Lange ist die Geschichte der Weimarer Republik vor allem als eine Geschichte des Scheiterns interpretiert worden. Seit einiger Zeit gewinnen differenziertere Sichtweisen an Bedeutung, die die erste deutsche Demokratie nicht nur von ihrem Ende her in den Blick nehmen. Die 100. Jahrestage der Novemberrevolution und der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung 2018/19 haben mit einer Fülle von Veranstaltungen und Publikationen nicht nur die Errungenschaften der "vergessenen Revolution" (Alexander Gallus) wieder in ein helleres Licht treten lassen, auch das Potenzial der Verfassung hat eine neue Würdigung erfahren.
Vorbildcharakter der Weimarer Verfassung
In der Verfassunggebenden Nationalversammlung hatten gewählte Volksvertreterinnen und -vertreter in freier Entscheidung die politische Ordnung bestimmt. Das Deutsche Reich war fortan eine Republik. Als einer der ersten europäischen Staaten führte es das Frauenwahlrecht ein. Es galt eine allgemeine Schulpflicht für acht Jahre. Der Abschnitt der Verfassung über das Wirtschaftsleben begann mit der Feststellung: "Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern" (Art. 151 Abs. 1 Satz 1 und 2). Wirtschaftliche Freiheit und menschenwürdiges Dasein erhielten gleichermaßen Verfassungsrang.
Verfassungsrang bekam auch die in einem späteren Artikel ausdrücklich gewürdigte Sozialpartnerschaft. Der Schutz der Arbeitskraft war hier ebenso verankert wie der Anspruch auf menschenwürdiges Wohnen. Dazu bestimmte Artikel 155 Absatz 2 Satz 1: "Grundbesitz, dessen Erwerb zur Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses, zur Förderung der Siedlung und Urbarmachung oder zur Hebung der Landwirtschaft nötig ist, kann enteignet werden." Auch die Überführung von Wirtschaftsunternehmen in Gemeineigentum sollte möglich sein.
Den vielen Arbeiter- und Soldatenräten, die sich bei Kriegsende gebildet hatten, kam in der Übergangszeit zwischen Kaiserreich und Republik die Rolle einer Ordnungsmacht zu. Die Debatte über die Errichtung einer Räterepublik versiegte dagegen bald, fand ihren Niederschlag aber in der Reichsverfassung in dem umfangreichen Artikel 165, der weitreichende Regelungen zur betrieblichen Mitbestimmung enthielt.
Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Angestellte sollten durch Betriebsarbeiterräte "gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte" mitwirken. Hier liegt die Wurzel für die lange Tradition der betrieblichen Mitbestimmung in Deutschland, die dann 1951 mit dem Montan-Mitbestimmungsgesetz zwar erneut nicht zu Sozialisierungen, wohl aber zu besonders weitreichenden Mitwirkungsmöglichkeiten der Arbeitnehmerseite in diesem wichtigen Industriebereich geführt hat.
Der Erste Weltkrieg war "die Initialzündung der modernen Massendemokratie" (Tim B. Müller). Millionen von Soldaten, die zumeist der Arbeiterklasse entstammten und vier Jahre lang für das Land gekämpft hatten, sowie ihre Frauen, von denen viele in den Rüstungsfabriken Schwerstarbeit geleistet hatten, konnten nicht länger von der politischen Teilhabe ferngehalten werden. Der erste Artikel der neuen Verfassung lautete: "Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus." Das hatte durchaus etwas Revolutionäres in einer Zeit, in der die meisten europäischen Staaten noch Monarchien waren.
Als die Weimarer Reichsverfassung verabschiedet wurde, sagte der Reichsinnenminister Eduard David (SPD), Deutschland sei "die demokratischste Demokratie der Welt". Tatsächlich diente die deutsche Verfassung damals vielen Ländern inner- und außerhalb Europas als Vorbild. Und auch das Grundgesetz von 1949 ist viel stärker von der Weimarer Reichsverfassung geprägt, als es der Buchtitel des Schweizer Publizisten Fritz René Allemann "Bonn ist nicht Weimar" von 1956 vermuten lässt, der für manche zur Beschwörungsformel wurde, um die Geister der Vergangenheit abzuwehren.
Problempunkte
Deutschland war seit der erzwungenen Abdankung von Kaiser Wilhelm II. eine Republik. Allerdings wurde der Reichspräsident durch die neue Verfassung mit einer starken Position ausgestattet, die der eines Monarchen nicht unähnlich war. Das wurde ab 1925 zunehmend zum Problem. Während Friedrich Ebert sich bemüht hatte, der Demokratie zu dienen, interpretierte der Monarchist Paul von Hindenburg seine ohnehin starke Stellung expansiv. So mischte er sich immer wieder in die Außenpolitik ein, drängte die SPD massiv aus der Regierungsverantwortung und machte vom Mittel der Notverordnung inflationär Gebrauch. Ab 1930 war das Parlament de facto ausgeschaltet, der "Machtdualismus" (Detlev Peukert) von Reichstag und Reichpräsident funktionierte nicht mehr, die Gewaltenteilung wurde suspendiert zugunsten einer zunehmend autoritären Lösung.
Lag es nun an der Verfassung oder an den damals lebenden Menschen, dass die Geschichte der Weimarer Republik kein besseres Ende nahm? Darüber wird bis heute immer wieder neu diskutiert. Von dem früheren Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde stammt der viel zitierte Satz: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann". Die in der Verfassung verankerte Demokratie kann sich nicht auf Dauer behaupten, wenn eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ihr feindlich gegenübersteht.
Am Ende dominierten im Deutschen Reichstag die Feinde der 1919 in Weimar geschaffenen Verfassungsordnung. Die einzige politische Kraft, die sich ihnen bis zuletzt entgegenstellte, war die Sozialdemokratie.
Aber sie allein war nicht stark genug. Der Politikwissenschaftler Michael Dreyer betont in diesem Zusammenhang, dass "primär die Eliten und nicht das Volk versagt haben". Wobei die Eliten im Kampf gegen die Beseitigung der Demokratie nicht nur versagt, sondern die Beseitigung mit herbeigeführt haben. Der Kurzzeit-Reichskanzler Franz von Papen spielte bei dem "Staatsstreich auf Raten" (Michael Dreyer) eine tragende Rolle.
Er hat mitgeholfen, Adolf Hitler und den Nationalsozialisten den Weg zur Macht zu öffnen, obwohl er weder Antisemit noch Nationalsozialist war. Unter der Maßgabe, dass nicht nur die Eliten, sondern auch das Volk aus mündigen Bürgerinnen und Bürgern besteht, haben auch die Menschen versagt, die ab 1930 in Massen zur NSDAP übergelaufen sind.
Lehren aus Weimar
Lehren aus Weimar (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 52 950)
Lehren aus Weimar (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 52 950)
QuellentextWas bringt der Vergleich der deutschen Gegenwart mit der Weimarer Republik?
Interview mit dem Historiker Martin Sabrow
[…] Wir haben ja eine Konjunktur der schiefen Vergleiche mit den Zwanziger Jahren. Beim Mord an Walter Lübcke im Frühjahr 2019 wurde sofort wieder an Erzberger und Rathenau erinnert. Was nützen solche Vergleiche?
Der Vergleich ist eine der wichtigsten sinnweltlichen Operationen, um die eigene Lage zu begreifen. Die Vergangenheit stellt in unserer Zeit zudem eine entscheidende Ressource unserer Selbstverständigung und auch der Identitätsbildung dar.
Aber der historische Vergleich wird schnell auch trügerisch. Geschichte wiederholt sich nicht. Sie kann es schon deshalb nicht, weil die Zeitgenossen vor 100 Jahren sich auch wieder an einem anderen historischen Beispiel orientiert haben.
Jeder Vergleich hinkt, aber er kann immer auch Orientierung bieten, wenn er nicht platt als historische Instruktion und Lehrbeispiel verstanden wird. Die Gefahr besteht darin, dass Geschichte gerade in unserer Zeit immer stärker als Spiegel der Gegenwart begriffen wird.
Was bedeutet das für die Weimar-Vergleiche?
Auf einer sehr abstrakten Ebene ist der Vergleich mit den Zwanziger Jahren so aktuell wie plausibel: Demokratie ist keine feste Burg. Sie ist fragil, sie kann sehr schnell den Boden der gesellschaftlichen Akzeptanz verlieren. Diese Erkenntnis ist mit der allmählichen politisch-kulturellen Festigung der Bundesrepublik in den Hintergrund getreten. Spätestens mit der Vereinigung beider deutscher Staaten 1990 war sie verschwunden. Stattdessen galt auch für den demokratischen Rechtsstaat, den Überraschungssieger der Systemkonkurrenz des 20. Jahrhunderts, die Unschlagbarkeitsvermutung […].
Man kann ja in Deutschland über die Krise der Demokratie nicht ohne den Weimar-Vergleich sprechen.
Das stimmt. Wenn wir aber konkret werden, zeigen sich eklatante Unterschiede zwischen heute und der Zeit vor 100 Jahren. Das beginnt mit den wirtschaftlichen Verhältnissen und den globalen Verflechtungen des Nationalstaats. Die sozialen Schichtungen sind heute sind nicht mehr die der Weimarer Republik. Die Bundesrepublik ist von einer demokratisch denkenden Mittelschicht getragen, die sich universalen Werten verpflichtet sieht.
Wir haben nicht mehr drei Gesellschaftsordnungen, die miteinander konkurrieren – Kommunismus, Faschismus und liberaldemokratischer Rechtsstaat. [...] Der Rechtsradikalismus heute [Januar 2020] trägt keine messianischen Züge, er hat keine Visionen, und seine politische Praxis konzentriert sich auf die schadenfrohe Nörgelei und die unablässige Provokation des vermeintlichen Establishments, auf dessen Empörung er angewiesen ist, um Aufmerksamkeit zu erzielen.
Wer gehört alles zu diesem Establishment?
Von der CSU bis zur Linkspartei beobachten wir gegenwärtig eine einigermaßen homogene politische Kultur. Darin liegt ein fundamentaler Unterschied zu den Verhältnissen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. […] Der unreflektiert verwendete Weimar-Vergleich kann auch zum alarmistischen Problemverstärker werden, der die Gefahr noch schürt, die er abwehren will. […].
Der Weg der 1930er Jahre führte von Weimar nach Buchenwald, der Weg der 2020er Jahre vielleicht in eine andauernde Auseinandersetzung zwischen liberaler und illiberaler Demokratie – nicht schön, aber nicht dasselbe. Suggestiv verwendete Vergleiche bergen die Gefahr, dass wir die entschiedene Gelassenheit verlieren, die am ehesten dafür sorgen kann, dass der Rechtspopulismus wieder in der Bedeutungslosigkeit versinkt. […]
Martin Sabrow ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Berliner Humboldt-Uni und leitet das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
"Die Zwanziger Jahre sind ein im Nachhinein geschaffener Mythos", Interview von Jan Sternberg mit Martin Sabrow, in: RND RedaktionsNetzwerk Deutschland vom 2. Januar 2020
Bei der Formulierung des Grundgesetzes von 1949 wurde versucht, aus den "Lehren von Weimar" Konsequenzen zu ziehen. Das Grundgesetz schuf den Rahmen für eine funktionstüchtige parlamentarische Demokratie. Sie war und ist nach ihrem Selbstverständnis keine neutrale, sondern eine wehrhafte Demokratie, die sich der Devise "Keine Freiheit den Feinden der Freiheit" verpflichtet weiß. Die Verfassung wird nicht nur durch ein eigenes Bundesamt geschützt, sondern vor allem auch durch ein eigenes Gericht. Das Bundesverfassungsgericht hat eine außerordentlich starke Stellung, es ist das höchste deutsche Gericht und kann Handlungen und Entscheidungen aller Ebenen der Exekutive aufheben. Seine Entscheidungen sind unanfechtbar. Eine vergleichbare Instanz gab es in der Weimarer Republik nicht.
Der Bundespräsident hat demgegenüber vornehmlich eine repräsentative Rolle und ist mit wenigen exekutiven Kompetenzen ausgestattet.
Der Bundeskanzler wird vom Bundestag gewählt und kann nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt werden. Eine Abwahl durch eine negative Mehrheit ist nicht möglich. Solche Ideen gab es auch schon vor 1933, durchgesetzt haben sie sich damals nicht.
Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ist auch deshalb besonders geschützt, weil die im Grundgesetz verankerten Grundrechte unmittelbar geltendes Recht sind. Sie binden Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. Sie sind Rechte der Bürgerinnen und Bürger und schützen diese vor staatlicher Willkür. Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes garantiert, dass die Grundrechte der Staatsbürger auch im Wege der Verfassungsänderung nicht angetastet werden können. Eine Suspendierung der Grundrechte, wie sie in der Weimarer Republik durch Notverordnungen des Reichspräsidenten immer wieder vorkam und dann durch das "Ermächtigungsgesetz" vom 1933 zum Dauerzustand wurde, sollte es nie wieder geben. Das ist zweifellos ein bedeutender Fortschritt.
Die zweite Demokratie auf deutschen Boden ist unter sehr viel besseren Umständen zustande gekommen als die erste, was vor allem damit zusammenhing, dass die Sieger des Zweiten Weltkriegs mit dem besiegten Land völlig anders umgingen als es nach dem Ersten Weltkrieg der Fall war. Das sollte aber nicht dazu führen, das, was in den Jahren der Weimarer Republik geleistet und erreicht worden, gering zu schätzen.
Die Weimarer Republik ist ein zentraler Abschnitt der deutschen Demokratie- und Freiheitsgeschichte. Und die Weimarer Reichsverfassung von 1919 ist Teil einer Traditionslinie, die wie auch das Grundgesetz von 1949 auf die Paulskirchenverfassung, die erste demokratische Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849, zurückreicht. Anders als nach dem Ersten war Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als vier Jahrzehnte lang geteilt. Seit dem 3. Oktober 1990 ist das am 23. Mai 1949 verabschiedete Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland die Grundlage für das Zusammenleben aller Deutschen in Frieden und Freiheit.