Als am Silvesterabend 1899 in London, Berlin und St. Petersburg die Sektkorken knallten, ahnte niemand etwas von Verdun, Stalingrad oder Auschwitz. Die Bürger Europas erwarteten im neuen Jahrhundert kein "Menschenschlachthaus" – das berühmte Buch des Hamburger Reformpädagogen und Schriftstellers Wilhelm Lamszus (1881-1965) mit dem Untertitel "Bilder vom kommenden Krieg" wurde ja auch erst 1912 geschrieben. Um 1900 erlebte Europa in der Hochphase der ersten Globalisierung einen ungeahnten ökonomischen Wohlstand. Hätten die Zeitgenossen am 31. Dezember 1899 die Zukunft voraussagen sollen, sie hätten wohl auf ein kommendes Zeitalter von Wirtschaftskriegen getippt. Ganz so wie der österreichisch-ungarische Außenminister Agenor Graf Goluchowski, der am 20. November 1897 in einer Rede gesagt hatte: "Wie das 16. und 17. Jahrhundert mit den religiösen Kämpfen ausgefüllt waren, wie im 18. Jahrhundert die liberalen Ideen zum Durchbruche kamen, wie das gegenwärtige Jahrhundert durch das Auftauchen der Nationalitäts-Fragen sich charakterisiert, so sagt sich das 20. Jahrhundert für Europa als ein Jahrhundert des Ringens ums Dasein auf handelspolitischem Gebiete an."
Selbst als im Sommer 1914 die Nachricht vom Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand um die Welt ging, dachten die wenigsten daran, dass fünf Wochen später ein Weltkrieg ausbrechen könnte. In Großbritannien war man auf den drohenden Bürgerkrieg zwischen Protestanten und Katholiken in Irland konzentriert, der kaum noch zu verhindern schien. In Paris war alle Aufmerksamkeit auf den Prozess gegen die Frau von Finanzminister Joseph Caillaux gerichtet, die wenige Wochen zuvor in einer spektakulären Aktion einen Enthüllungsjournalisten niedergeschossen hatte. Der europäische Hochadel begab sich Anfang Juli 1914 wie jedes Jahr auf Sommerfrische in die Bäderorte. Und selbst der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn hatte in jenen Tagen nichts Besseres zu tun, als mit Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg über drittrangige verfassungsrechtliche Fragen zu streiten. Etliche Historiker wie Michael Salewski, Holger Afflerbach oder Friedrich Kießling haben aus den vielen Friedensbeteuerungen jener Tage geschlossen, dass der Ausbruch eines großen Krieges im Sommer 1914 ein gänzlich unwahrscheinliches Szenario gewesen sei. Allerdings muss dann ja doch etwas schiefgelaufen sein.
Das Attentat von Sarajevo und die Julikrise
Der Anlass des Ersten Weltkrieges war ein denkbar dilettantisch vorbereitetes Attentat. Als der österreichische Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 – einem Sonntag – im Verlauf einer Bosnienreise auch Sarajevo einen Besuch abstattete, warteten vier junge Attentäter auf ihn. Nur durch einen unglaublichen Zufall – das Auto des Thronfolgers bog aufgrund eines Verständigungsfehlers falsch ab – gelang es dem 19-jährigen bosnischen Serben Gavrilo Princip zwei Schüsse abzugeben, die Franz Ferdinand und seine Frau Sophie töteten.
In Europa wurde der Anschlag als terroristischer Akt verurteilt, der Österreich-Ungarn das Recht auf Vergeltung gab. In Wien war man davon überzeugt, dass Belgrad für den Mord verantwortlich sei. In der Tat hatte der Chef des serbischen Geheimdienstes, Dragutin Dimitrijevic´-Apis, den Attentätern die Waffen geliefert, und auch der serbische Ministerpräsident Nikola Pašic´ ahnte etwas von den Anschlagsplänen. Für das weitere Vorgehen Wiens war freilich die Haltung des deutschen Bundesgenossen entscheidend. Da ein Angriff auf Serbien die Gefahr eines Krieges mit dessen Schutzmacht Russland heraufbeschwor, musste man sich zunächst der Unterstützung Berlins versichern. Von dort kamen keine Appelle der Mäßigung, im Gegenteil: Sowohl Kaiser Wilhelm II. als auch Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg machten am 5. und 6. Juli 1914 klar, dass es an Österreich-Ungarn liege, zu beurteilen, was geschehen müsse, um das Verhältnis zu Serbien zu klären. Wien könne "hierbei – wie auch immer [die] Entscheidung ausfallen möge – mit Sicherheit darauf rechnen, dass Deutschland als Bundesgenosse und Freund der Monarchie hinter ihr stehe".
Dies war der vielzitierte "Blankoscheck", mit dem Berlin den auf einen lokalen Krieg fixierten Bündnispartner, den man bislang im entscheidenden Moment stets zu bremsen verstanden hatte, losließ. Die Reichsleitung betonte gar, dass ein sofortiges Einschreiten Österreich-Ungarns gegen Serbien die radikalste und beste Lösung sei, zumal die internationale Lage für einen solchen Schritt momentan günstiger scheine als in Zukunft. Wenn nun aber wirklich ein Angriff auf Serbien erfolgte, kam alles darauf an, wie sich das Zarenreich verhielt. Die Entscheidung über Krieg oder Frieden lag somit in Wien und in St. Petersburg, während sich Berlin durch den "Blankoscheck" selbst die direkte Mitwirkungsmöglichkeit entzogen hatte und in der Julikrise erst spät und allzu halbherzig von dieser Haltung abwich. In Wien hatte man es jedoch nicht sonderlich eilig. Zahlreiche Soldaten waren im Ernteurlaub, aus dem man sie nicht ohne großen diplomatischen und volkswirtschaftlichen Schaden zurückrufen konnte. So wurde erst am 23. Juli in Belgrad ein Ultimatum übergeben, das ein Ende anti-österreichischer Propaganda und die Beteiligung österreichischer Behörden "an der Unterdrückung der gegen die territoriale Integrität der Monarchie gerichteten subversiven Bewegungen" sowie an der gerichtlichen Untersuchung des Attentates forderte. Diese Klauseln waren unannehmbar, da sie die Souveränität Serbiens unmittelbar tangierten.
Das Wiener Ultimatum an Belgrad schlug in den europäischen Hauptstädten ein wie eine Bombe. Wenngleich hier und da durchgesickert war, dass harte Forderungen aufgestellt werden würden, begannen die Ministerpräsidenten, Außenminister und Diplomaten nun zu begreifen, dass sich Europa auf einen großen Krieg zubewegte. In der Sommerhitze der Hauptstädte verbreitete sich hektische Betriebsamkeit. In rasender Geschwindigkeit eskalierte in der letzten Juliwoche die Lage. Die serbische Regierung verfasste am 25. Juli ein demutsvolles Antwortschreiben, das Kaiser Wilhelm II. zu der Bemerkung veranlasste, dass noch nie ein Staat so zu Kreuze gekrochen sei und damit der Grund für einen Krieg ja wohl entfallen sei. Da das Ultimatum aber nicht wie gefordert bedingungslos angenommen wurde, brach die Donaumonarchie die diplomatischen Beziehungen ab, machte einen Teil ihrer Truppen mobil und erklärte Serbien am 28. Juli 1914 den Krieg.
Einen Tag später beschoss die österreichisch-ungarische Artillerie Belgrad, um eine noch immer mögliche friedliche Lösung des Konfliktes zu torpedieren. Ein neuer Balkankrieg war ausgebrochen, seit 1912 der dritte. Noch war es nur ein lokaler Krieg, wie es seit 1815 in Europa viele gegeben hatte. Doch machte das mit Serbien liierte Russland am 30. Juli seine Truppen mobil. Deutschland, das seinen Verbündeten Österreich-Ungarn nicht im Stich lassen wollte, wertete dies als eindeutige Absicht zum Krieg, mobilisierte seinerseits und erklärte Russland am 1. August den Krieg. Es folgte schließlich die Kriegserklärung an das mit dem Zarenreich verbündete Frankreich. Der deutsche Kriegsplan sah zuerst nämlich einen Angriff im Westen vor, um sich nach einem entscheidenden Sieg gen Osten zu wenden. Damit hatte sich der lokale zum kontinentalen Krieg ausgeweitet. Schließlich erklärte das mit Russland und Frankreich verbündete Großbritannien am 4. August Deutschland den Krieg. Offiziell, weil deutsche Truppen mittlerweile auch in Belgien einmarschiert waren. Eigentlich ging es aber darum, in diesem großen Krieg nicht abseits zu stehen und eine deutsche Dominanz auf dem Kontinent zu verhindern. Wenige Tage später folgten dann die Kriegserklärungen der britischen Dominions Kanada, Südafrika, Australien und Neuseeland. Der kontinentale Konflikt war zum Weltkrieg geworden.
QuellentextDer Balkankonflikt 1912/13
Das Osmanische Reich erstreckte sich am Anfang des 19. Jahrhunderts noch bis weit nach Europa, Nordafrika und den Nahen Osten. Es hatte freilich den Höhepunkt seiner Macht seit langem überschritten, und die machtpolitische Erosion dieses Riesenreiches war seit dem griechischen Aufstand gegen die Türkenherrschaft 1821 auch ein zentrales Problem der europäischen Politik. Gelöst wurde diese sogenannte Orientalische Frage erst mit der Zerschlagung des Osmanischen Reiches und der Reduzierung auf ein türkisches Kerngebiet im Friedensvertrag von Lausanne 1923. Die Zurückdrängung der Osmanen wurde in Europa einerseits begrüßt. Sie warf aber auch zahllose neue Probleme auf, insbesondere auf dem Balkan. Auf dem Berliner Kongress 1878 wurde die Unabhängigkeit Serbiens, Montenegros, Rumäniens und bald darauf auch von Bulgarien anerkannt. Die nationalen Interessen der Balkanvölker spielten für die Großmächte aber auch fortan keine Rolle – ihnen ging es stets nur darum, eigene Machtinteressen zu wahren und die kleinen Balkanstaaten dabei zu instrumentalisieren. Österreich-Ungarn und Russland betrachteten die Region traditionell als ihr Einflussgebiet und gerieten darüber immer wieder in ernsthafte Konflikte.
Als im Herbst 1912 das Osmanische Reich in einen Krieg gegen Italien verwickelt war, nutzten die Balkanstaaten die Gunst der Stunde, um die europäische Türkei – Albanien, Thrakien und Makedonien – unter sich aufzuteilen. Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro schlossen einen Balkanbund und erklärten im Oktober 1912 dem Osmanischen Reich den Krieg. Die türkischen Truppen erlitten schnell eine Serie von Niederlagen, sodass notgedrungen eine territoriale Neuordnung des Balkans ins Auge gefasst werden musste. Wien wollte aber keinesfalls einen Machtzuwachs Serbiens akzeptieren. Dies wiederum verlangte das Zarenreich, das sich unterdessen zur Schutzmacht des serbischen "Brudervolkes" aufgeschwungen hatte. Als Wien und St. Petersburg im November Kriegsvorbereitungen trafen, drohte die Lage zu eskalieren. Schließlich gelang es Großbritannien und Deutschland auf der Londoner Botschafterkonferenz am 17. Dezember 1912 die Lage zu entschärfen. Serbien erhielt keinen Hafen an der Adria – dies war eine Forderung Wiens –, und mit Albanien wurde ein Pufferstaat an der strategisch wichtigen Straße von Otranto errichtet. Doch die Lage drohte erneut zu eskalieren, als Serbien und Montenegro am 23. April 1913 die strategisch wichtige türkische Festung Skutari einnahmen, die eigentlich Albanien zugeschlagen werden sollte. Österreich-Ungarn drohte mit militärischer Intervention, falls sich die Truppen nicht zurückziehen würden. Erneut funktionierte das deutsch-britische Krisenmanagement: Eine internationale Flottendemonstration, der Russland zustimmte, ohne sich an ihr zu beteiligen, verdeutlichte den Willen der Großmächte, diese Provokation nicht zu dulden. Die Türkei musste im Londoner Präliminarfrieden am 30. Mai 1913 schließlich dem Verlust fast ihrer gesamten europäischen Besitzungen zustimmen. Es blieb ihr nur ein kleiner Landstrich um Konstantinopel.
Der Friede hielt jedoch nicht lange. Rasch gerieten die Sieger über die Verteilung der Beute in Streit. Bulgarien fühlte sich insbesondere von Serbien hintergangen und griff am 29. Juni 1913 überraschend zu den Waffen. Der geplante Coup scheiterte jedoch. Gegen die Übermacht von Serben und Griechen hatten die Bulgaren keine Chance, zumal auch Rumänien und die Türkei die Gunst der Stunde nutzten und gegen Sofia marschierten. Deutschland, Großbritannien und Italien wirkten mäßigend auf Österreich-Ungarn ein, das ursprünglich Bulgarien unterstützen wollte, um weitere territoriale Gewinne Serbiens zu verhindern. So musste sich Wien damit abfinden, dass im Vertrag von Bukarest am 10. August 1913 Bulgarien den Großteil seiner Beute aus dem Ersten Balkankrieg wieder verlor. Rumänien erhielt den Südteil der Dobrudscha, die Türkei konnte durch den Erwerb Ostthrakiens wieder in Europa Fuß fassen. (siehe a. Karte IV)
Der eigentliche Sieger der Balkankriege war ohne Zweifel Serbien, das seine Machtstellung erheblich ausgebaut hatte und zu einer Mittelmacht mit großen Ambitionen aufgestiegen war. Unterstützt wurde es von Russland, hinter dem wiederum Frankreich und Großbritannien standen. Österreich-Ungarn, dies hatten die Balkankriege gezeigt, beobachtete mit Argusaugen, was in Serbien vor sich ging. Da hinter Wien der große Bundesgenosse Deutschland stand, war der Balkan ein Brandherd, der schnell einen kontinentalen Flächenbrand entfachen konnte.
QuellentextErinnerungen an den Kriegsbeginn
Alfred Bauer 1915, aus der Rückschau nach zehn Monaten
Es kam die Stunde, wo wir vor die Entscheidung gestellt wurden, ob wir bereit waren, die Nibelungentreue für den Freund vor aller Welt mit dem Schwerte zu beweisen.
Am (28.) Juni wurde Franz Ferdinand in Sarajewo von serbischen Meuchelmördern ermordet. Es war der Schlußstein eines lange und sorgsam vorbereiteten Gebäudes. Im ersten Augenblick waren wir uns der ungeheuren Bedeutung der That nicht völlig klar; erst als die Verhandlungen eine weitverzweigte politische Verschwörung aufdeckten, deren sämmtliche Fäden in den serbischen Regierungskreisen zusammenliefen, da sah man plötzlich klar, denn daß hinter Serbien Rußland stand, darüber konnte kein Zweifel herrschen. Für Oesterreich konnte es jetzt nur noch heißen, biegen oder brechen; den unwürdigen Zuständen auf dem Balkan mußte ein für alle Mal ein Ende bereitet werden, wenn nicht das Ansehen Oesterreichs dauernd vernichtet sein sollte. [...] Rußland [...] erklärte offiziell, daß es bei dem Handel Oesterreichs mit Serbien "nicht uninteressiert" bleiben könne. Von dem Augenblick an, als ich das las, war ich der festen Überzeugung, daß eine friedliche Lösung ausgeschlossen sei, denn von nun an konnte Rußland nicht mehr zurück, ohne sein Ansehen auf dem Balkan einzubüßen; mit dieser Erklärung hatte es sein Wort verpfändet. Nun nahm das Schicksal seinen Lauf; die Ereignisse folgten einander Schlag auf Schlag.
Es war am Sonnabend den 24. Juli, als die Nachricht von dem Ultimatum Oesterreichs und die Erklärung Rußlands von seiner Interessiertheit in Rothenfelde erschien. [...] Der nächste Tag, der Sonntag, brachte eine Verschärfung der Lage. Deutschland forderte Rußland auf, Oesterreich und Serbien ihre Privathändel allein ausfechten zu lassen; jede Einmischung seitens Rußland würde Deutschland veranlassen, Oesterreichs Sache zu der seinigen zu machen. Die Erregung im Volk stieg ungeheuer; jeder erkannte jetzt, um was es sich handelte. [...] [I]ch war mir klar darüber, daß wir nicht so leicht wieder einen Anlaß zum Kriege bekommen würden, der so wie dieser dem Volksempfinden entsprach, und die Volksstimmung ist einer der wichtigsten Faktoren eines modernen Krieges, wenn nicht der wichtigste. Wir schienen aber wieder im Begriff zu sein, wie schon oft, aus Friedensliebe den günstigsten Augenblick zu verpassen. Dieses Mal hatte ich aber glücklicherweise die Thatkraft der Regierung unterschätzt, und ich sah bald, daß sie mit einer bewundernswerten Entschlossenheit unbeirrt ihren Weg ging. [...]
Aus dem Tagebuch des Dr. med. Alfred Bauer sen., "Der Weltkrieg, wie er sich spiegelte im Gehirn von Alfred Bauer, Stabs- und Regimentsarzt im Res. Inf. Rgt. 78 später Feldlazarett 6", Eschau Elsass, Eintrag vom 17. Mai 1915 (beim Feldlazarett), Quelle: privat
H. V. Shawyer, No. 4142, 1st Bataillon, The Rifle Brigade, British Expeditionary Force über seine Erlebnisse auf dem Marsch durch Felixstowe, 5. August 1914
The place was full of holidaymakers lining the pavements to see us go by and come war, hell or high water they seemed determined to get a laugh out of things. Of course none of us could foresee the four terrible years that lay ahead of us, but I didn’t feel too generously disposed to some of them. There were bunches of men in the doorways of the public houses holding up their foaming tankards at us as we slogged along – mocking us! And there were we under the weight of all our equipment and not a wink of sleep had we had the night before. Of course a lot of them were young – young enough to be feeling the weight of a full pack on their own backs before long. I often wondered if they were laughing then!
But most of the people couldn’t do enough for us, and they were pretty loud in the doing of it. Cheering, shouting, singing, waving their handkerchiefs, and showering us with sweets and packets of cigarettes. Some of the young girls were even pelting us with flowers as if we were blooming Spaniards or something. One man rushed out of a newsagent’s with his arms full of copies of the morning papers – he must have bought up the shop! He was running alongside us and the lads were grabbing the papers as fast as he could hand them out. And the cheering and yelling!
I was on the outside of a flank of four. I turned up my head and found myself inches away from a woman who was staring straight into my face. Beeing nineteen and bashful I was terrified that she was going to kiss me – some fellows were surrounded by women kissing them! – but she didn’t. She just put her hand up to her mouth and as I went by I could see that she had tears in her eyes. […]
Lyn Macdonald, 1914. The Days of Hope, Penguin Books / Random House, London 1989, Seite 48 f.
QuellentextStimmung beim Kriegsbeginn 1914 …
[...] Sonnabend den 1. August. [...] Daß die Kriegserklärung kam, darüber bestand kein Zweifel, man wußte nur nicht, heute oder morgen. [...] [Am Schaufenster der] Redaktion des Osnabrücker Tageblatts [...] wurden die neuesten Telegramme angeschlagen, und die Menschenmenge staute sich davor in Erwartung eines besonderen Ereignisses. Auch meine Blicke hingen wie gebannt an dem Fenster [...] und plötzlich erschienen kurz nach 6 Uhr [...] in handgroßen Buchstaben die kurzen aber inhaltsschweren Worte: "S. M. der Kaiser und König haben die Mobilmachung von Heer und Flotte angeordnet. I. Mobilmachungstag Sonntag der 2. August."
Nun war es also so weit; still und ernst nahm die Menge die Botschaft auf; und bei den jungen Leuten sah man Erregung, die sich gern in Hurrahrufen Luft gemacht hätte. [...] Ja, jetzt hatten wir den Krieg, den Weltkrieg, in dieser Minute war es auch in der entlegensten Poststation Deutschlands bekannt, daß er unabänderlich war. Daß er in der Tat nicht zu umgehen gewesen war, das wußte jeder, das merkte man allen Menschen an, die nun mit fester Entschlossenheit nach Hause eilten, um ihr Haus zu bestellen, ihre Angelegenheiten zu ordnen und dann mit ruhigem Gewissen zu den Fahnen strömten, um ihren Platz einzunehmen und ihre Pflicht zu tun. […] Ich hatte ein Gefühl der Befreiung, der Lösung von einer ungeheuren Spannung; nun, wo es kein "zurück" mehr für uns gab, da lag unser Weg klar vor uns, und das gab mir das Gefühl der Ruhe und Sicherheit. [...]
Mit 3maligem brausenden Hurrah, unter Mützenschwenken und den Klängen der Wacht am Rhein fuhren wir aus dem Bahnhof, und nun begann ein Triumphzug sonder Gleichen. [...] Als wir so durch die jubelnden Städte und Landschaften fuhren, an jedem Fenster und an jeder Hecke standen Menschen und winkten uns zu, da quoll auch in unsern Herzen die Begeisterung hoch empor, und wir sprachen zu gleicher Zeit denselben Gedanken aus: "Könnte man das doch noch erleben, daß man wieder zurückkäme und erzählen könnte von diesen herrlichen Eindrücken". [...]
Aus dem Tagebuch des Dr. med. Alfred Bauer sen., "Der Weltkrieg, wie er sich spiegelte im Gehirn von Alfred Bauer, Stabs- und Regimentsarzt im Res. Inf. Rgt. 78 später Feldlazarett 6", Eschau Elsass, Eintrag vom 17. Mai 1915 (beim Feldlazarett), Quelle: privat
Wilhelm Dettmer, geb. 1898:
Ich weiß noch, als der Krieg erklärt wurde, habe ich meinen Vater das einzige Mal im Leben weinen sehen. Er war gedienter Soldat und wusste, was Krieg bedeutete. Er wurde jetzt nicht mehr Soldat, erstens weil er sich beim Militär einen Bruch geholt hatte und zweitens war er auch zu alt. Er war 1871 geboren, damals also schon 43 Jahre alt. Aber das hat ihn doch so erschüttert und mitgenommen, dass er geweint hat. Wir als Kinder haben hurra gerufen. […]
Wolf-Rüdiger Osburg, Hineingeworfen. Der Erste Weltkrieg in den Erinnerungen seiner Teilnehmer, Osburg Verlag Hamburg 2009, Seite 101
… und 1939
Berlin, 3. September 1939
Ich stand am Wilhelmplatz, als die Lautsprecher gegen Mittag plötzlich verkündeten, daß England Deutschland den Krieg erklärt habe. Etwa 250 Menschen hatten sich in der Sonne versammelt. Sie hörten gespannt zu. Nach Beendigung der Durchsage gab es nicht einmal ein Murmeln. Sie standen unverändert dort. Betäubt. Die Leute können es noch nicht fassen, daß Hitler sie in einen Weltkrieg geführt hat.
Wiliam L. Shirer, Berliner Tagebuch. Aufzeichnungen 1934-41, A. d. Amerikanischen und hg. von Jürgen Schebera. Aufbau-Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1994, für die Übersetzung
3. September […]
[...] Volksstimmung absolut siegesgewiß, zehntausendmal überheblicher als 14. Dies gibt entweder einen überwältigenden, fast kampflosen Sieg, und England und France sind kastrierte Kleinstaaten, oder aber eine Katastrophe, zehntausendmal schlimmer als 1918. Und wir mitteninne, hilflos und wahrscheinlich in beiden Fällen verloren. […] Und doch zwingen wir uns, und es gelingt auch auf Stunden, unsern Alltag weiterzuleben: vorlesen, essen (so gut es geht), schreiben, Garten. Aber im Hinlegen denke ich: Ob sie mich diese Nacht holen? Werde ich erschossen, komme ich ins Konzentrationslager? [...]
4. September […]
[...] Heute früh Bestätigung durch den Briefträger. Der Mann entsetzt: "Ich bin 1914 verschüttet worden und muß nun als Landwehrmann wieder heraus. Ist das notwendig gewesen, ist das menschlich? Sie sollten die düsteren Gesichter der Truppentransporte sehen – anders als 14. Und haben wir 14 mit Knappheit der Lebensmittel begonnen? Wir müssen unterliegen, es kann nicht wieder vier Jahre dauern" – Im Bienertpark der Krämer Berger, Soldat von 1914, jetzt Funker: "Sie haben es gut jetzt!" – "Ich? Ich rechne mit Totgeschlagenwerden." – "Sie sind aus allem heraus – wir armen Hunde müssen wieder ran!" [...]
Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945. Hg. v. Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer. Aufbau Verlag, Berlin 1995
Die Schuldfrage
Bereits in den Julitagen 1914 – also noch bevor der erste Schuss gefallen war – stellten sich Zeitgenossen die Frage, wie es zu der folgenschweren Eskalation hatte kommen können. Und vor allem: Wer war der Schuldige? Zunächst zeigte jeder auf den anderen, und die Debatte kam nicht recht voran. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg legte der Hamburger Historiker Fritz Fischer mit zwei Aufsehen erregenden Büchern neue Dokumente vor, die beweisen sollten, dass Deutschland den Krieg geplant und gezielt im Sommer 1914 begonnen habe. Schließlich nahmen Historiker immer mehr Aspekte des Kriegsbeginns unter die Lupe: die Rolle Österreich-Ungarns, dann Frankreichs, Großbritanniens und zuletzt auch Russlands und Serbiens. Hinzu kamen die innenpolitischen Verwerfungen, der Einfluss herausragender Persönlichkeiten, der öffentlichen Meinung oder bestimmter gesellschaftlicher Gruppen.
Heute liegen Studien aller denkbaren methodischen Ausrichtungen zum Kriegsbeginn vor: Diplomatie-, sozial- und kulturgeschichtliche Arbeiten sind darunter ebenso wie Biografien oder Gesellschaftsanalysen. Es gibt Bücher, die die langen Wege in den Ersten Weltkrieg analysieren, ebenso wie solche, die mehr die Ereignisse unmittelbar vor dem Ausbruch im Blick haben. In den vergangenen 100 Jahren ist der Beginn des Ersten Weltkrieges in jeder denkbaren Variante durchdacht und analysiert worden. Der australische Historiker Christopher Clark hat zu Recht bemerkt, dass es mittlerweile mehr Bücher und Aufsätze über den Kriegsbeginn gibt, als ein Mensch in seinem Leben lesen kann. 1990 sollen es bereits über 25000 gewesen sein – mittlerweile dürften einige Tausend hinzugekommen sein. Eine abschließende, unstrittige Erklärung, warum es 1914 zum Weltkrieg kam, hat sich aber noch immer nicht finden lassen.
QuellentextDer "Kriegsrat" 1912 – Auftakt zum Weltkrieg?
Wilhelm II. hatte ins Berliner Schloss "befohlen": am Sonntag, den 8. Dezember 1912, 11 Uhr. Anwesend waren der Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Großadmiral Alfred von Tirpitz, der Chef des Admiralstabs, Vizeadmiral August von Heeringen, sowie der Chef des Generalstabs, General der Infanterie Helmuth Johannes Ludwig von Moltke (der Jüngere). […]
Der Chef des Kaiserlichen Marinekabinetts, Admiral Georg Alexander von Müller, war ebenfalls zugegen und hielt am Abend über die Besprechung in seinem Tagebuch fest, dass "Seine Majestät" beunruhigt gewesen sei. Der Botschafter in London, Karl Max Fürst von Lichnowsky, hatte ihm mitgeteilt, Lord Haldane – das "Sprachrohr" des britischen Außenministers Sir Edward Grey – habe dem deutschen Diplomaten bedeutet, "dass England, wenn wir Frankreich angriffen, unbedingt Frankreich beispringen würde, denn England könne nicht dulden, dass die Balance of power in Europa gestört werde". Der Kaiser begrüßte "diese Mitteilung als erwünschte Klärung der Situation denjenigen gegenüber, die sich von Pressefreundlichkeiten der letzten Zeit Englands sicher fühlten".
Das war eine kaiserliche Spitze gegen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg und gegen den Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Alfred von Kiderlen-Wächter, die sich einen regionalen Ausgleich erhofften durch die am 3. Dezember in London eröffnete internationale Botschafterkonferenz. […] (siehe Seite 7)
Ohne die politische Reichsleitung hinzuzuziehen, erläuterte der Kaiser seine Sicht der Dinge: "Österreich müsse den auswärtigen Slaven (den Serben) gegenüber kraftvoll auftreten, sonst verliere es die Macht über die Slaven" in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Wenn Russland die Serben stütze, "wäre der Krieg auch für uns unvermeidlich". Man müsse sich um Verbündete für Österreich kümmern: Bulgarien, Rumänien, Albanien und "auch vielleicht die Türkei". Träten diese Mächte auf Österreichs Seite, "dann seien wir soweit frei, um den Krieg mit ganzer Wucht gegen Frankreich zu führen". Die Flotte müsse sich nun auf den Krieg gegen England einrichten. Der durch Heeringen "im letzten Vortrag erörterte Fall eines Krieges gegen Russland allein werde nach der Haldane'schen Erklärung außer Betracht bleiben". Stattdessen komme es zum Unterseebootkrieg gegen englische Truppentransporte in der Schelde beziehungsweise bei Dünkirchen sowie zum "Minenkrieg in der Themse". Daher forderte der Kaiser von Tirpitz "schleunige Mehrbauten von U-Booten".
Moltke meinte, ein Krieg sei unvermeidbar, "je eher je besser". Auch sollte "durch die Presse besser die Volkstümlichkeit eines Krieges gegen Russland" vorbereitet werden. Tirpitz warf ein, "dass die Marine gern das Hinausschieben des großen Kampfes um 1 ½ Jahre sehen würde". Moltke erwiderte, "die Marine würde auch dann nicht fertig sein und die Armee käme in immer ungünstigere Lage, denn die Gegner rüsteten stärker als wir, die wir mit dem Gelde sehr gebunden seien". Müllers Resümee der Besprechung lautete: "Das Ergebnis war so ziemlich 0."
Kaum ein anderes Schriftstück hat in den 1960er-Jahren eine größere Rolle in der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung über die Ursachen des Ersten Weltkriegs gespielt. Die Befürworter der These, dass das Deutsche Reich 1914 einen Angriffskrieg geplant habe, stützten sich auf jene Zusammenkunft, die Bethmann Hollweg abschätzig einen „Kriegsrat“ nannte. Fritz Fischer sprach in dem Buch "Krieg der Illusionen" (1969) von einem vollständigen Stimmungsumschwung im Dezember 1912 in Deutschland und von einem "vertagten Krieg". Allerdings schränkte er aufgrund der abschließenden Bemerkung aus dem Müller-Tagebuch über das "ziemlich Null"-Ergebnis ein: "Dem Kriegsentschluss entsprachen keine konkreten Überlegungen über die Voraussetzungen einer erfolgversprechenden Eröffnung des Krieges." […]
Michael Salewski machte vor einem Jahrzehnt in seiner Geschichte des Ersten Weltkrieges darauf aufmerksam, dass sich nirgendwo aus der Müller-Quelle der Wunsch herauslesen lasse, "den Krieg ohne Grund und gleichsam ex officio vom Zaun zu brechen". […]
Demgegenüber stellte John C. G. Röhl, Verfasser einer dreibändigen Biographie über Wilhelm II., 2008 fest, dass sich "die militärpolitische Besprechung jenes Sonntagvormittags reibungslos in einen Entscheidungsprozess einbetten" lasse, der 1914 in die Katastrophe führte. "Den Gegnern Fischers wäre es leichter gefallen, seine These von der Vertagung des Krieges zu widerlegen, wäre nicht der Weltkrieg just zu dem im Dezember 1912 anvisierten Zeitpunkt" herbeigeführt worden, unmittelbar nach dem Ausbau des Nord-Ostsee-Kanals (Kaiser-Wilhelm-Kanals) und auf dem Wege eines "Rassenkrieges" zwischen Österreich und Serbien.
Differenzierter urteilt Preußen-Kenner Christopher Clark jüngst in der Studie "The Sleepwalkers. How Europe went to war in 1914". Bethmann Hollwegs Bemerkung über den "Kriegsrat" sei "ironisch" gewesen, denn nicht auf den Kaiser, sondern auf den Kanzler sei es angekommen. Unmittelbare Folgen habe die Besprechung nicht gehabt, weil weder die von Moltke empfohlene Propagandaoffensive noch eine wirtschaftliche Vorbereitung auf einen Waffengang erfolgt sei. Das Treffen sei vielmehr eine "Episode" gewesen, und Wilhelm II. habe sich schon im Januar 1913 wieder beruhigt.
Rainer Blasius, "‚Je eher, je besser‘, meinte Moltke", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Dezember 2012
Militarismus in Europa
[…] Krieg war um 1913 zwar ein akzeptiertes Mittel der Politik, das aber keineswegs bedenkenlos ins Kalkül gezogen wurde […].
[…] Das Militär verfügte in den meisten europäischen Staaten über ein hohes Ansehen und diente als Vorbild für Jugendorganisationen. Staatliche Festakte kamen kaum ohne Militärparaden aus, Veteranenverbände hielten die Erinnerung an vergangene Kämpfe aufrecht. Gleichwohl lässt sich diese große Präsenz des Militärischen nicht einfach als Zustimmung zum Krieg werten. […]
Militärische Traditionsvereine, die häufig in die lokale Festkultur integriert waren, erinnerten an militärische Werte und die kriegerische Geschichte. Veteranen genossen vor allem in Deutschland und Frankreich ein hohes Ansehen. Auch wenn sie vor einem Krieg warnten, weil sie seine Schrecken kennengelernt hatten, verbreiteten sie populäre Kriegserzählungen. Daneben existierten zwar zahlreiche unabhängige Jugendverbände, die sich vom militaristischen Gedankengut distanzierten. Doch auch sie waren bereit, die Nation zu verteidigen, sollte es zu einem Krieg kommen. In der Tat gehörten große Teile der europäischen Jugend paramilitärischen Verbänden an. Der 1911 gegründete Jungdeutschlandbund erfreute sich der tatkräftigen Unterstützung der Armee. Er gab die "Jungdeutschland-Post" heraus, in der es 1913 hieß: "Still und tief im deutschen Herzen muß die Freude am Krieg und ein Sehnen nach ihm leben, weil wir der Feinde genug haben." Auch in Frankreich erfreuten sich die sociétés de préparation militaire staatlichen Beistands. Beide Staaten banden die Jugendorganisationen um 1910 bei offiziellen Festakten verstärkt ein. In Großbritannien gab es in public schools und Universitäten ein militärisches Training, das auch bei den 1908 vom britischen General Robert Baden-Powell gegründeten boy scouts eine Rolle spielte.
Solche Entwicklungen riefen Kritik hervor. 1913 wurde in Den Haag der "Friedenspalast" eingeweiht, in dem das auf den Haager Friedenskonferenzen ins Leben gerufene Schiedsgericht zur friedlichen Beilegung internationaler Konflikte seinen Sitz nahm. Die Konferenzen hatten 1899 und 1907 stattgefunden und waren von Ideen der Friedensbewegungen inspiriert worden. Norman Angell, Jan Bloch, Ludwig Quidde, Charles Richet und Bertha von Suttner bildeten die publizistische Speerspitze des Pazifismus. Sie widersprachen der Ansicht von Militaristen wie Friedrich von Bernhardi und Gustave Le Bon, der Krieg sei ein natürliches Phänomen und wirke sich positiv auf die Entwicklung der Menschen aus. Die Pazifisten betonten vielmehr seine fatalen Auswirkungen. […]
In den militärischen Planungen aller Großmächte wurde betont, dass der Krieg von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung unterstützt werden müsse – anders wäre ein moderner Volkskrieg nicht zu gewinnen. […] Die französische Regierung versuchte, für die großen Armeerüstungen von 1913 die Unterstützung breiter Bevölkerungsteile zu gewinnen, indem sie die Angst vor einem deutschen Überraschungsangriff, einer attaque brusquée, schürte. Da diese Kampagne in Wahrheit hauptsächlich innenpolitische Motive hatte – sie sollte die Exekutive stärken und richtete sich gegen die Linke –, trug sie eher zur gesellschaftlichen Spaltung als zur Versammlung der Öffentlichkeit hinter der Rüstungspolitik der Regierung bei. Zudem verschärfte sie den ohnehin erstarkenden Nationalismus und kräftigte die rechtsnationalen Verbände wie die Ligue d’Action française. In Deutschland hatten sich solche Verbände schon früher als gefährlich erwiesen. Sie forderten eine nationale Politik und agitierten offen für den Krieg, zur Not auch gegen die Reichsleitung. Daher war Kanzler Bethmann Hollweg äußerst zurückhaltend, 1913 eine Kampagne für die Aufrüstung zu entfesseln. Gleichwohl war der Geist aus der Flasche. Im Zuge der Rüstungsdebatte gründete sich der Deutsche Wehrverein, der zusammen mit dem Alldeutschen Verband oder dem Flottenverein (mit 1,1 Millionen Mitgliedern) und Teilen der Presse ins nationalistische Horn blies. In Großbritannien propagierten Navy League und National Service League (zusammen 300 000 Mitglieder) weitere Rüstungsanstrengungen und sorgten dafür, dass das Militär an Ansehen gewann. Waren manche dieser Verbände mit Billigung der Regierungen entstanden, wurde die Politik durch deren Agitation nun erheblich unter Druck gesetzt. Indem die nationalistischen Vereinigungen immer wieder die Notwendigkeit eines Krieges betonten, wollten sie die Kriegsbereitschaft erhöhen. Gegen eine solche bellizistische Stimmungsmache bezog vor allem die sozialistische und liberale Presse deutlich Position. […]
Christoph Nübel, "Bedingt kriegsbereit. Kriegserwartungen in Europa vor 1914", in: APuZ 12/2013, Seite 24 ff.
Die Vielzahl der Forschungen macht deutlich, dass es viele verschiedene Perspektiven auf die Entstehung des Ersten Weltkrieges gibt. Aus deutscher Sicht stellen sich die Dinge anders dar als aus serbischer; aus Sicht deutscher Sozialdemokraten anders als aus Sicht der britischen Liberalen; für Kaiser Wilhelm II. anders als für den russischen Zaren. Sobald man seinen Blickwinkel verändert, ergibt sich eine andere Perspektive. Es gibt also nicht die Geschichte vom Kriegsbeginn, dazu ist das ganze Phänomen zu kompliziert. Doch ist es möglich, einen Schuldigen zu benennen? Fritz Fischer ist es nicht gelungen nachzuweisen, dass Deutschland den Krieg seit 1912 bewusst geplant hat. Allerdings hätte Österreich-Ungarn ohne seinen mächtigen Bündnispartner nie gehandelt. Also ohne den deutschen "Blankoscheck" kein Erster Weltkrieg. Aber auch Russland hätte ohne Frankreich keinen Krieg mit Deutschland riskiert – also ohne die französischen Ermutigungen an St. Petersburg im Juli 1914 kein Erster Weltkrieg. Und Frankreich hätte wohl nicht so agiert, wenn es nicht sicher mit dem Eingreifen Großbritanniens gerechnet hätte. Und wenn Russland und Frankreich ihre Außenpolitik nicht an Serbien gebunden hätten – für das sie sich vor 1912 herzlich wenig interessiert hatten –, hätte der Brandherd auf dem Balkan niemals ganz Europa in Flammen setzen können. Und natürlich hätte die serbische Regierung das Attentat in Sarajevo verhindern können.
Jede der beteiligten Mächte hatte es im Juli 1914 in der Hand, ohne wesentlichen Ansehensverlust die Eskalation der Lage zu verhindern. Und wenngleich niemand einen Weltkrieg wollte, so spielten die Entscheidungsträger in den europäischen Hauptstädten doch mit dem Feuer. Sie waren wohl keine "Sleepwalkers" (engl. für Schlafwandler), wie Christopher Clark meinte, sondern Zocker. In ihrem riskanten Vabanquespiel war der Krieg für sie ein letztes Mittel der Politik.
Der Krieg war also das Ergebnis einer europäischen Krise, deren Ursachen mit dem Hochimperialismus, den sich immer weiter verschlechternden internationalen Beziehungen und schließlich den innenpolitischen und sozialen Krisen weit zurückreichten und an der alle ihren Anteil hatten. Eine besondere Rolle spielten dabei die Entscheidungsträger in den europäischen Hauptstädten – jeweils eine Gruppe von fünf bis zehn Personen (Monarchen, Kanzler, Außen- und Kriegsminister, Generalstabschefs) –, für die der Erhalt des Friedens keine Priorität besaß. Für Männer wie den deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, den österreichisch-ungarischen Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf, den russischen Außenminister Sergej Dmitrievicˇ Sazonov, den französischen Präsidenten Raymond Poincaré oder den britischen Außenminister Edward Grey war Krieg im Sommer 1914 gewiss nicht das einzige, aber doch ein legitimes, teilweise sogar ein wünschenswertes Instrument zur Verbesserung der außenpolitischen Lage. Geradezu fatal wirkte sich aus, dass jeder dem anderen unterstellte, ein Bösewicht zu sein. Niemand von den Entscheidungsträgern war willens, das eigene Handeln kritisch zu reflektieren und sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen. So blieb im Sommer 1914 nichts mehr von dem auf Konsens und Ausgleich angelegten Wiener System übrig, das 1815 nach dem Ende der Napoleonischen Kriege von den Großmächten etabliert worden war. So lautet zumindest eine Lesart, die einen Konflikt rückblickend als sehr wahrscheinlich erachtet.
Andere Interpretationen stellen dem internationalen Mächtesystem am Vorabend des Ersten Weltkrieges hingegen bessere Noten aus. Schließlich habe es 43 Jahre lang einen großen Krieg in Europa verhindert und dem Kontinent damit eine der längsten Friedensperioden seiner Geschichte beschert. Und wenn es im Juli 1914 nicht zum großen Knall gekommen wäre, so argumentieren manche, hätte Europa die Gefahrenzone hinter sich gelassen. Schließlich sei abzusehen gewesen, dass sich das deutsch-britische Verhältnis entspannt und das Verhältnis Großbritanniens und Frankreichs zu Russland merklich abgekühlt hätte. Die Karten wären also neu gemischt worden.
QuellentextEuropäische Bündnissysteme
Den Kern des europäischen Mächtesystems bildeten im 19. Jahrhundert die fünf Großmächte Großbritannien, Frankreich, Preußen-Deutschland, Österreich [seit 1867 Österreich-Ungarn] und Russland. Je nach Situation und Interessenlage gingen sie Allianzen ein, die zeitlich freilich begrenzt waren und deren Konstellationen sich rasch wieder verändern konnten. 1879 schlossen das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn den Zweibund ab und gingen damit zum ersten Mal ein langfristiges Bündnis ein, 1882 folgte ein Abkommen der beiden Länder mit dem Königreich Italien (Dreibund), 1894 schlossen Frankreich und Russland eine politisch-militärische Allianz. An den Grundkonstellationen der internationalen Beziehungen änderte dies noch wenig, da es sich um Defensivbündnisse handelte, die nur wirksam wurden, falls ein Partner von einer dritten Partei angegriffen wurde.
In den 1890er-Jahren begannen sich die internationalen Beziehungen jedoch grundlegend zu wandeln. Der Hochimperialismus infiltrierte zunehmend die öffentliche Meinung und die Politik der Großmächte. Sozialdarwinismus, übersteigertes Prestigedenken und überschäumender Nationalismus nährten überall in Europa die Vorstellung, in einem erbarmungslosen Wettkampf zu stehen, in dem sich nur der Stärkste würde behaupten können. Die Idee der friedlichen Koexistenz fand immer weniger Befürworter, bald gab es nur noch Freund oder Feind.
Großbritannien, das sich im 19. Jahrhundert traditionell von längerfristigen Bündnissen ferngehalten hatte, gab seine bisherige Politik der selbstgewählten diplomatischen Isolation auf und schloss zwischen 1902 und 1907 eine Reihe von Allianzen, um sein von allen Seiten bedrohtes Empire abzusichern. Den Auftakt markierte 1902 ein Pakt mit Japan, um die Position gegenüber dem Angstgegner Russland zu stärken. 1904 räumten Großbritannien und Frankreich ihre Streitigkeiten in Afrika aus, über die es 1898 fast zum Krieg gekommen war. Dieses Übereinkommen war mehr als nur ein Vertrag über die Abgrenzung kolonialer Einflusszonen. Er wurde schon damals als Entente cordiale bezeichnet, ein Begriff, der den Nagel auf den Kopf traf. Denn Großbritannien und Frankreich rückten fortan immer näher zusammen. Es gab geheime Militärplanungen und politische Absprachen. Obwohl London formal nicht an Paris gebunden war, entwickelte sich die Entente cordiale de facto zu einem richtigen Bündnis. Der Kriegseintritt auf Seiten Frankreichs am 4. August 1914 war eine logische Folge. Befördert wurde diese Entwicklung durch das immer unruhiger und taktloser agierende Deutsche Reich, das lautstark seine Rolle als neue Weltmacht einforderte.
1907 schloss London dann auch mit St. Petersburg einen Vertrag über den Interessenausgleich im Mittleren Osten, vor allem in Persien. Das Abkommen führte Großbritannien an das französisch-russische Bündnis heran. Erneut gab es zwischen den drei Ländern zwar keine formale Übereinkunft, gleichwohl aber die Überzeugung, in internationalen Fragen möglichst gemeinsam zu handeln und vor allem den Zweibund zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn in Schach zu halten. De facto war 1907 also eine Triple Entente entstanden.
Als Folge der Krise um die Annexion der bis dahin völkerrechtlich zum Osmanischen Reich gehörenden Gebiete von Bosnien und Herzegowina durch Österreich-Ungarn 1908 und infolge der beiden Balkankriege 1912/13 (s. a. Karte IV) festigte sich die Loyalität unter den Bündnispartnern immer mehr. Aus anfangs eher losen Defensivbündnissen und Kolonialverträgen formten sich zwei Blöcke – hier die Triple Entente, dort der Zweibund –, die am Vorabend des Ersten Weltkrieges wie Antipoden gegenüberstanden. Das internationale System hatte seine Flexibilität verloren. (siehe a. kl. Karte I)
Letztlich wissen wir nicht, wie die Geschichte weitergegangen wäre, wenn der Attentäter Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 in Sarajevo danebengeschossen hätte. Die Geschichtsschreibung kann nur Plausibilitäten aufzeigen. Die europäischen Mächte waren im "langen 19. Jahrhundert", also in der Zeit von 1789 bis 1914, vor allem damit beschäftigt gewesen, Krieg in Übersee zu führen und die Welt in Besitz zu nehmen. Als der Globus aufgeteilt war, richtete sich die Aufmerksamkeit ab 1912 wieder auf Europa. Dass es nur zwei Jahre später zum Ersten Weltkrieg kam, kann im Rückblick eigentlich kaum überraschen, denn Krieg war nach wie vor ein akzeptiertes Mittel der Politik. Und wenn von Kriegen die Rede war, dachte niemand mehr an die verheerenden Kämpfe gegen Napoleon 1805 bis 1815, sondern an die kurzen Feldzüge von 1859, 1866 und 1870/71. Und so erschien es doch wahrscheinlich, dass die Spannungen der Großmächte über kurz oder lang zu einem großen Krieg führen konnten.
Situation vor dem Zweiten Weltkrieg
Nur 25 Jahre nach dem Ersten begann der Zweite Weltkrieg. Die eigentliche Wegscheide zwischen der Nachkriegszeit des Ersten und der Vorkriegszeit des Zweiten Weltkrieges war die seit 1929 grassierende Weltwirtschaftskrise. Sie führte zu gewaltigen ökonomischen und auch politischen Umwälzungen, die binnen weniger Jahre die Pariser Friedensordnung von 1919/20 auflösten, die den Ersten Weltkrieg beendet hatte. Mehr als jedes andere Ereignis veränderte die Wirtschaftskrise die Rahmenbedingungen, sodass die gewaltorientierte Expansionspolitik einzelner Staaten erfolgversprechend und die Entfesselung eines neuen großen Krieges möglich wurde. Der enorme Rückgang von Produktion und Welthandel führte zu hoher Arbeitslosigkeit und innenpolitischer Destabilisierung. Die Regierungen hatten keine Erfahrung zur Lösung einer derart einschneidenden Krise und flüchteten in den Protektionismus, also in den Schutz der eigenen Wirtschaft.
National-egoistische Versuche der Krisenbewältigung verringerten die Handlungsspielräume des internationalen Systems und verstärkten vor allem in den USA die Tendenz zum Isolationismus. Man schottete sich vom Ausland ab, hielt sich weitgehend von internationalen Verpflichtungen fern und konzentrierte sich auf die innerstaatlichen Eigeninteressen. Die gleichzeitig wachsende Entfremdung zwischen Paris und London schwächte beide Länder als Garantiemächte der Versailler Ordnung. Den immer schärfer vorgetragenen Revisionswünschen der Staaten, die sich als Verlierer des Ersten Weltkrieges empfanden – allen voran Deutschland, Italien und Japan – konnte man immer weniger entgegensetzen. Opfer dieser Politik waren kleine Staaten wie Österreich, die Tschechoslowakei oder Albanien, nicht selten selbst von Revisionsansprüchen geleitet, die sich auf das System der kollektiven Sicherheit verlassen hatten. Sie erlebten nun dessen Zusammenbruch, wie er sich in der dramatischen Einflusslosigkeit des 1920 gegründeten Völkerbundes und des Scheiterns der Genfer Abrüstungskonferenzen Anfang der 1930er-Jahre ankündigte.
Zwischenstaatliche Übergriffe in Asien, Afrika und Europa
Das erste Opfer der neuen Instabilität war die zu China gehörige Mandschurei, die japanische Truppen im September 1931 besetzten. Dieses Ereignis war nicht zuletzt deshalb von besonderer Bedeutung, weil die chinesischen Proteste gegen die gewaltsame Besetzung eines Gebietes von der Größe der heutigen Türkei ungehört verhallten. Die Ohnmacht des Völkerbundes hätte deutlicher kaum demonstriert werden können.
Die Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten. Spätestens seit 1935 kam es zu einer spürbaren Verdichtung zwischenstaatlicher Gewalt in Europa, Asien und Afrika. Zu erwähnen sind die Überfälle Italiens auf Abessinien (heute: Äthiopien, siehe auch Seite 14) 1935 und auf Albanien im April 1939, der erneute Angriff Japans auf China 1937 sowie die von deutscher Seite unter Bruch geltender Verträge durchgeführte kampflose Besetzung des entmilitarisierten Rheinlandes (1936), Österreichs (März 1938), des Sudetenlandes (Oktober 1938) und des tschechischen Reststaates (März 1939) (siehe a. Karte III).
QuellentextAbessinienkrieg 1935/36
Massentod durch entfesselte Kriegsgewalt und Verfolgungsterror, durch die der Soziologe Wolfgang Sofsky das 20. Jahrhundert geprägt sieht, bestimmten auch die Geschichte Äthiopiens während der italienischen Fremdherrschaft. Italienischem Angriffskrieg und Besatzungsregime fielen von 1935 bis 1941 zwischen 350 000 und 760 000 der rund 10 Millionen Abessinier zum Opfer, wobei anzumerken ist, dass sich wegen fehlender statistischer Daten die genaue Opferzahl nie präzise wird ermitteln lassen. […] Tatsächlich wurde das zentrale Hochplateau Äthiopiens seit dem 3. Oktober 1935 zum Schauplatz des ersten kriegsbedingten Massensterbens seit der Gründung des Völkerbunds, dessen Mitgliedstaaten sich feierlich verpflichtet hatten, Konflikte untereinander mit friedlichen Mitteln beizulegen. […]
Mitte Dezember gingen Einheiten des kaiserlichen Nordheeres zu einer Gegenoffensive über und brachten die italienischen Streitkräfte zeitweise in arge Bedrängnis. Diese mussten viele ihrer Vorposten räumen, sich aus ganzen Ortschaften zurückziehen und von ihnen kontrollierte Pässe wieder aufgeben. […]
In dieser Situation kam es zur Entgrenzung des Krieges. Um den äthiopischen Vormarsch zu stoppen, entschieden sich "Duce" und Oberkommando für einen chemischen Krieg großen Stils. Am 22. Dezember wurden an der Nordfront erstmals Yperit-Bomben zum Einsatz gebracht, als Einheiten von Ras Immirù gerade im Begriff waren, den Takazze-Fluss zu überqueren. […]
Der wohl eindrücklichste Augenzeugenbericht aus äthiopischer Sicht stammt von Ras Immirù, der einen der ersten Angriffe mit knapper Not überlebt hatte: "[…] Es war der Morgen des 23. Dezember, und ich hatte eben den Takazze durchquert, als am Himmel einige Flugzeuge auftauchten. […] Diesen Morgen […] warfen sie keine Bomben ab, sondern merkwürdige Fässer, die, sobald sie den Erdboden oder das Wasser des Flusses berührten, zerbarsten und eine farblose Flüssigkeit in der Umgebung freisetzten. Bevor ich mir bewusst machen konnte, was da geschah, waren einige hundert meiner Männer durch die mysteriöse Flüssigkeit kontaminiert und schrien vor Schmerz, während sich ihre blossen Füsse, Hände und Gesichter mit Blasen bedeckten. Andere, die ihren Durst am Fluss gestillt hatten, wanden sich in einem Todeskampf, der Stunden dauerte, am Boden. Unter den Opfern befanden sich auch Bauern, die ihre Herden am Fluss getränkt hatten, und Leute aus benachbarten Dörfern. Meine Unterführer hatten sich inzwischen um mich geschart und fragten mich um Rat; aber ich war wie betäubt, sodass ich nicht wusste, was ich antworten sollte; ich war ratlos, wie man diesen Regen, der Brandverletzungen verursachte und tötete, bekämpfen konnte." […]
Schon in kleinsten Konzentrationen wirkt Yperit, besser bekannt unter seinem Namen Senfgas (oder englisch: "mustard gas"), tödlich. Im Juli 1917 von der kaiserlich-deutschen Feldartillerie erstmals gegen britische Einheiten in Form von Granaten nahe des belgischen Ypern abgefeuert, war es in der Mitte der dreißiger Jahre der am stärksten toxische unter allen damals bekannten Kampfstoffen. […] Insgesamt setzten die italienischen Streitkräfte während der heißen Phase des Krieges rund 300 Tonnen chemische Kampfstoffe ein. […]
Begünstigt wurde die Anwendung chemischer Waffen durch fünf Faktoren: erstens durch den politischen und militärischen Willen zur Entgrenzung des Krieges; zweitens durch die Tatsache, dass Abessinien keinen chemischen Gegenschlag führen konnte; drittens durch die gleichgültige Haltung des Völkerbunds und der Westmächte; viertens durch die große Gefechtsfelddistanz zwischen Bomberpiloten und ihren Opfern, durch das, was Wolfgang Sofsky "einseitiges Töten aus Distanz" genannt hat, und fünftens durch den unter den Invasoren grassierenden Rassismus, der in der Regia Aeronautica – jener Teilstreitkraft, die von allen Truppengattungen am stärksten von "faschistischem Geist" durchdrungen war – besonders ausgeprägt war. […]
Aram Mattioli, "Entgrenzte Kriegsgewalt. Der italienische Giftgaseinsatz in Abessinien 1935–1936", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3/2003, Seite 311 ff.
Von der Rheinlandbesetzung abgesehen, ging es bei all diesen Gewaltakten um mehr als bloße Revisionspolitik. Vielmehr zielten sie darauf ab, dem eigenen Land durch Eroberung kolonialer Ergänzungsräume oder durch Ausweitung des Kernstaates für künftige kriegerische Auseinandersetzungen eine günstige geostrategische Ausgangslage zu verschaffen. Diese Tendenzen schienen den Westmächten umso bedrohlicher, als sich damit eine gefährliche Verknüpfung der Krisenregionen Ostasiens, des Mittelmeerraumes und Mitteleuropas ergab, der die Großmächte Großbritannien und Frankreich immer weniger zu begegnen vermochten.
Schulterschluss der Expansionsmächte
Die Revisions- und Expansionsmächte demonstrierten hingegen immer wieder demonstrativ den Schulterschluss miteinander: Dies gilt für die Achse Berlin – Rom, die sich im Verlaufe des Abessinienkrieges und des Spanischen Bürgerkrieges herausbildete ebenso wie für den Antikomintern-Pakt, der 1936 zunächst zwischen Deutschland und Japan geschlossen und später um Italien und andere Mächte erweitert wurde, sowie für den deutsch-italienischen "Stahlpakt" vom Mai 1939. Obwohl, wie wir heute wissen, diese Abkommen weniger Ausdruck substanzieller politischer Gemeinsamkeiten waren als vielmehr pompöse Propagandafassaden, ergab sich aus dem Zusammenrücken der großen nationalistisch-expansionistischen Diktaturen in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre ein für die liberalen Demokratien Europas zunehmend beängstigendes Szenario. Italien – einst eifrige Kontrollmacht der Pariser Ordnung von 1919/20 – hatte sich auf die Seite Deutschlands gestellt, im Spanischen Bürgerkrieg drohte der Sieg der Faschisten unter Führung General Francisco Francos, und in Südosteuropa gerieten die meist autoritär regierten Klein- und Mittelstaaten immer mehr in den Sog des Deutschen Reiches.
Unterschiede in der Ausgangssituation 1914 und 1939
Die entscheidende Voraussetzung für den Zweiten Weltkrieg war somit ebenfalls eine Krise des internationalen Systems. Doch anders als 1914 gab es Anfang der 1930er-Jahre Großmächte, die vom Wunsch nach Expansion getrieben waren und einen Eroberungskrieg minutiös vorbereiteten. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges hatte es noch nicht einmal konkrete Ziele gegeben. Erst als die ersten Schlachten geschlagen waren, begannen allerorten die Planungen, was man denn überhaupt erreichen wollte. Hierbei gab es gewiss auch radikale Gedankenspiele, in denen mancher bereits eine Neuordnung Europas in Hitler´schen Dimensionen durchexerzierte. Man denke nur an die Schriften des rechtsextremen Alldeutschen Verbandes, einer 1891 gegründeten überparteilichen Bewegung, die radikal nationalistische Ziele verfolgte. Doch solche Vorstellungen waren nicht politikfähig – und zwar nicht nur in Deutschland. Die europäischen Kabinette wollten ihre Feinde, genauso wie es im 18. und 19. Jahrhundert üblich gewesen war, zwar nachhaltig schwächen und manche Grenze neu ziehen, es galt aber die politische Ordnung Europas im Wesentlichen beizubehalten.
Im Zweiten Weltkrieg hingegen traten die Revisionsmächte an, die Staatenordnung auf den Kopf zu stellen. Dabei kam Deutschland die wichtigste Rolle zu. Zum einen, weil das Kriegsziel der "rassischen" Neuordnung Europas am radikalsten war. Zum anderen, weil der im September 1939 von Hitler entfesselte Krieg die entscheidende Voraussetzung war, um die lokalen, nicht miteinander in Verbindung stehenden Konfliktherde in Europa, Afrika und Asien zu einen weltumspannenden Krieg zu verbinden. Keine andere Macht, weder Japan noch Italien und auch nicht die Sowjetunion, hätte alleine einen Krieg gegen eine andere Großmacht begonnen. Nur Hitler war notfalls bereit, alles auf eine Karte zu setzen, und so führte er den Kampf fort, auch nachdem Großbritannien und Frankreich ihm den Krieg erklärt hatten. Der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt musste sich noch aus dem Konflikt heraushalten, weil die Öffentlichkeit in den USA kein Interesse an einem Engagement in Europa hatte. Erst nach seiner dritten Wiederwahl im November 1940 konnte er das Land auf einen Kriegseintritt vorbereiten. Italien erklärte sich für "nicht kriegführend" und trat nur aufgrund der unerwarteten deutschen Erfolge am 10. Juni 1940 in den Konflikt ein, womit sich der Kampf auf den Mittelmeerraum und Afrika ausdehnte. Gleiches gilt für Japan, dessen südostasiatische Expansionspolitik ohne die Niederlagen der Westmächte 1940 kaum vorstellbar gewesen wäre. Und auch Stalin nutzte die Gunst der Stunde, um 1939/40 Ostpolen, Finnland, die drei baltischen Staaten und Bessarabien zu besetzen.
Die internationale Lage stellte sich 1939 also durchaus anders dar als 1914, als es weder so radikale Kriegsziele noch einen so unbändig zum Krieg entschlossenen Diktator gab. Unvermeidbar war freilich keiner der beiden Kriege. Etwas mehr Flexibilität des internationalen Systems hätte den Ersten leicht verhindern können. Die Abkehr von der Appeasementpolitik und ein entschlosseneres Handeln von Briten und Franzosen – beispielsweise bei der Rheinlandbesetzung 1936, mit der Deutschland den Locarno-Vertrag von 1925 brach – hätte Hitlers aggressiver Außenpolitik schnell ein Ende bereiten können. Doch aus heutiger Sicht ist es allzu leicht, alternative Szenarien zu entwickeln. Angesichts der damaligen Prämissen musste den politischen Akteuren der Jahre 1914 oder 1936 ihr Handeln schlüssig erscheinen.
Erst mit der sogenannten Zerschlagung der Tschechoslowakei im März 1939 erkannten die Westmächte schließlich, dass mit Hitler keine Verständigung möglich war, und bereiteten sich auf einen Krieg vor. Als die Wehrmacht am 1. September 1939 Polen überfiel, machten sie Ernst und erklärten – wie angedroht – Deutschland zwei Tage später den Krieg. Großbritannien war nicht länger bereit zuzusehen, wie die Landkarte Europas mit Gewalt neu gestaltet wurde. Es folgte damit seinem traditionellen Kalkül, sich in einem kontinentalen Krieg gegen den potenziellen Hegemon zu stellen. Um Weltanschauungen ging es den Briten und Franzosen Anfang September 1939 also nicht. Kaum jemand konnte sich zu diesem Zeitpunkt vorstellen, welch radikale Pläne NS-Deutschland verfolgte. Und auch jetzt hätte alles noch ganz anders kommen können: Wenn der schwäbische Schreinergeselle Georg Elser am Abend des 8. November 1939 mit seinem Attentat auf Adolf Hitler in München genauso viel Glück gehabt hätte wie Gavrilo Princip 25 Jahre zuvor in Sarajevo – der Zweite Weltkrieg wäre womöglich zu Ende gewesen, noch bevor er richtig begann.