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Reform und Perspektiven der Weltorganisation

Sven Bernhard Gareis

/ 18 Minuten zu lesen

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas spricht auf der 63. UNO-Generalversammlung im New Yorker Hauptquartier der Vereinten Nationen. (© AP)

Einleitung

Seit ihrer Gründung 1945 haben sich die Vereinten Nationen beständig weiterentwickelt und erneuert. In die mehr als sechseinhalb Jahrzehnte ihrer Existenz fielen so epochale Entwicklungen wie der Ost-West-Konflikt, die Dekolonisation und die Nord-Süd-Problematik. Dem Ende der bipolaren Ordnung schließlich folgte ein rasantes Zusammenwachsen der Welt unter den Vorzeichen der Globalisierung mit vielen Chancen, aber auch neuen und ungewohnten Risiken: So sind die gravierenden Entwicklungsdefizite und fehlenden Lebensperspektiven in weiten Teilen Afrikas und Asiens mit ursächlich für zahlreiche, zumeist innerstaatliche Konflikte und Kriege, die zu regionaler Destabilisierung führen und sich über Flucht und Migration weltweit auswirken können. Das voranschreitende wirtschaftliche Wachstum in den etablierten Industriestaaten sowie in Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien verstärkt den Ressourcenverbrauch sowie die Zerstörung von Umwelt und den Klimawandel. Der internationale Terrorismus und die Bedrohung der Menschheit durch Massenvernichtungswaffen in den Händen von Diktatoren und nichtdemokratischen Regimen erfordern neue Formen internationaler Zusammenarbeit.

Anpassungsbemühungen: Die Vereinten Nationen haben in jeder dieser Phasen der internationalen Entwicklung auf die neuen Herausforderungen mit der Anpassung ihrer Strukturen, Organe und Arbeitsweisen reagiert - wobei diese Veränderungen lange Zeit freilich vorrangig im quantitativen Wachstum der Organisation bestanden. Diese konnte nicht nur ihre Mitgliederzahl von 51 auf 192 (Stand März 2011) fast vervierfachen, sondern entwickelte sich durch die Schaffung immer neuer Organe, Gremien, Einrichtungen und Programme zu einem umfassenden, zugleich jedoch vielfach fragmentierten und schwer überschaubaren Organisationsgebilde, dessen Steuerung und Koordination immer schwieriger wird.

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts legten die VN insgesamt, vor allem aber ihr Sicherheitsrat, eine bis dahin ungekannte Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit an den Tag. Seither fordern die Mitgliedstaaten, die jeweiligen Generalsekretäre sowie formelle und informelle Arbeitsgruppen immer wieder substanzielle Reformen, um die Organisation den Herausforderungen einer globalisierten Weltgesellschaft anzupassen.

Hemmnisse durch Partikularinteressen: Um die Frage, wie die vielfältigen strukturellen und operativen Defizite der Weltorganisation zu überwinden seien, läuft seitdem eine kontroverse Debatte, in der sich zwei Hauptströmungen ausmachen lassen: Vor allem die in der "Gruppe der 77" bzw. in der "Blockfreien-Bewegung" (non-aligned movement, NAM) organisierten Entwicklungs- und Schwellenländer drängen auf bessere Partizipationsmöglichkeiten in allen wesentlichen Entscheidungsprozessen der Organisation, insbesondere im Sicherheitsrat, aber auch in den durch die Industriestaaten dominierten Institutionen IWF und Weltbank. Auf der anderen Seite mahnen die reichen Staaten des Nordens, voran die USA, eine deutlich verschlankte, transparentere und kostengünstigere Organisation an, um so Effizienz und Effektivität zu verbessern. Die Schlagworte "Partizipation" und "Effektivität" stehen so für zwei sich faktisch ausschließende Ansätze - was die Suche nach Wegen für eine systematische und grundlegende Erneuerung der Vereinten Nationen maßgeblich verhindert.

Statt nach dem organisatorischen Rahmen für eine neue Balance zwischen staatlicher Souveränität und kollektiven Steuerungsmechanismen zu suchen, ein neues Verhältnis von Macht und Recht anzustreben oder Global Governance- Prozesse mit den unterschiedlichsten staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren und Netzwerken neu zu gestalten, verlaufen die Reformdebatte wie auch die Reformpraxis in den VN vorrangig entlang partikularer Interessen einzelner oder Gruppen von Staaten. Anders als 1945, als eine sehr viel kleinere Staatengemeinschaft unter dem Eindruck zweier Weltkriege (und auch damals nur widerwillig) für die Schaffung einer souveränitätsbegrenzenden Organisation stimmte, ist ein konstitutiver Moment für die Neuorientierung der Vereinten Nationen bislang ausgeblieben. Die Bedrohungen und Herausforderungen der globalisierten Welt erscheinen den Regierungen und Gesellschaften der Mitgliedstaaten immer noch als zu abstrakt und zu verschiedenartig, um den Handlungsdruck auszulösen, der für grundlegende Erneuerungen nötig ist. Die Reform der Vereinten Nationen gestaltet sich so als ein langwieriger und schwieriger, aber immerhin als ein fortdauernder Prozess, der neben Rückschlägen und Stillständen doch immer wieder auch zu Fortschritten führt.

Reformansätze und ihre Erfolgsaussichten

Blickt man systematisch auf die Reformmöglichkeiten in den Vereinten Nationen, so lassen sich drei Kategorien von Reformansätzen mit jeweils unterschiedlichen Realisierungswegen und -chancen identifizieren:

  • Effizienzsteigerung: Diesbezügliche Reformen zielen beispielsweise auf eine bessere Leistungsfähigkeit sowie auf eine nachhaltigere Ressourcenverwendung und Wirkung in den bestehenden Aufgabenbereichen der VN. Beispiele hierfür sind etwa die Optimierung von administrativen Vorgängen, Planungsverfahren oder Budgetierungsrichtlinien.

  • Institutionelle Reformen: Diese zielen auf einen institutionellen Neuzuschnitt bzw. die Anpassung von Organen und Gremien an die neuen Herausforderungen und veränderten Weltlagen, beispielsweise durch eine Reform des Sicherheitsrates.

  • Grundsätzliche Umgestaltung: Damit verbunden wäre die fundamentale Umgestaltung der Prinzipien der Vereinten Nationen, etwa eine stärkere Supranationalisierung der Organisation, durch welche den Staaten weitere Souveränitätsrechte entzogen und zusätzliche Entscheidungskompetenzen auf der Ebene der Vereinten Nationen angesiedelt würden.

Beim Blick auf die Möglichkeiten, solche Reformen und Erneuerungen zu realisieren, ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen den Befugnissen, welche die Charta dem Generalsekretär einräumt, und der Verantwortung, die den Mitgliedstaaten zukommt. So hat der Generalsekretär als höchster Verwaltungsbeamter der VN (Art. 97 der Charta) eigene Zuständigkeiten etwa in der Personalpolitik oder in der Organisation der Arbeitsabläufe innerhalb des Sekretariats, ist dabei aber an das ihm von der Generalversammlung zugestandene Planstellen- und Finanzbudget gebunden. Im Wesentlichen bleiben so die eigenständigen Handlungsspielräume des Generalsekretärs auf Maßnahmen zur Effizienzsteigerung innerhalb seiner Behörde beschränkt.

Alle darüber hinausgehenden Schritte, insbesondere solche mit finanziellen Auswirkungen, bedürfen der Entscheidung durch die Mitgliedstaaten in der Generalversammlung. Hierbei ist wiederum zu unterscheiden zwischen Reformschritten ohne eine Änderung der VN-Charta und solchen, die eine Veränderung des Charta-Textes erfordern. Während erstere (wie etwa die Schaffung von Nebenorganen) durch eine einfache Entscheidung in der Generalversammlung herbeigeführt werden können, sind für eine Änderung der Charta hohe Hürden zu nehmen. Artikel 108 und 109 der Charta schreiben die entsprechenden Verfahren vor:

Demnach muss zunächst für jedwede Veränderung eine Zwei- Drittelmehrheit der Generalversammlung (mit Stand März 2011 also 128 Staaten) eine Textänderung beschließen. Da in der Generalversammlung das Prinzip "Ein Staat - eine Stimme" gilt, haben die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates hier kein Veto. Allerdings muss der neue Charta-Text danach von wiederum zwei Dritteln der Mitgliedstaaten ratifiziert werden, und zwar diesmal unter Einschluss der "Großen Fünf". Da es in diesem Verfahren keine Enthaltung gibt, kann jedes einzelne der ständigen Mitglieder durch die schlichte Nichtratifikation der neuen Charta eine Reform verhindern. Angesichts dieser Anforderungen verwundert es nicht, dass der Text der Charta, abgesehen von der 1963 beschlossenen Erhöhung der Zahl nichtständiger Mitglieder des Sicherheitsrates von sechs auf zehn sowie der zweimaligen Anpassung der Mitgliederzahl des Wirtschafts- und Sozialrates auf nunmehr 54 Staaten, seit 1945 unverändert geblieben ist. Vor diesem Hintergrund lassen sich Reformansätze auch anders typologisieren, nämlich nach dem Grad ihrer Realisierungswahrscheinlichkeit bzw. der Schnelligkeit ihrer Umsetzung:

  • Maßnahmen, die der Generalsekretär selbst treffen kann, gehen in der Regel zügig vonstatten. So wurden interne Verwaltungsreformen unter den verschiedenen Generalsekretären, vor allem unter Kofi Annan und Ban Ki-moon, immer wieder rasch umgesetzt.

  • Entscheidungen in der Generalversammlung können ebenfalls schnell getroffen werden (wie etwa die Schaffung des Amtes für Interne Aufsichtsdienste 1995, die Einrichtung der Position des stellvertretenden Generalsekretärs 1997, die Etablierung des Menschenrechtsrates oder der Kommission für Friedenskonsolidierung 2005/06). In der Regel jedoch erfordern sie Zeit oder kommen nicht zustande. So harren viele der immer wieder geforderten modernen Managementstrukturen, Finanzierungsmechanismen und Personalmodelle weiterhin der Zustimmung der Mitgliedstaaten.

  • Entscheidungen, die mit Änderungen der Charta verbunden sind, gestalten sich angesichts der genannten Hürden besonders schwierig. Sie bilden bislang seltene Ausnahmen. Der bisherige Reformprozess hat sich daher vornehmlich in kleinen Schritten vollzogen und blieb auf Maßnahmen im Zuständigkeitsbereich des Generalsekretärs und der Generalversammlung beschränkt. Ambitionierte Vorhaben wie die Reform des Sicherheitsrates liegen dagegen weiter auf Eis.

Bisher vollzogene Reformschritte

Personalumfänge deutlich reduziert; bereits unter Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali (Amtszeit 1992 bis 1996) und dann vor allem unter dessen Nachfolger Kofi Annan (Amtszeit 1997-2006) wurden tiefgreifende Strukturreformen vorgenommen sowie neue Steuerungselemente eingeführt. So wurde schon 1994 ein Amt für Interne Aufsichtsdienste (Office of Internal Oversight Services, OIOS) geschaffen, eine Art interner Rechnungshof der VN, der die verschiedenen VN-Einrichtungen kontrolliert und sie berät, wie sie ihre Strukturen und Abläufe verbessern können. Auf der Grundlage seines Berichts "Erneuerung der Vereinten Nationen - Ein Reformprogramm" ordnete Kofi Annan 1997 die vielfältigen Programme, Fonds und Spezialorgane der Vereinten Nationen fünf Kernaufgaben zu: Für die vier Kernbereiche "Frieden und Sicherheit", "Wirtschaft und Soziales", "Humanitäre Angelegenheiten" und "Entwicklung" wurden so genannte Exekutivausschüsse gebildet, die Menschenrechte als fünfter Kernbereich wurden als Querschnittsaufgabe definiert, die in den vier anderen Bereichen mit verankert ist. Eine Senior Management Group unterstützt den Generalsekretär bei der Steuerung des komplexen Apparates, dessen interne Zusammenarbeit sich ständig weiter verbessert. Andererseits wachen die Mitgliedstaaten peinlich darüber, dass dem Generalsekretär keine eigenständigen Machtbefugnisse zuwachsen - entsprechende Projekte wie etwa eine im Sekretariat angesiedelte Strategische Informations- und Analyseeinheit für die Friedenssicherung oder moderne Kommunikations- und Management-Tools wurden nicht bewilligt.

Wichtige Reforminitiativen seit den 1990er Jahren

Ehrgeizige Ziele: Die bislang einzige umfassende Reforminitiative startete Kofi Annan im Vorfeld des Weltgipfels zum 60. Jubiläum der Vereinten Nationen. Bereits Ende 2003 hatte er eine aus sechzehn internationalen Experten bestehende "Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel" beauftragt, globale Probleme zu analysieren sowie Vorschläge zu formulieren, wie die VN und die internationale Gemeinschaft diesen Herausforderungen entgegentreten sollten. Ende 2004 legte die Gruppe ihren Bericht "Eine sicherere Welt - unsere geteilte Verantwortung" vor. Darauf aufbauend schlug der Generalsekretär dann den Mitgliedstaaten vor, überholte Strukturen und Organe wie den suspendierten Treuhandrat, den inaktiven Generalstabsausschuss oder die völlig diskreditierte Menschenrechtskommission abzuschaffen und neue, auf die gewandelten Erfordernisse zugeschnittene Institutionen wie einen permanenten Menschenrechtsrat oder eine Kommission zur Friedenskonsolidierung einzurichten.

Insgesamt hatte der VN-Generalsekretär in seinem Bericht "In größerer Freiheit" ein ebenso ehrgeiziges wie umfassendes Programm erarbeitet, um die in die Jahre gekommene Weltorganisation in konzeptioneller, institutioneller und instrumenteller Hinsicht zu modernisieren. Seinen Vorstellungen nach sollte eine grundlegend erneuerte Organisation die Staatengemeinschaft in ihren Bemühungen unterstützen, die strukturellen, in Unterentwicklung und Armut begründeten Ursachen von Kriegen, Gewalt und Terrorismus nachhaltig zu beseitigen. Mit seiner Forderung nach einem menschlichen Leben in Würde und in Freiheit von Not und Furcht vertrat er ein umfassendes Konzept von menschlicher Sicherheit. Nach den Vorstellungen des Generalsekretärs sollten sich die Vereinten Nationen so von einem auf die Vermeidung zwischenstaatlicher Kriege ausgerichtetem System kollektiver Sicherheit zu einem internationalen Sicherheitssystem entwickeln, dessen Augenmerk auf dem Los von Individuen, sozialen Gruppen und Völkern liegt.

Ausbremsung durch Vorbehalte: Allerdings zeigte sich, dass die Mitgliedstaaten nicht wirklich bereit waren, dem ehrgeizigen Reformkurs des Generalsekretärs zu folgen. Ein für den Jubiläumsgipfel am 16. September 2005 formuliertes Abschlussdokument, das neben diesen konkreten Reformschritten auch neue Akzentuierungen auf Gebieten wie Entwicklung oder Abrüstung vorsah, wurde noch unmittelbar vor Beginn der Konferenz durch ein weitaus unverbindlicheres Papier ersetzt. Konkrete Selbstverpflichtungen bezüglich der Entwicklungsziele blieben zugunsten unverbindlicher Absichtserklärungen auf der Strecke, ebenso wie weite Teile der Vorschläge zu Abrüstung und Rüstungskontrolle. Selbst bei der überfälligen Modernisierung der Managementstrukturen und Arbeitsmechanismen innerhalb des Sekretariats wollten die Mitgliedstaaten dem Generalsekretär ihrer Organisation keinen eigenen Handlungsspielraum geben.

Immerhin wurden die Kommission für Friedenskonsolidierung und der Menschenrechtsrat geschaffen, wenn auch mit Abstrichen am ursprünglichen Konzept und wieder strikter Kontrolle durch die Staaten unterworfen. Auch sind erstmals seit Jahrzehnten Entscheidungen mit Folgen für die nur schwer zu ändernde Charta der Vereinten Nationen getroffen worden: So entfallen künftig mit Kapitel XII die Bestimmungen über das Treuhandsystem, und mit Kapitel XIII über den Treuhandrat wird eines der sechs Hauptorgane der Organisation abgeschafft. Zudem werden die seit langem obsoleten Feindstaatenklauseln der Artikel 53 und 107 gestrichen, die sich in der Gründungsphase der Vereinten Nationen gegen das Deutsche Reich und seine Kriegsverbündeten gerichtet hatten. Allerdings sind diese Änderungen eher redaktioneller Natur, die Charta wird hier nur einer seit langem bestehenden Realität angepasst. Die großen Themen wie die Reform des Sicherheitsrates wurden dagegen vertagt. Die Gipfelergebnisse von 2005 reihen sich damit in den bisherigen Reformprozess der kleinen Schritte ein. Angesichts der Hürden einer Charta-Reform werden wohl auch die bereits beschlossenen redaktionellen Veränderungen erst in einigen Jahren in einem dann an substanziellen Stellen veränderten Text wirksam werden.

Tauziehen um die Reform des Sicherheitsrates

Wenig Aussichten auf eine baldige Realisierung hat das in jeder Hinsicht wichtigste und schwierigste Reformprojekt, das des Sicherheitsrates. Zwar gilt es unter den allermeisten Mitgliedstaaten als konsensfähig, dass Zusammensetzung und Arbeitsweisen dieses mächtigsten Hauptorgans die weltpolitischen Machtkonstellationen zum Ende des Zweiten Weltkrieges widerspiegeln und damit reichlich anachronistisch sowie dringend reformbedürftig sind. Auch ist klar, was durch die Reform bezweckt werden soll: Die Repräsentativität soll erhöht werden, indem die insbesondere bei den ständigen Sitzen ins Auge springende Benachteiligung von so wichtigen Weltregionen wie Lateinamerika, Afrika und Asien beseitigt wird. Dadurch sollen zugleich die Entscheidungen des Sicherheitsrates eine größere Legitimität gewinnen sowie die Chance erhöht werden, dass die Entscheidungen von der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten mitgetragen werden. Insgesamt besteht Einvernehmen auch darüber, dass die Sicherheitsratsreform eine Art Lackmustest für die Reformfähigkeit der Organisation insgesamt ist, weil in ihr alle wesentlichen Schwierigkeiten und Hindernisse struktureller Reformen in den VN quasi wie im Brennglas konzentriert sind. Über die Art und Weise allerdings, wie diese "Mutter aller Reformen" gestaltet werden kann, zeichnet sich auch fast 20 Jahre nach der Initiative Indiens, das Thema auf die Agenda der VN zu setzen, kein Konsens ab.

In der seit 1993 tagenden open-ended working group der Generalversammlung wurden alle wichtigen Argumente ausgetauscht und gewogen; mehr als 140 Staaten haben dort ihre mehr oder minder konstruktiven Vorschläge zur künftigen Größe und Zusammensetzung sowie zu Entscheidungsstrukturen und Arbeitsweisen eingereicht. Bereits recht früh zeichnete sich dabei allerdings ab, dass Staaten, die von einer Reform voraussichtlich nicht profitieren würden, Vorschläge unterbreiteten, die eher auf den Erhalt des Status quo angelegt waren als auf Reformen, durch die mögliche Konkurrenten begünstigt würden. Auch war von vorneherein klar, dass die ständigen Mitglieder ihr Veto-Privileg weder aufgeben noch mit weiteren Mächten teilen würden.

Vorschläge: Aus dieser bis heute tagenden Arbeitsgruppe ging 1997 ein nach ihrem damaligen Vorsitzenden Razali Ismail (Malaysia) benanntes Papier hervor. Mit seinen Vorschlägen, die Zahl ständiger wie nichtständiger Mitglieder zu erweitern, ohne ihnen ein Vetorecht einzuräumen, bildete es eine Art Blaupause für die nachfolgenden Reformvorschläge, wird aber von den Gegnern einer Erweiterung der Zahl ständiger Sitze heftig bekämpft. Auch die oben bereits erwähnte Hochrangige Gruppe konnte sich auf keine gemeinsame Empfehlung festlegen und stellte zwei Modelle vor: Modell A, das die Erweiterung um sechs ständige Mitglieder (je zwei aus Afrika und Asien, je eines aus Europa und Lateinamerika) sowie drei zusätzliche nichtständige Sitze vorsieht, sowie Modell B, das acht semi-permanente Sitze (je zwei für Afrika, Asien, Europa und Lateinamerika) für eine Amtszeit von vier Jahren und die Möglichkeit der Wiederwahl sowie einen weiteren nichtständigen Sitz für Afrika vorschlägt. Diese Debatten mündeten im Sommer 2005 in drei Resolutionsentwürfe:

  • Die "Gruppe der 4" (G4: Brasilien, Deutschland, Indien und Japan) sowie 23 weitere Staaten übernahmen die Vorschläge des Modells A und verzichteten auf die Ausübung eines Vetorechts bis zu einer Überprüfung dieser Frage nach 15 Jahren.

  • Die aus 12 Staaten bestehende Gruppe "Vereint für den Konsens" um regionale Konkurrenten der G4-Staaten wie Italien, Argentinien und Pakistan verlangte die Einrichtung von zehn weiteren nichtständigen Sitzen.

  • Eine Gruppe von 43 afrikanischen Staaten wollte ganz ähnlich wie in Modell A die Zahl der ständigen Mitglieder auf elf und die der Nichtständigen auf 15 erhöhen. Allerdings bestanden die afrikanischen Staaten auf einer Gleichbehandlung der ständigen Mitglieder in der Veto-Frage nach dem Prinzip "alle oder keiner".

Fehlende Mehrheiten: Die drei Vorschläge wurde auf der 59. Generalversammlung nicht zur Abstimmung gestellt, weil sich für keinen eine Zwei-Drittel-Mehrheit abzeichnete. Zwar hat der Entwurf der G4-Initiative alle Chancen, eine wichtige Referenzgröße auch für die künftige Reformdiskussion zu sein, weil er bislang die sicherlich schlüssigste und den Erfordernissen angemessenste Alternative darstellt. Mit der Größe des Rates und den unterschiedlichen Gewichten der Mitgliedstaaten entspricht er den Anforderungen an die Arbeitsweisen und die Entscheidungsfähigkeit des Sicherheitsrats in wohl bestmöglicher Weise. Eine Realisierung des afrikanischen Entwurfs dagegen würde mit der Ausweitung des Vetorechts die Effizienz und Effektivität des Rates nachhaltig gefährden - was auch jenseits der Eitelkeiten der Großen Fünf seine völlige Aussichtslosigkeit begründet. Der Vorstoß Italiens und seiner Partner wiederum würde einen Dauerwahlkampf um die nichtständigen Sitze in die Regionalgruppen hineintragen, der sich kaum vorteilhaft auf die Arbeit und Entscheidungsfindung im Sicherheitsrat auswirken dürfte. Außerdem brächte er wohl eher alle Nachteile eines vergrößerten Gremiums mit sich, ohne diesen die Vorteile substanziell verbesserter Mitwirkungsmöglichkeiten durch eine repräsentative Auswahl von Staaten gegenüberzustellen.

Nach dem vorläufigen Scheitern dieser wichtigsten Reforminitiative haben die Mitgliedstaaten seit 2008 Verhandlungen in einem "informellen Plenum" aufgenommen, um doch noch Bewegung in die festgefahrene Diskussion zu bringen. Auf der Grundlage eines vom Vorsitzenden dieses informellen Plenums, dem afghanischen VN-Botschafter Zahir Tanin, 2010 vorgelegten Textentwurfs können die Staaten ihre Vorstellungen und Änderungswünsche zu den fünf wesentlichen Themenfeldern der Reform einbringen: Mitgliedschaftskategorien, Vetorecht, regionale Vertretung, Zahl der Mitglieder und Arbeitsverfahren sowie das Verhältnis zur Generalversammlung.

Die Reformdiskussion wird also weitergehen, und ihr Ausgang ist schwer vorauszusagen. Angesichts des verbreiteten Widerstandes vieler Staaten gegen neue ständige Sitze, der Uneinigkeit über die in Frage kommenden Kandidaten sowie des wenig ausgeprägten Enthusiasmus der etablierten Großen Fünf könnte sich eine auf Modell A basierende Lösung als zunehmend unerreichbar erweisen. Dann könnte die allenfalls zweitbeste Lösung, die Schaffung nichtständiger Sitze mit der Möglichkeit der unbegrenzten Wiederwahl, als Verbesserung zum Status quo angesehen werden. In jedem Fall müssen die Mitgliedstaaten viel Flexibilität aufbringen, um die zwischen ihnen bestehenden Meinungsverschiedenheiten zu überbrücken und die für die Zukunftsfähigkeit der Organisation so wichtige Reform voranzubringen. Die Lösung dieser Frage erscheint umso dringlicher, je problematischer sich die Legitimation militärischer Gewaltanwendung gestaltet.

Neue völkerrechtliche Normen?

Der von den USA im Frühjahr 2003 geführte Krieg gegen den Irak stellte einen fundamentalen Einschnitt in die nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte Völkerrechtsordnung dar. Begründet wurde dieser Feldzug vor allem mit einem Recht auf präemptive (vorausgreifende) Selbstverteidigung, also zur Abwendung eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs seitens des Iraks. Doch so unhaltbar und konstruiert sich die US-Position im Lichte späterer Untersuchungen und Erkenntnisse erwies, so wichtig erscheint die zugrundeliegende Frage nach den Umständen, unter denen Staaten Gewalt anwenden dürfen.

Die Charta erlaubt nur zwei Ausnahmen vom Allgemeinen Gewaltverbot: im Falle von Maßnahmen durch den Sicherheitsrat und zur Selbstverteidigung. Das Völkergewohnheitsrecht verlangt in letzterem Falle nicht, dass ein Staat einen möglicherweise schwerwiegenden Angriff hinnehmen muss, sondern erlaubt eine vorgezogene Selbstverteidigung (Präemption), wenn eine Aggression unmittelbar bevorsteht und diplomatische Mittel zu ihrer Abwendung nicht verfügbar sind.

Verboten sind allerdings Präventivschläge, die sich gegen nur abstrakte Gefahren wie die Entwicklung eines Waffenprogramms richten. Doch wo liegen in einer dicht vernetzten und hoch technologisierten Welt die Grenzen zwischen einer latenten und einer manifesten, unmittelbaren Bedrohung? Das herrschende Völkerrecht und auch die Hochrangige Gruppe sind in dieser Frage einhellig der Auffassung, dass neue Ausnahmetatbestände vom Allgemeinen Gewaltverbot nicht erforderlich sind und dass die Entscheidungskompetenz gerade für den vorgezogenen Einsatz von Gewalt regelmäßig beim Sicherheitsrat liegt. Dazu muss er aber auch entscheidungs- und handlungsfähig bleiben und darf sich nicht entlang partikularer Interessen der ständigen Mitglieder blockieren.

Diesem Erfordernis indes haben die USA einen schlechten Dienst erwiesen, als sie 2002/03 zunächst den sachlich völlig unbegründeten Versuch unternahmen, sich ihr militärisches Vorgehen gegen den Irak als vorgezogene Verteidigungsmaßnahme durch den Sicherheitsrat mandatieren zu lassen. Als dieser mit der Resolution 1441 vom 8. November 2002 dem Irak nur "ernste Konsequenzen" androhte und nicht explizit militärische Gewalt legitimierte, verstießen die USA gegen das Völkerrecht, indem sie dennoch angriffen. Drastischer noch als bei der Selbstverteidigung stellt sich die Frage nach zulässiger Gewaltanwendung, wenn es um innerstaatliche Probleme wie massive Menschenrechtsverletzungen bis hin zum Völkermord geht. 1994 fielen in Ruanda hunderttausende Menschen einem Genozid zum Opfer, 1995 kam es in Srebrenica zum größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, 1999 war die unterschiedliche Bewertung der Vorgänge im Kosovo durch die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates einer der Gründe für den nicht völkerrechtskonformen Luftkrieg der NATO gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien.

Eine auf Initiative von Generalsekretär Kofi Annan ins Leben gerufene International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) erarbeitete mit Blick auf diese Tragödien das Konzept einer Schutzverantwortung gegen solche umfangreichen Menschenrechtsverletzungen. Diese responsibility to protect liegt demnach zunächst bei den souveränen Staaten, die bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber der eigenen Bevölkerung Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft erwarten dürfen. Sollten Staaten dazu aber nicht in der Lage oder nicht willens sein, soll die Schutzverantwortung auf die internationale Gemeinschaft übergehen. Für das Einschreiten gegen schwerwiegende innerstaatliche Gewaltakte postuliert die ICISS ebenfalls den Vorrang des Sicherheitsrates, lässt aber auch die Möglichkeit anklingen, diese Verantwortung bei Vorliegen bestimmter Kriterien auch ohne ein Sicherheitsratsmandat durch Staaten oder Organisationen wahrnehmen zu lassen.

Das Bekenntnis zur responsibility to protect wurde 2005 in das Ergebnisdokument des Weltgipfels aufgenommen, allerdings nur für Fälle von Völkermord, Kriegsverbrechen, Verfolgung ethnischer "Minderheiten" und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie unter engster Bindung an die Vorschriften des Kapitels VII der Charta. Damit kommt wiederum dem Sicherheitsrat die entscheidende Rolle zu, die er allerdings auch schon vor dem Weltgipfel innehatte. Dennoch ist der Kritik, mit dem Bekenntnis zur Schutzverantwortung sei nicht viel Neues im Völkerrecht verankert worden, entgegenzuhalten, dass die Versammlung der Staats- und Regierungschefs explizit akzeptiert hat, dass der Umgang eines Staates mit seinen Menschen keine ausschließlich innere Angelegenheit mehr ist. Staatliche Souveränität ist damit nicht länger eine Lizenz zum Töten, wie es der ICISS-Vorsitzende, der Australier Gareth Evans, ausgedrückt hat. Die weitere Entwicklung einer internationalen Schutzverantwortung als "entstehender Norm" wird daher zu beobachten bleiben.

Gibt es Alternativen zu den Vereinten Nationen?

Die oft langwierigen Entscheidungsprozesse des Sicherheitsrates, vor allem aber die Abhängigkeit von Ländern wie China und Russland bei seinen Entscheidungen, haben in westlichen Ländern, insbesondere in den USA, zu einem Nachdenken über Alternativen zu den Vereinten Nationen geführt. Wenn - so die zugrundeliegende Annahme - die Demokratie die zumindest tendenziell friedlichste und menschenwürdigste Staatsform darstellt, sollte ihren Vertretern auch eine eigenständige Legitimation für die Ergreifung friedenssichernder Maßnahmen bis hin zur militärischen Intervention zukommen. Seit der Jahrhundertwende werden in amerikanischen Intellektuellenkreisen und think tanks Vorstellungen von einer "Liga der Demokratien" propagiert. Nach Ansicht ihrer Befürworter ist sie eine bessere Alternative zu den Vereinten Nationen, deren Staatenmehrheit im Lichte dieser Betrachtung von teils äußerst fragwürdigen Regimen regiert wird. Auch eine "globale NATO" als Vertreterin der westlichen Sicherheitsinteressen taucht in der Debatte immer wieder auf. Seit der Weltwirtschaftskrise der Jahre 2008 bis 2010 ist zudem die Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) als Kern einer künftigen Weltordnungspolitik ins Spiel gekommen.

Doch auch wenn sich gerade die letztere Gruppe als im Weltmaßstab ungleich repräsentativer darstellt als eine Interessengemeinschaft westlicher Industrienationen: Allen denkbaren Alternativen zu den Vereinten Nationen ist gemeinsam, dass sie das Machtgefälle zwischen Arm und Reich oder Stark und Schwach weiter zementieren und die in den Vereinten Nationen ohnedies schon stark ausgeprägte Legitimationsproblematik in Bezug auf Entscheidungen von globaler Tragweite zusätzlich verschärfen würden. Der aus dem Gründungskontext der VN erklärliche Geburtsfehler, fünf Mächte durch eine herausgehobene Position zu privilegieren, würde so nicht nur nicht behoben, sondern dahingehend verschärft, als dass diese neuen Formate nicht einmal eine formale Zustimmung des großen Rests der Welt vorsehen. Dem Anliegen einer auf multilateralem Ausgleich basierenden Weltordnung können diese Konzepte daher nicht entsprechen - und wollen dies wahrscheinlich auch gar nicht. Sie bleiben allerdings die Antwort auf die Frage schuldig, wie denn die übergroße Mehrheit der Staaten davon überzeugt werden soll, sich der Führung durch selbsternannte globale Eliten zu unterwerfen.

QuellentextDie Architektur eines Traumes

Ganz im Osten von Manhattan, wo der East River das geschäftige Herz New Yorks von den äußeren Stadtbezirken trennt, führt eine Fußgänger-Brücke über die 42. Straße, die die Insel sechsspurig von West nach Ost durchschneidet. Die Brücke ist eine Aussichtsplattform erster Güte. [...] [W]enn man sich in Richtung Osten umdreht, hat man einen gänzlich unverstellten Blick auf das Hauptquartier der UN. Es ist eine der wenigen Perspektiven, aus denen der Betrachter noch etwas ahnen kann vom Idealismus, von der Hoffnung, die Menschen in aller Welt einmal mit dem 60 Jahre alten Bau verbunden haben.
Die schlanke Silhouette des 39 Stockwerke hohen Hauses durchschneidet scharf und kühn den Himmel über New York. In seiner Glasfassade spiegeln sich nichts als das Wasser des East River und das Himmelslicht. Nichts erinnert an das Chaos und das Gewimmel der Stadt. Alles scheint wohlgeordnet und friedlich - eben so, wie die Gründer der UN sich die Welt der Zukunft vorgestellt hatten. Doch wer den visionären Bau vom Pflaster der First Avenue aus betrachtet, bekommt einen nüchterneren Eindruck.
Denn die Vereinten Nationen, das ist derzeit eine Baustelle - und wird es auf lange Sicht bleiben. Man darf das durchaus metaphorisch sehen.
Seit einigen Monaten ist das Gelände durch eine riesige, dreistöckige Baubaracke verschandelt. Es ist das Ausweichquartier vieler der rund 5000 UN-Mitarbeiter, während drinnen saniert wird. "Bantanamo" haben einige von ihnen das fensterlose Monstrum genannt, frei nach dem Vornamen des derzeitigen Generalsekretärs Ban Ki-moon, der das Ganze abgesegnet hat. Aller Sarkasmus hilft nicht. Bis 2014, das ist der aktuelle Stand, werden sich die Arbeiten am Haus der Weltgemeinschaft hinziehen. Bis dahin heißt es, mit Dauerprovisorien zu leben. Und auch, wer darüber nörgelt, dürfte zustimmen: Die UN, wie sie heute aussehen, sind kein Zustand.
Denn aus der Nähe betrachtet ist der Gebäudekomplex heute alles andere als ein Glas und Stahl gewordener Menschheitstraum. Das Sekretariatsgebäude und die benachbarte, kühn geschwungene Behausung der Vollversammlung leiden an der typischen Krankheit moderner Architektur: Sie können nicht in Würde altern. Die Patina, die Prachtbauten früherer Epochen ziert und gleichsam adelt, bekommt ihnen gar nicht. Zu schweigen von den Details im Inneren. Die alten, mit Holz verkleideten Telefonzellen in jedem Stockwerk besitzen vielleicht noch einen gewissen nostalgischen Charme. Die Kunststoffböden, die winzigen, oft finsteren Büros sowie die abgewetzten Stahlrohr-und-Leder-Sessel in der Ambassador_s Lounge wirken hingegen nur noch schäbig.
In der lichtdurchfluteten Lobby zur Vollversammlung mit ihren nierenförmigen Balkons haben Wasserschäden große braune Flecken an die Wände gemalt. Wer hier zuletzt als Tourist herumgeführt wurde, sah sogar die eindrucksvolle Sammlung moderner Kunst der UN beschädigt. Die Wandbilder von Fernand Léger, einer der Klassiker der Moderne, im Saal der Vollversammlung sind deutlich gezeichnet von jahrzehntelanger Nikotin-Beräucherung. [...] Die Errichtung des UN-Gebäudes war, wie die Vereinten Nationen selbst, von einer Utopie getrieben. Wortführer des internationalen Architekten-Komitees in den späten 40er Jahren war der Franzose Le Corbusier, der schon seit den frühen 20er Jahren für seine Vision einer radikal modernen "Ville Radieuse" geworben hatte - einer Stadt bestehend aus "kartesianischen Wolkenkratzern", wie er seinen genormten Hochhausentwurf nannte. Darin sah der Theoretiker die Prinzipien der Moderne perfekt verkörpert: Rationalität, Ordnung und den Triumph der Technik. [...] Der Zuschlag für die UN war für Corbusier gleich in zweierlei Hinsicht ein Traumjob. Die Mission der UN - die Erneuerung der Menschheit - deckte sich mit seinen Fantasien einer Stadt der Zukunft. Seine Architektur beruhte auf dem positivistischen Glauben an die Vernunft. Corbusier wollte die Welt von allem Unterbewussten, Finsteren, Triebhaften befreien, von allem, was nach Symbolen verlangt und von seiner Geschichte nicht loskommt. [...] Die Vereinten Nationen bestehen aus einem Ensemble aus funktionalen Bauten, durch weitläufige Grünflächen von einander getrennt; Bauten, die den Menschen frei machen sollen für die Kontemplation. Der moderne Mensch sollte sich laut Corbusier unbelastet vom Alltäglichen ganz der Reflexion über das Grundsätzliche hingeben können - dem Schicksal des Menschengeschlechts beispielsweise. [...] Lohnt es sich [...], das UN-Gebäude für zwei Milliarden Dollar zu renovieren? Nun, wenn die Architektur auch bröckelt, die Institution hat sich in mancher Krisensituation bewährt. [...]
So ist das alte Haus am East River zwar nicht die Schaltzentrale einer schöneren neuen Welt geworden. Aber es ist ein Denkmal für einen Menschheitstraum, der es verdient, weiter geträumt zu werden - auch wenn seine Verwirklichung in weiter Ferne bleibt.

Sebastian Moll, "Eine Utopie wird umgebaut", in: Frankfurter Rundschau vom 3. Februar 2011

Perspektiven der Weltorganisation im 21. Jahrhundert

Die internationale Politik wird auch im 21. Jahrhundert maßgeblich von den Staaten beeinflusst, aber nicht von ihnen allein gestaltet. Längst haben angesichts der Unzulänglichkeiten rein zwischenstaatlicher Kooperationsprozesse bzw. klassischer internationaler Organisationen transnationale staatliche, nichtstaatliche bzw. zivilgesellschaftliche Netzwerke an Bedeutung gewonnen. Ihnen ein Forum zu geben und ihre Anstrengungen zu koordinieren könnte künftig neue Steuerungsmechanismen einer global public policy erfordern, in deren Mittelpunkt die Vereinten Nationen stehen.

Bislang dominiert beim Blick auf die Vereinten Nationen jedoch zunächst das Spannungsverhältnis zwischen den Zielen und Grundsätzen der Charta auf der einen und der politischen Realität auf der anderen Seite. Die wesentlichen Forderungen der Charta nach multilateraler Kooperation und kollektiven Mechanismen basieren auf Regeln, die in der Praxis der internationalen Politik immer wieder relativiert, verändert oder auch systematisch missachtet werden. Der Gleichheit aller Mitgliedstaaten steht ein ausgeprägtes Machtgefälle gegenüber, die Pflicht zur friedlichen Streiterledigung wird oft durchbrochen, und trotz des Allgemeinen Gewaltverbots nehmen sich Staaten immer wieder das Recht zur unilateralen Gewaltanwendung.

Aus dieser Erfahrung könnte sich die - eher pessimistische - Schlussfolgerung ergeben, dass die VN in den Händen ihrer Mitgliedstaaten bleiben und diese weiterhin eine schwache Weltorganisation der Aufgabe nationaler Souveränitätsrechte vorziehen werden. Als Beleg dafür können die geringen Reformschritte auf der Basis kleinster gemeinsamer Nenner gelten, die der Weltgipfel des Jahres 2005 hervorgebracht hat. Die Aussichten der Vereinten Nationen, als gestaltender Akteur von Global Governance-Prozessen aufzutreten, erscheinen vor diesem Hintergrund als eher gering.

Nichtsdestoweniger aber bleiben die VN unverzichtbar für die Gestaltung internationaler Politik. Nur sie bieten die Arena, in der sich die Staaten hinsichtlich ihrer freiwillig eingegangenen Verpflichtungen gegenseitig kontrollieren und deren Einhaltung anmahnen können. Wer nicht die Rückkehr des Faustrechts in die internationale Politik will, wer nicht weltweite Anarchie und Instabilität anstrebt und wer nicht Neuauflagen regionaler oder globaler Rüstungsspiralen riskieren möchte, muss für Steuerungsmechanismen sorgen, welche die Willkür einzelner oder Gruppen von Staaten sowie ihre Gewaltanwendung zumindest reduzieren. Den VN wird daher auch weiterhin die Aufgabe zukommen, die internationale Staatengemeinschaft zur Akzeptanz und Befolgung ihrer in der Charta niedergelegten Ziele und Grundsätze anzuhalten.