie sie ähnlich in den fünfziger Jahren der "Käfer" in der Bundesrepublik symbolisiert hatte.
Ausbau der Sozialpolitik
Hinter der Losung "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" stand die Einsicht der SED-Führung, daß auch die von der Partei betriebene planmäßige Wirtschaftspolitik Spannungen und Unterschiede erzeugte, zu deren Beseitigung oder Milderung eine eigenständige Sozialpolitik vonnöten war. Sie diente - wie in der Bundesrepublik - vornehmlich dazu, die im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung auftretenden gesellschaftlichen Probleme zu bewältigen und die Wirtschaftspolitik zu unterstützen.
Ein Schwerpunkt der DDR-Sozialpolitik lag bei Versuchen, die Bevölkerungsentwicklung zu beeinflussen. 1973 war die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter auf 58 Prozent gesunken. Der Anteil der berufstätigen Frauen war mit 86 Prozent einer der höchsten der Welt. Die doppelte Belastung der Frauen durch Beruf und Haushalt und die schwierige Versorgungslage wirkten sich dahin aus, daß 1960 in der DDR die sogenannte "Fruchtbarkeitsziffer" mit dem statistischen Mittelwert von nur 83,9 Geburten auf 1000 Frauen im Alter zwischen 15 und 45 Jahren bereits sehr tief lag. Dennoch führte die Volkskammer der DDR 1972 - übrigens zum ersten und einzigen Mal kein einstimmiger Beschluß - die Fristenregelung bei Schwangerschaftsabbruch ein. Empfängnisverhütende Mittel wurden kostenlos ausgegeben. 1972 fiel die Geburtenrate auf 58,6, im Jahr 1975 auf 52,3.
Um diese Entwicklung aufzuhalten und die Überlastung der berufstätigen Mütter zu mildern, wurde 1972 für Mütter mit drei Kindern unter 16 Jahren und für Mütter mit zwei Kindern, die im Mehrschichtdienst arbeiteten, die 40-Stunden-Woche eingeführt. Diese Regelung wurde am 27. Mai 1976 nach dem IX. Parteitag der SED auf alle Mütter mit zwei Kindern unter 16 Jahren ausgedehnt. Der bezahlte Schwangerschafts- und Wöchnerinnenurlaub wurde von 18 auf 20 Wochen verlängert. Außerdem konnten sich seitdem Mütter nach der Geburt des zweiten Kindes bei voller Bezahlung für ein Jahr von der Arbeit freistellen lassen. Finanzielle Anreize, wie die Erhöhung der Geburtenbeihilfe von 500 Mark für das erste Kind auf 1000 Mark für jedes weitere Kind, und die Gewährung von zinslosen Krediten an junge Ehepaare, die Ausweitung des Wohnungsbaus sowie die weitere Förderung von Kindergärten und -horten führten dazu, daß die Zahl der Geburten in der DDR langsam wieder zu steigen begann: 1976 lag sie bei 55,9 und stieg bis 1980 auf 67,4 pro Tausend Frauen.
QuellentextFrauen meistern die Technik
In den sechziger Jahren vollzieht sich (in der DDR, Anm. der Red.) eine grundlegende Veränderung des Charakters weiblicher Berufstätigkeit. Sie entwickelt sich von der angelernten Erwerbsarbeit zur qualifizierten Berufsarbeit. Durch die Qualifikation verändert sich zwar nicht immer das Aufgabenfeld, in dem die Frauen ursprünglich gearbeitet haben, aber sie erhalten nun mehr Lohn für diese Arbeit. Die finanzielle Anerkennung von Bildung und Qualifikation ist das ausschlaggebende Motiv, um eine oftmals zeitraubende und anstrengende Weiterbildung auf sich zu nehmen. Die Qualifizierung ist manchmal auch das einzige Mittel, das den Frauenkommissionen der Gewerkschaften zur Verfügung steht, wenn sie den Frauen eine gleichberechtigte Bezahlung und Aufstiegsmöglichkeiten sichern wollen. Die Betriebe werden dazu verpflichtet, spezielle Frauenförderpläne aufzustellen und Frauen für die Weiterbildung von der Arbeit freizustellen. Hintergrund dieser Maßnahmen ist der permanente Arbeitskräftemangel, der sich durch den massiv betriebenen Aufbau einer leistungsfähigen Chemieindustrie noch verschärft. Attraktive Löhne sind das wichtigste Mittel, um die Hausfrauen für die Berufstätigkeit zu motivieren. Dabei hilft das sich allmählich verbessernde Konsumgüterangebot, das eine ganze Reihe von Wünschen weckt, die man sich nur erfüllen kann, wenn die Frauen mitarbeiten. [...]
Ende der sechziger Jahre sind die ehemals unbeholfenen Anfänge bei der Propagierung eines neuen Frauenleitbildes vergessen. [...]
Im Ergebnis sind Frauen, statistisch gesehen, seit Anfang der siebziger Jahre gleichermaßen qualifiziert wie Männer, wenigstens nach formalen Kriterien wie Facharbeiter-, Fachschul- oder Hochschulabschluß. Deswegen werden sie aber noch lange nicht ihrer Qualifikation entsprechend beschäftigt oder gleich gut bezahlt, wie ihre männlichen Kollegen. Wie spätere Untersuchungen ausweisen, bekamen die DDR-Frauen im Durchschnitt ein Drittel weniger Lohn. Doch in einer Atmosphäre, wo die nahezu 90prozentige Berufstätigkeit von Frauen und eine gleichwertige Qualifikation als endgültige "Lösung der Frauenfrage" gefeiert wurden und sich die "jungen Muttis" bei der Partei- und Staatsführung für die sozialpolitischen Maßnahmen bedanken durften, war es kaum möglich, die niedrigen Löhne in sogenannten Frauenarbeitsbereichen wie zum Beispiel der Textilindustrie, aber auch von Kinderkrippenerzieherinnen oder Kindergärtnerinnen, zu problematisieren.
Ina Merkel, "Leitbilder und Lebensweisen von Frauen in der DDR", in: Sozialgeschichte der DDR, hrsg. von Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr, Stuttgart 1994, S. 368 ff.
Ökonomische Schwierigkeiten
Die Leistungen der Sozialpolitik verdeckten die Probleme, mit denen die Wirtschaftspolitik der DDR Anfang der siebziger Jahre zu kämpfen hatte und mit denen sie letztlich nicht fertig wurde. Ein Grundproblem war die Schwerfälligkeit des zentralen Planungs- und Leitungssystems, das die kurzfristige Umsetzung von wissenschaftlich-technischen Neuerungen in der Produktion behinderte. Die Konzentration der produktiven Investitionen auf einige Schwerpunktbereiche wurde auch nach dem Ende des NÖS fortgesetzt. Das führte dazu, daß die DDR beispielsweise im Werkzeugmaschinenbau über moderne Anlagen verfügte, daß in anderen Industriezweigen aber der Verschleiß der alten Ausrüstungen enorm und die Arbeitsproduktivität gering war. Sie erreichte 1974 gerade 64 Prozent des westdeutschen Standes. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR verschärften sich mit der Ölkrise, denn die steigenden Weltmarktpreise für Erdöl erreichten - leicht verzögert - Mitte der siebziger Jahre auch die DDR und wirkten sich negativ für die Außenhandelsbilanz und die Versorgung der Bevölkerung aus.
Die bessere Versorgung der Menschen mit Konsumgütern, preiswerten Wohnungen, kostenloser medizinischer Versorgung, Kindergärten, Kindergeld und steigenden Renten (die "zweite Lohntüte") kostete Geld, und zwar mehr, als die DDR in den siebziger Jahren erwirtschaftete. Die Verbesserung des Lebensstandards wurde in zunehmendem Maße mit Krediten bezahlt, die die DDR im "nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet", das heißt vor allem in der Bundesrepublik, aufnahm. 1970 war die DDR im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet mit zwei Milliarden Valuta-Mark verschuldet, bis 1989 stieg diese Verschuldung um mehr als das Zwanzigfache auf 49 Milliarden Valuta-Mark an. Die Zinsen für die Kredite wurden mit neuen Krediten bezahlt. Ein verhängnisvoller Schuldenkreislauf setzte ein, der letztlich zum wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR beitrug.
Diese Situation war der Bevölkerung der DDR in den siebziger Jahren nicht bekannt. Es überwog der positive Eindruck einer erfolgreichen Sozialpolitik und ständigen Verbesserung des Lebensstandards. Die Aufnahme der DDR 1973 in die UNO und ihre diplomatische Anerkennung durch die westlichen Großmächte verstärkten diesen Effekt, so daß man für die erste Hälfte der siebziger Jahre wohl den größten Grad an Übereinstimmung zwischen Bevölkerung und Regierung in der DDR annehmen kann.