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Die EP-Wahlen 2019 als Richtungswahlen

Nicolai von Ondarza Felix Schenuit Nicolai von Ondarza und Felix Schenuit

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Was verbinden die Menschen mit Europa? Welche Hoffnungen und Erwartungen setzen sie in die Institutionen der EU, die, nicht zuletzt angesichts des Brexit, in der härtesten Bewährungsprobe ihrer Geschichte steckt? Zeit für Zukunftsszenarien.

Blick in den gut gefüllten Plenarsaal des Europaparlaments in Straßburg im Februar 2017. (© European Union 2017 Source: EP/Fred MARVAUX)

Die bevorstehenden Wahlen finden in einer herausfordernden politischen Situation statt. Zunächst steht kurz vor der Wahl voraussichtlich der Brexit bevor. Damit verkleinert sich das europäische Integrationsprojekt zum ersten Mal um einen Mitgliedstaat. Die Aushandlungsprozesse des Brexits haben auch in den verbleibenden EU-27 die Frage aufgeworfen, was für eine Europäische Union sich die Bürgerinnen und Bürger zukünftig wünschen.

Das nächste Europäische Parlament wird mitbestimmen über die Führung der EU-Kommission, den jährlichen und langfristigen EU-Haushalt, die Regulierung des Binnenmarkts, die Energie- und Klimapolitik, die Zukunft der EU Asyl- und Migrationspolitik und viele weitere Themen.

Die Zusammensetzung des kommenden Europäischen Parlaments wird widerspiegeln, wie groß die Unterstützung für EU-skeptische Parteien europaweit ist. Sollte der Fall eintreten, dass EU-skeptische Parteien stärker zusammenarbeiten und Sozialdemokraten und Christdemokraten Sitze verlieren, sind einige Veränderungen in den klassischen Arbeitsabläufen des EP und der Ausrichtungen seiner Entscheidungen zu erwarten. Die Wahlen sind daher nicht nur als wichtiger Stimmungstest für die zukünftige EU-Integration zu sehen, sie haben auch das Potenzial, zunächst das Parlament und darüber schließlich auch das Gesamtgefüge der EU-Institutionen in Zukunft maßgeblich zu verändern.

QuellentextEin neuer Aufbruch für Europa

[…] Die EU ist eine politische Superstruktur, die auf dem Fundament nationaler repräsentativer Demokratien steht. Es sollte nicht überraschen, dass die politischen Umbrüche in vielen europäischen Staaten auch die Grundpfeiler der EU ins Wanken bringen.

Die Gründung der EU wurde durch einen "permissiven Konsens" unter den Volksparteien des Kontinents ermöglicht. Heute ist die politische Landschaft in den einzelnen Mitgliedstaaten jedoch weitaus fragmentierter. Die großen Parteien sehen sich von neuen Kräften bedrängt, die den traditionellen Wettkampf zwischen links und rechts zu einem Wettkampf zwischen Volk und Elite umdeuten. Dafür gibt es viele Gründe. Wirtschaften und Gesellschaften werden vielfältiger und zugleich zerklüfteter; digitale Entwicklungen begünstigen die Bildung von Echokammern statt die nationaler Kulturen, und die wachsende Ungleichheit spaltet die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer, was den politischen Prozess zu einem Wettstreit um größere Teile eines kleiner werdenden Kuchens degradiert. Nicht zuletzt deshalb wurden die Kämpfe um Identität in jüngster Zeit so brutal geführt.

In dieser Situation hat sich die EU als jene ultimative Elite entpuppt, gegen die sich Menschen am einfachsten mobilisieren lassen. Doch auch die EU selbst hat einige der Entwicklungen mit angefacht, die zur populistischen Wende in der Politik beigetragen haben. Erstens zwang Brüssel einigen Ländern – insbesondere der Euro-Zone – Entscheidungen auf, die jeglicher politischen Auseinandersetzung und Anfechtbarkeit entrückt zu sein schienen. So beförderte man das Narrativ der Alternativlosigkeit, gegen das sich Widerstand formierte: Der Ruf, "die Kontrolle zurückzuerobern", war für die Brexit-Befürworter der zugkräftigste Slogan.

Zweitens veränderte die EU die Erwartungen der Menschen. Statt ihre Situation mit der eigenen Vergangenheit oder den Lebensumständen ihrer Eltern abzugleichen, vergleichen sich Europäer heute mit den am besten gelittenen EU-Mitbürgern. Das erklärt, warum so viele Menschen in Polen unglücklich sind, obwohl es der polnischen Wirtschaft gut geht.

Die meisten Sorgen bereitet allerdings der Umstand, dass gerade die Charakteristika, die das europäische Projekt in der Vergangenheit erfolgreich machten, nun zu seiner Unbeliebtheit beitragen. Die EU gründete sich auf der Idee, dass Interdependenz Konflikte reduziert. Verzahnt man europäische Produktionsketten, zuerst durch die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und später durch den Binnenmarkt und den Euro, dann würde man die Länder des Kontinents so eng aneinander binden können, dass ein Krieg untereinander schlicht keine Option mehr wäre. Tatsächlich wurde ein innereuropäischer Konflikt undenkbar – Europa blühte auf.

Jetzt sind es die gegenseitigen Abhängigkeiten – bei dem Euro, der Migration oder der Terrorgefahr –, die Gefühle der Schutz- und Machtlosigkeit hervorrufen. Wir sind so gut darin geworden, Mauern und Grenzen zwischen Menschen, Märkten und Kapital einzureißen, dass wir blind für die Ängste geworden sind, die eine grenzenlose Welt hervorrufen kann.

Um die EU zu retten, müssen sich europäische Regierungschefs umorientieren. Statt neue Mittel und Wege zu finden, Menschen aneinander zu binden, müssen sie ihre ganze Energie darauf verwenden, Menschen die Vorteile der innereuropäischen Interdependenz spüren zu lassen: Das bedeutet, dass die wirtschaftlichen Erträge, die durch offene Grenzen und Freizügigkeit erst ermöglicht werden, an jene Gemeinschaften fließen müssen, die den Hauptteil der damit verbundenen Lasten tragen; dass die Kontrolle der Außengrenzen und die Zusammenarbeit gegen den Terror gestärkt werden; dass mehr Flexibilität in Sachen Integration und Migration geschaffen wird; dass man zu der Idee zurückkehrt, dass die vornehmste Pflicht der EU-Institutionen darin besteht, die europäischen Nationalstaaten zu schützen, und nicht darin, ihren eigenen Einfluss zu stärken. […]

In diesem neuen Europa muss es mehr Raum geben, politische Auseinandersetzungen auszutragen, statt unerbittlich auf Konsens zu pochen. Die Art, wie sich die großen europäischen Volksparteien im Europäischen Parlament und im Europäischen Rat zusammengetan haben, hat zu der Wahrnehmung beigetragen, dass es eine Art "europäisches Kartell" gibt, das jeden Widerspruch im Keim erstickt. Das nutzten populistische Parteien, um die Bürger gegen die europäischen Eliten aufzuhetzen.

Eine der größten Gefahren für die etablierten Parteien besteht darin, den Wettstreit zwischen Offenheit und Abschottung zur Kernfrage des 21. Jahrhunderts zu erklären. Dies würde bereits bestehende Gräben nur noch weiter aufreißen und viele Menschen noch stärker in die Opposition treiben. Die Lösung liegt vielmehr darin, eine neue Politik des Miteinanders zu erfinden, die die Ängste der Menschen auf der Verliererseite ernst nimmt und ihnen glaubhaft vermitteln kann, dass aus den gegenseitigen Abhängigkeiten in Europa Sicherheit erwächst. In diesem Bestreben muss man sich aus der linken Komfortzone herausbegeben, also nicht nur die wirtschaftliche Benachteiligung der Abgehängten anprangern, sondern auch deren kulturellen und sozialen Ängste anerkennen und lindern. Die neuen politischen Trennlinien sollten zwischen denjenigen verlaufen, die ein organisiertes Miteinander befürworten, und denen, die das ablehnen. Es geht um eine altbekannte Frage: Wer profitiert von Vernetzung? Wenn wir es nicht schaffen, eine neue Politik des Miteinanders zu erdenken, die Menschen vor den Kehrseiten des etablierten Systems schützt, dann könnte die Gegenrevolution das komplette europäische Konstrukt hinwegfegen. […]

Mark Leonard ist Direktor des European Council on Foreign Relations (ECFR).

Mark Leonard, "Europas Galapagos-Moment", in: Internationale Politik 3, Mai/Juni 2017, S. 68 ff.

QuellentextVom "Brexit"-Europa zum "Bürger"-Europa?

[…] [N]ach zwei Jahren des Überlegens und Verhandelns [in welcher Form Großbritannien die Europäische Union verlässt] [ist es][…] Zeit für alle Bürger der Europäischen Union, sich zu fragen, was der quälende Brexit-Prozess für sie gebracht hat. Als Erstes muss man feststellen, dass das europäische Thema sich im Verlauf dieser Jahre neu politisiert hat. Lange vorbei ist die Zeit, wo "Europa" vor allem historisch begründet und konkret verlästert wurde, ohne dass dies Folgen zu haben schien.

Die historischen Begründungen hat Aleida Assmann, die diesjährige Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels, soeben noch einmal klassisch zusammengefasst […]. Vier Lehren der Geschichte seien es, die den "europäischen Traum" tragen: die Friedenssicherung zwischen einstigen Erzfeinden, die Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in vormaligen Diktaturen, der Aufbau vor allem der deutschen Erinnerungskultur und die Erneuerung der Menschenrechte als Leitschnur der Politik. Dass all dies organisch zusammenhängt, liegt auf der Hand. "Europa", die politische Integration seiner sich vormals immer wieder aufs Blut bekämpfenden Nationen, erscheint als zwingendes Resultat dieser Lehren.

So hat man es immer wieder gehört, und darum mussten sich Zweifel und Kritik zuletzt vor allem gegen dieses "Narrativ" richten: Den Frieden zwischen den Völkern haben die Querelen um den Euro in Gefahr gebracht, die EU war bisher nicht imstande, den Abbau der Rechtsstaatlichkeit in Osteuropa zu stoppen, die Erinnerungskulturen haben das Potenzial, einander zu bestreiten – vor allem zwischen dem Westen und Osten Europas –, und die Politik der Menschenrechte hat in der Flüchtlingsfrage einen regelrechten Schiffbruch erlitten.

Doch schon der Umstand, dass sich die großen Linien der Feiertagsreden in konkrete politische Streitthemen zurückverwandelt haben, bezeichnet einen neuen Zustand. "Europa" steht seit der Krise des Euro, der Flüchtlingskrise und dem Brexit so zur Disposition wie kaum zuvor in seiner knapp siebzigjährigen Geschichte. Selbst die Ablehnung der Verfassung 2005 durch Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden bedeutete keine so tief gehende Krise.

Der britische Fall ist in vieler Hinsicht besonders. Erstens, weil das Vereinigte Königreich von manchen fundierenden Lehren der Geschichte in geringerem Maß betroffen zu sein scheint: Erbfeindschaften wie die deutsch-französische hat es nicht gepflegt; als Demokratie und Rechtsstaat verfügt es über stabile Traditionen; die Vergangenheit wird immer noch weithin als ruhmreich empfunden, historisch kann sich England durch seinen Einsatz in den zwei Weltkriegen auf der richtigen Seite sehen. Dazu kommt, dass Großbritannien sich das Euro-Problem erspart hat. Was allerdings für den Brexit eine enorme Rolle spielte, war die Migrationsfrage.

Nun gab es immer einen zweiten Europa-Diskurs, der die Vielfalt und Eigenwüchsigkeit auf dem Kontinent mit "Brüssel" kontrastierte, dem angeblichen Bürokratiemonster, seiner gouvernementalen Undurchsichtigkeit, dem "Hayek-Europa" (Perry Anderson) der Marktkonformität. Andere wiederum störten sich an Sozial-, Produkt- und Umweltstandards, die dem Markt im Gegenteil mit neuen Fesseln neue Bahnen öffneten und alte Gewohnheiten aufhoben. Kritik an Deregulierung oder an Gurkenkrümmungsnormierungen – der Anti-Brüssel-Diskurs war immer ein drehbares Geschütz.

Die Vorgeschichte des Brexit zeigt, dass jahrelanges Gerede mit Halbwahrheiten und Unwahrheiten folgenträchtig ist. Großbritannien, von historischen Belastungen vermeintlich frei, gönnte sich den Anti-Brüssel-Affekt und lernte seit der Brexit-Abstimmung eine Realität kennen, von der vorher niemand gesprochen hatte. Das Gewürge um den richtigen Weg zum Ausstieg hat nicht nur die britische Öffentlichkeit, sondern auch die aller anderen EU-Länder auf ganz neue Weise mit dem Projekt Europa bekannt gemacht. Die britische Mühsal hat, so erstaunlich das ist, erstmals profunde Öffentlichkeit über die EU hergestellt.

Nun musste das Ausmaß der Verflechtungen auf allen Ebenen neu verhandelt werden: Lieferketten, Industrienormen, Lebensmittel- und Pharmaziestandards, Sicherheitsarchitekturen, Verkehrstrukturen zu Land und in der Luft, Fischereirechte, Forschungsverbünde, Studienaustausch, eine Riesenwelt von Reibungslosigkeit geriet nun in Gefahr. Brüssel, das angebliche Monster, das nicht mehr Beamte beschäftigt als eine mittlere deutsche Stadtverwaltung, hatte ganze Arbeit geleistet.

[…] [U]nd das ist das erstaunlichste Ergebnis des Brexit-Jammers: Ausgerechnet in Großbritannien vermag die EU riesige Plätze zu füllen. Die Leute schwenken Fahnen und Transparente mit dem blauen Sternenbanner, gern mit Herzchen geschmückt. Die Umfragen zeigen eine mittlerweile größere Hälfte der Bevölkerung, die immer noch für den Verbleib in der EU ist. […]

Auf dem Kontinent gibt es Parallelen. Die Demonstrationen mit dem "Pulse of Europe" waren ein kontinuierlicher Erfolg. Von der Auflösung des Euro wird selbst in Krisenländern wie Italien nicht mehr ernsthaft gesprochen.

[…] Noch ist allerdings unklar, wie sich die Bewegung der "Gelbwesten" in Frankreich zur EU stellt. Die bis heute nicht gelösten europäischen Großthemen, der Euro und die Migration, haben eine neue Dynamik zwischen den Nationen und Brüssel erzeugt […]. Die Krisen seit 2008 haben gezeigt, dass keinem Bürger der EU gleichgültig sein kann, was in den anderen Ländern geschieht.

[…] [W]enn Europa Glück hat, wird man im Rückblick einmal sagen: Der Brexit hat die EU der Regierungen beerdigt und die EU der Bürger begründet.

Gustav Seibt, "Danke, England", in: Süddeutsche Zeitung vom 10. Dezember 2018

ist promovierter Politikwissenschaftler und Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. E-Mail Link: nicolai.vonondarza@swp-berlin.org

ist Politikwissenschaftler und promoviert am Centre for Globalisation and Governance der Universität Hamburg. Bis Ende 2018 war er Forschungsassistent in der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. E-Mail Link: felix.schenuit@uni-hamburg.de