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Der Krieg von unten

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Im Krieg wird Gewalt zur Alltagserfahrung, und militärische Werte werden zur alles bestimmenden Handlungsmaxime. Die Einstellungen der Soldaten werden zudem durch nationale Normen und Gebote geprägt.

Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg wird Gewalt auch für die einfachen Soldaten zur Alltagserfahrung. Wehrmachtsoldat auf Wachposten in der Sowjetunion 1941/44

Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg wird Gewalt auch für die einfachen Soldaten zur Alltagserfahrung. Wehrmachtsoldat auf Wachposten in der Sowjetunion 1941/44 (© Fotograf unbekannt, Deutsch-Russisches Museum, Berlin)

Referenzrahmen Krieg

Die Weltkriege brachten Tod und Verwüstung. Millionen traumatisierte und entwurzelte Menschen blieben zurück. Warum das alles? Wie konnten Menschen anderen so viel Leid zufügen, wie konnten Millionen Soldaten jahrelang ihren todbringenden Aufgaben nachgehen? Warum wehrten sie sich nicht gegen den Wahnsinn? Warum kämpften die Soldaten weiter, als es doch gar nichts mehr zu gewinnen gab?

Die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges und die Massenverbrechen des Zweiten scheinen sich jeder Logik zu entziehen. Viele überlieferte Äußerungen aus jener Zeit wirken verstörend. Ernst Jünger schrieb an seinem 21. Geburtstag im März 1916 nach mehr als einem Jahr an der Westfront in sein Tagebuch, dass ihm das Kriegsleben "jetzt grade den richtigen Spaß" mache, dass "das ständige Spiel mit dem Leben als Einsatz […] einen hohen Reiz" habe. In solchen und ähnlichen Zeugnissen liest man über den Horror des Stellungskrieges wie in dem Notizbuch eines Unfallchirurgen. Minutiös hält Jünger fest, wer einen Kopfschuss erhielt, von Granaten zermalmt oder im MG-Feuer zerfetzt wurde. Und dies meist ohne jede emotionale Reaktion. Jünger freut sich über eine gute Unterkunft, ein gutes Essen oder aber über zählbare Erfolge im Kampf. So beschreibt er geradezu genüsslich, wie er nach zweieinhalb Jahren Krieg endlich einmal einen Engländer deutlich im Visier seines Gewehres erblickt und ihn mit einem "trefflichen" Schuss erlegt.

Gewalt als Alltagserfahrung

Die nonchalanten Berichte vom Töten und Sterben verstören uns, weil Gewalterfahrungen dieser Art in unserem Alltag keine Rolle spielen. Wir müssen kaum fürchten, auf dem Weg zur Arbeit oder beim Joggen im Park erschossen zu werden. Die existenzielle Gewalt eines Krieges, der Weltkriege zumal, empfinden wir daher als krasse Abweichung vom Normalen, als etwas, das erklärungsbedürftig ist. Doch der Glaube an die Gewaltferne als menschlichen Normalzustand ist illusionär. Selbst Massengewalt gehörte und gehört stets zu den Handlungsoptionen, und Menschen haben offenbar kein Problem damit, sie auszuüben. Dies zeigt etwa ein Blick auf den Bürgerkrieg in Jugoslawien in den 1990er-Jahren. Serbische und kroatische Nachbarn, die bis dahin friedlich zusammengelebt hatten, gingen auf einmal mit Gewalt aufeinander los. Zehntausende starben. Die Soldaten, die 1914 in den Ersten Weltkrieg zogen, kamen in aller Regel aus Gesellschaften, die seit Jahrzehnten nichts anderes kannten als Frieden. Ihnen war das tödliche Handwerk des Soldaten ebenfalls sehr fern.

Aber sie gewöhnten sich rasch an die neuen Regeln. Sie lernten zu töten und möglichst nicht getötet zu werden, sie lernten das Überleben auch unter den widrigsten Umständen, und sie reduzierten ihr Dasein auf die allernötigsten menschlichen Bedürfnisse. Die Kameraden wurden zur neuen Familie. Der Kampf ums Überleben schweißte den Mikrokosmos der militärischen Primärgruppen zusammen. Eine rohe Männerwelt mit klaren Regeln. Jedem Soldaten war schnell klar, was er zu tun und was er zu lassen hatte. Der Krieg wurde zur neuen Heimat, und die Welt der Soldaten hatte sehr bald nur noch wenig mit dem Zivilleben zu tun. Dieses wurde ihnen geradezu fremd. "Wir glaubten, es gäbe nur noch Schnee und Eis auf der Erde, und in einer jähen Furcht vor allem Schönen und Gütigen überfiel uns das Heimweh. Wir sehnten uns nach Russland zurück, in die weiße Winterhölle, in Leiden, Entbehrungen, Todesgefahr", schrieb der Soldat Willy Peter Reese über seinen Urlaub im Frühjahr 1942.

Erkenntnisse aus Primärquellen

Die intensive Auswertung von Tagebüchern und Feldpostbriefen hat in den vergangenen Jahren wichtige Erkenntnisse über die Kriegserfahrungen einfacher Soldaten der Weltkriege zutage gefördert. Mit den Abhörprotokollen des britischen und des US-amerikanischen Nachrichtendienstes liegt inzwischen eine neue, außergewöhnlich reichhaltige Quelle vor, die die bisherigen Forschungen wesentlich ergänzt und mithilfe derer wir genauer denn je rekonstruieren können, wie deutsche Soldaten den Zweiten Weltkrieg wahrnahmen, welche Rolle ihre soziale und regionale Herkunft dabei spielte, wie sie über die NS-Ideologie dachten, wie sie Verbrechen bewerteten und über das Kämpfen dachten – kurz: wie sie ihre Welt sahen. Wenngleich auch diese Quellen nur einen Teil der Wehrmacht erfassen, werden die zentralen Deutungsmuster der Soldaten deutlich sichtbar.

Liest man die Zehntausende überlieferten Seiten von heimlich aufgenommenen Gesprächen deutscher Gefangener, trifft man zunächst auf denkbar banale Dialoge. Die Unterhaltungen drehen sich um die Technik ihrer Waffen, um gemeinsame Bekannte, um Frauen und Sex. Die Männer sprechen aber auch über das Töten. Für sie ein alltägliches Handwerk, das keiner besonderen Erklärung mehr bedurfte. Im Gegenteil, vielen machte das Kämpfen Spaß, zumindest, wenn sie aus der Distanz töteten und damit ihre eigene Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen konnten, etwa beim Abschießen feindlicher Flugzeuge oder dem Versenken von Schiffen. Das große Ganze geriet dabei völlig aus den Augen, so es die einfachen Soldaten je interessiert hatte. Bald war es Alltag, dass Menschen zu Tausenden starben. Mit der größten Selbstverständlichkeit sprachen sie von "umlegen", "abknallen" und "niedermachen", und zwar in einem Ton, als ob heute jemand von Meetings im Geschäftsleben berichtet. Das Töten und Sterben gehörte für die Soldaten zum Grundrauschen des Krieges. Die Ausübung von Gewalt war in dieser Welt geboten.

Aber auch Berichte über Massenerschießungen von Partisanen, Massakern an Juden oder Geiselexekutionen lösten keine Verwunderung aus. Nachfragen galten Details, nicht der Sache an sich. Lediglich bei massenhaften Tötungen etwa von Gefangenen, insbesondere aber von Frauen und Kindern, fiel in den abgehörten Gesprächen mit den Kameraden überhaupt der Begriff des "Verbrechens". Derartige Vergehen wurden meist abgelehnt, und doch schien es nicht weiter verwunderlich zu sein, dass so etwas passierte. Völkerrechtliche Aspekte kamen bei der Deutung des Krieges ohnehin kaum vor. Kriegsverbrechen der Wehrmacht, so zeigt die Auswertung der Abhörprotokolle, spielten in der Wahrnehmung der Soldaten nur eine untergeordnete Rolle. Die eigenen Entbehrungen und Opfer, die eigenen Erfolge, die eigenen Niederlagen waren demgegenüber viel relevanter. Überspitzt formuliert: Das Schicksal der Gegner, sei es jener Soldaten und Zivilisten, die Opfer von Verbrechen wurden, oder auch nur jener, gegen die man auf dem Schlachtfeld kämpfte, fand bei den Soldaten kaum Beachtung.

Vieles, was selbst nach damaligem völkerrechtlichem Verständnis ein Kriegsverbrechen war, wurde von den Zeitgenossen nicht im Entferntesten so wahrgenommen. Und selbst wenn die Soldaten Vorfälle als moralisch verwerflich registrierten, wurden sie rasch als Einzelfälle abgetan oder mit der Schuld anderer begründet. Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen beeinflusste das Wissen um Verbrechen die Deutung des Krieges insgesamt. Einige wenige verurteilten deshalb das NS-System, Hitler und den Krieg grundlegend, andere sahen in den Verbrechen eine Notwendigkeit des Weltanschauungskrieges. Die überwiegende Mehrheit der Soldaten blieb aber weitgehend unbeeindruckt, weil sie das Töten von Gefangenen, die Ermordung von Geiseln im Partisanenkampf und das Ausplündern der besetzten Gebiete schlicht für normal hielten und gar nicht nach besonderen Erklärungen suchten.

Im Zentrum ihrer Gedankenwelt, so zeigen die Abhörprotokolle, aber auch andere Quellen wie Feldpostbriefe und Tagebücher, stand zweifellos das "Kriegshandwerk". Und hier funktionierten die Soldaten wie die allermeisten Menschen auch: Sie wollten ihren Job gut machen und scherten sich wenig um die Folgen ihres Tuns. Erledigt man seine Aufgabe gut, erhält man soziale Anerkennung, Beförderungen und Auszeichnungen. Dies gilt im Frieden ebenso wie im Krieg. Wozu das alles gut war, konnten die meisten nicht sagen. Gewiss, die Verteidigung des Vaterlandes, der eigenen Familie, "denen man durch Kampf und Abwehr eine gesicherte Zukunft geben will", wie der sächsische Gefreite Georg Schleske schon im Januar 1915 in seinem Tagebuch schrieb, war ein häufig verwendetes Stereotyp. Wie Europa politisch nach dem Krieg aussehen sollte, welche Probleme gelöst, welche vielleicht neu geschaffen würden, ob man wirklich der Verteidiger oder nicht doch der Angreifer war, wie viele Menschen durch das eigene Handeln ums Leben kamen, darüber machten sich die allermeisten Soldaten keine Gedanken, und zwar im Ersten Weltkrieg ebenso wenig wie im Zweiten. Und niemand wollte das Rechtmäßige seines Tuns in Frage stellen, weil ihn das in einer totalen Institution wie dem Militär vor große Probleme gestellt hätte. Einfach nach Hause gehen konnte man nicht. Also schien es vernünftiger, Zweifel wegzudrücken, nach positiven Gründen für das eigene Tun zu suchen, seinen Job zu machen und zu versuchen, zu überleben. Sollten doch andere die Verantwortung übernehmen. Oder wie der Gefreite Willy Peter Reese es 1944 literarisch ausdrückte: als Soldat wurde ich "überall getragen und gestützt, brauchte ich selbst nicht zu sein".

Referenzrahmen der Gesellschaft

Menschen handeln nicht im luftleeren Raum. Sie orientieren sich an Ordnungssystemen, die für alle gleichermaßen Klarheit schaffen und zeigen, wie man sich richtig verhält. Diese Referenzrahmen, so der Sozialpsychologe Harald Welzer, werden von sozialen Gruppen wie der Armee und sozialen Situationen wie dem Krieg weiter ausdifferenziert. Ein junger Mann, aufgewachsen im kaiserlichen Deutschland, musste 1914 als Soldat einer preußischen Infanteriedivision an der Westfront also ebenso wenig darüber nachdenken, wie er sich zu verhalten hatte, wie ein Altersgenosse, der 1944 in der Wehrmacht an der Ostfront kämpfte. Auch er stellte nicht in Frage, was er tat und wie er es tat –, es erschien ihm aufgrund der gesellschaftlichen und gruppenspezifischen Rahmenbedingungen selbstverständlich.

Der Krieg ist zweifellos eine der stärksten Kräfte, denen Menschen ausgesetzt sein können. Doch es gibt andere, noch gewichtigere Einflussfaktoren, denn sonst würden alle militärischen Konflikte ähnlich verlaufen. Im Ersten Weltkrieg war die deutsche Besatzungsherrschaft weniger brutal, die Behandlung der Kriegsgefangenen weniger grausam. Es gab keine verbrecherischen Befehle, so wie den Kriegsgerichtsbarkeitserlass vom 13. Mai 1941, der deutsche Truppen ermächtigte, "Straftaten feindlicher Zivilpersonen" auch mit "kollektiven Gewaltmaßnahmen" zu beantworten (siehe Seite 38), oder den Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941, der verlangte, "Politkommissare" der Sowjetarmee ohne Verhandlung zu töten.

Dies lag vor allem an den großen Unterschieden im gesellschaftlichen Werte- und Normensystem. Politik und Gesellschaft radikalisierten sich in Deutschland in den 20 Friedensjahren zwischen 1918 und 1938 erheblich. Rechtsnormen spielen schon 1932 eine viel geringere Rolle als 1913, und in den sechs Jahren vor Kriegsbeginn wurde Deutschland als Rechtsstaat abgeschafft. Juden wurden stigmatisiert, ihrer bürgerlichen Rechte beraubt, 2000 bis 3000 von ihnen ermordet. Gegen jene, die den Nationalsozialismus ablehnten, ging das Regime mit aller Härte vor. Das soziale Handeln der Gesellschaft hatte sich seit 1933 erheblich verändert und damit beispielsweise auch, welches Maß an Gewalt als normal und legitim galt.

Im Krieg wurden die Rahmenbedingungen von der politischen Führung weiter verschärft, kriminelle Befehle erteilt, Härte und Gewalt gepredigt. Die Soldaten aller Dienstgrade passten sich dem an – mal zögernd, meist aber sehr rasch. Wer meinte, in einem Tausendjährigen Reich zu leben, für den waren die Werte und Normen des Nationalsozialismus tonangebend. Dies galt sowieso für diejenigen, die schon immer an die NS-Bewegung geglaubt und sich ihr früh angeschlossen hatten. So steht zu vermuten, dass die 400 000 SA-Männer "der ersten Stunde" zum Großteil in der Wehrmacht kämpften und das ihre taten, um dieser ein nationalsozialistisches Gepräge zu geben. Der gesellschaftliche Rahmen ist für das Denken und Handeln von Soldaten also ebenso wichtig wie die Gesetze des Krieges.

Referenzrahmen des Militärs

17 Millionen Männer haben sich weitgehend problemlos in die Wehrmacht integriert. In der deutschen Gesellschaft hatte sich spätestens am Ende der 1920er-Jahre ein Wertesystem ausgebildet, das dem des Militärs sehr ähnlich war. Pflichterfüllung, Vaterlandsliebe, absoluter Gehorsam und unbedingte Loyalität waren bereits vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler gesellschaftlich tief verankert. 1933 war der Boden für eine umfassende Durchdringung der deutschen Gesellschaft mit dem Wehrgedanken somit längst bereitet.

Rolle der Wehrmacht und militärischer Werte

Mit der Einberufung wurde dann ein Wertekanon bestätigt, der den Männern längst geläufig war: Die Wehrmacht sei eine der leistungsfähigsten Armeen der Welt, der deutsche Soldat sei potenziell der beste der Welt, es sei seine Pflicht, tapfer, hart, siegreich und angesichts einer drohenden Niederlage bis zur letzten Patrone zu fechten. Kämpfte man als Soldat erfolgreich, so konnte man sein Gesicht, seine Ehre wahren, auch wenn die Schlacht oder gar der Krieg verloren ging. Man war dann selbst nicht schuld – konnte sozusagen nichts dafür. Man befand sich in der Rolle eines Fußballspielers, der gut spielt und erhobenen Hauptes vom Platz geht, obwohl sein Team verliert.

Dieser Logik entsprechend wurde die Wehrmacht – trotz aller Kritik im Einzelnen – als Institution niemals in Frage gestellt. Zu kämpfen war eine Pflicht, die zu erfüllen den allermeisten selbstverständlich war. Und erst als die Wehrmacht im Herbst 1944 und vor allem im Frühjahr 1945 den Zusammenhalt verlor, Ordnung, Struktur und Einheit im Chaos der Niederlagen verlorengingen, waren immer mehr Soldaten bereit, den Kampf aufzugeben und in Gefangenschaft zu gehen. Bis dahin wurde die Wehrmacht – nicht zuletzt wegen der großen Erfolge der ersten Kriegsjahre – als Organisation sehr positiv wahrgenommen, als effektiv, leistungsfähig und erfolgreich. Und dies selbst von solchen Soldaten, die das NS-System massiv kritisierten.

Dies lag gewiss auch daran, dass die politische und militärische Führung aus dem Klassensystem der kaiserlichen Streitkräfte gelernt hatte: In der Wehrmacht bekamen alle das gleiche Essen, trugen die gleiche Uniform, erhielten die gleichen Orden. Das Kämpferideal galt nun auch für die hohen Offiziere, und das Führen von Vorne wurde zum Prinzip. 289 deutsche Generäle sind im Zweiten Weltkrieg gefallen, mehr als doppelt so viele wie im Ersten. So war der innere Zusammenhalt deutscher Soldaten 1939 bis 1945 insgesamt zweifellos höher und ihre Moral besser als 1914 bis 1918.

Der Blick auf militärische Werte, die in ähnlicher Ausprägung auch in anderen Armeen zu finden waren, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wehrmacht Teil der nationalsozialistischen Gesellschaft war. Das bedeutet nicht, dass alle Soldaten überzeugte Nationalsozialisten sein mussten. Doch die Institution war dem NS-Staat treu ergeben und gab den Soldaten vor, was sie zu tun und zu lassen hatten. Konkret hieß dies, etwa in der Sowjetunion keinerlei Rücksichten zu nehmen sowie hart und erbarmungslos zu kämpfen. Obwohl die meisten Generäle einem eher konservativ-monarchistischen Weltbild anhingen, sorgten sie dafür, dass der Krieg in der Sowjetunion im nationalsozialistischen Sinne geführt wurde. Ihre Anpassungsleistung war aus Sicht Hitlers nahezu perfekt. Gewiss, er traute der Wehrmacht nicht alles zu. Zahlreich waren seine Klagen, dass sie eben doch zu weich für den Weltanschauungskrieg sei. So überließ er die Mordaktionen im Hinterland lieber den Einsatzgruppen der SS und stellte mit der Waffen-SS eine politische Armee auf. Doch es gab allenfalls halbherzige Bemühungen, die Befehle Hitlers abzumildern, und zahllose Wehrmachtoffiziere waren selbst von der Notwendigkeit einer radikalen Kriegführung überzeugt. Militärgerichte ließen 1939 bis 1945 20 000 deutsche Soldaten wegen "Feigheit vor dem Feind" hinrichten. 1914 bis 1918 waren es gerade einmal 48. Dies ist ein deutlicher Beleg für die Veränderungen des militärischen Referenzrahmens, zumal es die meisten Soldaten bis zur exzessiven Anwendung der Todesstrafe ab Frühjahr 1945 als vollkommen normal erachteten, dass Überläufer und "Feiglinge" mit dem Tode bestraft wurden.

Rolle von Ideologie und politischer Überzeugung

Nach wie vor ist heftig umstritten, welche Rolle politische Überzeugungen für die Soldaten spielten. Können etwa die Verbrechen der Wehrmacht damit erklärt werden, dass die Landser Nazis waren? Die Abhörprotokolle und Feldpostbriefe zeigen, dass sich die große Mehrheit der deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges für komplexere politische Fragen nicht interessierte. Über die NS-Ideologie in einem differenzierten Sinne wurde kaum diskutiert. Es finden sich in den Quellen nur wenige tiefer gehende Reflexionen über "Rassenfragen", die Neuordnung Europas oder den "Kreuzzug gegen den Bolschewismus". Die Beurteilung der Kameraden war ebenfalls nicht an deren politische Überzeugungen gebunden. Ob jemand Nationalsozialist, Kommunist oder ein Sozialdemokrat war, spielte keine Rolle. Viel wichtiger war, welche Leistungen er als Soldat erbrachte, ob er "schneidig" und tapfer oder ängstlich und feige kämpfte. Soweit glichen die Soldaten des Zweiten jenen des Ersten Weltkrieges.

Und doch gab es einen gewichtigen Unterschied. Politik vermittelt sich nämlich nicht durch gelehrte Diskussionen, sondern durch die soziale Praxis, die zur Aneignung ideologisch gefärbter Normen führt. Die Vorstellung von der Ungleichheit der Rassen, das Einverständnis zum Ausschluss der Juden aus der "Volksgemeinschaft", die Rechtfertigung von Verbrechen und die Selbstverständlichkeit eines Härteideals teilten wohl die meisten deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Sie leiteten dies mehrheitlich gewiss nicht aus dem Schrifttum der NSDAP ab, sondern es erschien ihnen schlicht als gegeben und bedurfte keiner weiteren Begründung. Insofern hatten die Soldaten des Jahres 1943 sicherlich einen ideologischeren Referenzrahmen als jene des Jahres 1916. Überzeugte Weltanschauungskrieger, die ihr Denken und Handeln bewusst in einen nationalsozialistischen Kontext stellten, bildeten gleichwohl nur eine deutliche Minderheit, die mit zunehmender Kriegsdauer immer kleiner wurde. 1944 machten sie vielleicht noch fünf bis zehn Prozent der Soldaten aus.

Welche Rolle spielte die Ideologie für das Handeln der Soldaten? Zweifellos haben nationalsozialistische Wertvorstellungen zu Dispositionen geführt, die Gräueltaten begünstigten. Ob es dann aber wirklich zu einem Verbrechen kam, hing ganz erheblich von der konkreten Situation und der jeweiligen Befehlslage ab. Es gab Nationalsozialisten, die keine Kriegsverbrechen begingen, und NS-Kritiker, die es taten. Dieser Befund ist durchaus beunruhigend, denn die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts zeigt, dass fast jeder Mensch die fürchterlichsten Verbrechen begehen kann, wenn die situativen Rahmenbedingungen dies geboten erscheinen lassen. Ob jemand im Zweiten Weltkrieg zum Täter wurde, hing dann meist von Zufällen ab, etwa in welcher Einheit oder an welchem Frontabschnitt er kämpfte.

Referenzrahmen des Individuums

Ludwig Crüwell und Wilhelm Ritter von Thoma waren gleich alt und durchliefen eine beinahe identische militärische Karriere. Sie kämpften als junge Frontoffiziere im Ersten Weltkrieg, dienten in der Reichswehr und stiegen in der Wehrmacht zum General auf. Beide kommandierten Panzerdivisionen an der Ostfront, waren zuletzt Befehlshaber des Afrika-Korps und gerieten im Mai bzw. November 1942 in britische Gefangenschaft. Man möchte meinen, dass sie sich sehr ähnlich waren. Doch sie deuteten Krieg und Nationalsozialismus denkbar unterschiedlich. Crüwell war ein glühender Anhänger Hitlers, glaubte fest an den "Endsieg" und bestritt vehement den verbrecherischen Charakter der deutschen Kriegführung. Thoma war ein ebenso glühender NS-Gegner, hielt bereits Ende 1942 den Krieg für verloren und empörte sich über die ungeheuerlichen Gräueltaten.
Das Beispiel zeigt, dass selbst in der Militärelite ganz unterschiedliche Persönlichkeiten anzutreffen waren. Und dieser Befund trifft erst recht zu, wenn man die ganze Wehrmacht mit ihren 17 Millionen Soldaten – einen Querschnitt der männlichen deutschen Bevölkerung – in den Blick nimmt. Hier fanden sich Arbeiter, Angestellte und Akademiker, Nationalsozialisten, Kommunisten und Sozialdemokraten, Protestanten, Katholiken und Atheisten, Österreicher, Mecklenburger, Ostpreußen und Westfalen.
Doch hatten die Sozialmilieus einen Einfluss auf das Denken und vor allem auf das Handeln der Männer? Auf den ersten Blick kaum. So sehr sich Crüwell und Thoma in ihren politischen Überzeugungen unterschieden, so sehr ähnelten sie sich in ihrem Handeln als Berufsoffiziere: Sie wollten vor allem die ihnen gestellten Aufgaben an der Front gut erfüllen. Auch die große Masse der einfachen Soldaten akzeptierte, wie wir bereits gesehen haben, die Regeln des Militärs und sah es zumindest bis zum Herbst 1944 – und im Ersten Weltkrieg bis Sommer 1918 – als ihre Pflicht an, für Deutschland zu kämpfen.
Und doch handelten die Soldaten nicht alle gleich. Selbst auf der untersten Ebene gab es in einer totalen Organisation wie einer Armee noch Entscheidungsfreiheiten, Gelegenheiten, sich so oder so zu entscheiden: einen Gefangenen zu erschießen oder ihn laufenzulassen, sich zu ergeben oder weiterzukämpfen. Das Bild von der Truppe ist keineswegs einheitlich. Der wichtigste Unterschied betrifft zweifellos die Moral. Es gab intrinsisch motivierte Soldaten, die unbedingt kämpfen wollten und auch noch schossen, wenn es niemanden mehr gab, der ihnen dies befahl. Die meisten aber waren Mitläufer, die nur ihre vermeintliche Pflicht taten, mehr aber nicht.
Hoch motivierte "Krieger" finden sich besonders häufig unter den Offizieren und den Unteroffizieren. Oberleutnant Ernst Jünger war einer von ihnen. Als er bei einem Sturmangriff am 25. August 1918 – gut zwei Monate vor Kriegsende – einen Brustdurchschuss erlitt, musste er hilflos mit ansehen, wie sich Soldaten seiner Kompanie den Engländern ergaben. "Leider konnte ich kein Gewehr regieren", so Jünger in seinem Tagebuch, "um die ganze Lumpenbagage zusammenzuknallen." Ganz ähnlich klang der 25-jährige Pionierhauptmann Werner Otto im Dezember 1944. Er zeigte sich noch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft vollkommen verständnislos darüber, dass einige "Scheißkerle" seines Panzerpionierbataillons 220 "nicht mehr gewollt" hätten und sich, ohne einen Schuss abzufeuern, ergeben hätten. Manche Historiker glauben, dass die Zahl solch besonders motivierter Soldaten in der Wehrmacht höher gewesen sei als in der kaiserlichen Armee und dass so die große Kampfkraft und das lange Aushalten bis Mai 1945 zu erklären seien.

National spezifische Prägungen

Werte, Normen und Gebote der Gesellschaft und des Militärs, persönliche Prägungen und schließlich die konkrete Situation des Kämpfens bilden als komplexes Beziehungsgeflecht den Rahmen für soldatisches Denken und Handeln. Dies gilt heute ebenso wie für die beiden Weltkriege.

Und doch waren und sind nicht alle Armeen gleich. Abgesehen von den Unterschieden in der Ausrüstung, Bewaffnung und Ausbildung unterschied sich der Referenzrahmen etwa der deutschen, italienischen und japanischen Soldaten teilweise erheblich. Während auf den Pazifikinseln die japanischen Garnisonen praktisch bis zum letzten Mann kämpften und den Tod der Gefangenschaft vorzogen, ergab sich die Wehrmacht meist erst nach hartem Gefecht.

Italienische Soldaten kapitulierten vielfach vorzeitiger, weil sie häufiger als die Deutschen den Staat als ein feindliches Organ ansahen, dessen Interessen nicht die seiner Bürger waren. Ähnliche Ansichten hegten sie oft über die italienische Armee, deren Offiziere ihnen als eine "inkompetente, feige Clique" galt, die ihre Posten nicht durch Leistung, sondern einzig durch Vetternwirtschaft erhalten hatte.

Ganz anders in Japan: Die wichtigsten militärischen Regeln – Gunjin Chokuyu, Senjinku und Bushido, Verhaltenskodizes der Samurai, mit kaiserlichem Erlass von 1882 für das Verhalten in der Schlacht vorgeschrieben – verpflichteten die Soldaten zu Loyalität, Tapferkeit, Mut und vor allem zu absolutem Gehorsam. Rückzug war verboten, und die Männer wurden vergattert, sich niemals zu ergeben. Diese Wertvorstellungen waren auch deshalb so wirkungsmächtig, weil sie auf der auch in der Zivilgesellschaft verankerten Überzeugung aufbauten, dass Gefangenschaft etwas zutiefst Unehrenhaftes sei. Sie bringe nicht nur Schande über einen selbst, sondern auch über die eigene Familie. Deshalb begingen zahllose japanische Soldaten in hoffnungsloser militärischer Lage lieber Selbstmord, als sich in die Hände des Feindes zu begeben. Bis März 1945 hatten die Alliierten lediglich knapp 12 000 japanische Soldaten interniert, aber Millionen von Wehrmachtsoldaten.

Der gesellschaftliche und militärische Referenzrahmen unterlag also national spezifischen Prägungen. Wer aus japanischer Perspektive ein vorbildlicher Soldat war, war für die meisten Italiener eher ein Dummkopf und für die Wehrmachtsoldaten ein teils bewunderter, teils verachteter Fanatiker. Solch große Unterschiede hatte es im Ersten Weltkrieg zumindest bei den Armeen der klassischen Großmächte nicht gegeben. Die gesellschaftlichen Wertesysteme waren ähnlicher als im Zweiten, und das Verhalten der Soldaten auf dem Schlachtfeld wies weniger Unterschiede auf.