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Vereinigte Staaten und Deutschland | USA – Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft | bpb.de

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Vereinigte Staaten und Deutschland

Jörg Nagler

/ 4 Minuten zu lesen

Der American Way of Life unterscheidet sich stark von europäischen Gepflogenheiten. Mit seinen Prinzipien Freiheit, Gleichheit, Liberalismus und Eigenverantwortlichkeit prägt er die politische Kultur und Wertvorstellungen, die bei Deutschen und Europäern nicht selten auf Erstaunen stoßen.

Nach wie vor sind die allermeisten Amerikanerinnen und Amerikaner von der Einzigartigkeit ihres demokratischen "Experiments" überzeugt und zeigen dies auch: beflaggtes Haus in New Jersey. (© Getty Images / William Thomas Cain)

Aus deutscher Sicht erscheint kaum ein Land der Welt vertrauter als die Vereinigten Staaten. Die täglich von den Medien vermittelten Bilder und Informationen verharren jedoch häufig an der Oberfläche und bestätigen bereits vorhandene Stereotypen. Zudem werden allzu oft die eigenen historisch-kulturellen Erfahrungen und Maßstäbe auf die USA angewandt, ohne deren Besonderheiten ins Kalkül zu ziehen. Der American Way of Life ist jedoch komplexer, als er oberflächlich erscheint, und unterscheidet sich erheblich von den kulturellen Erfahrungen und Gepflogenheiten Deutschlands und Europas.

Die als "amerikanisches Credo" (American creed) bezeichneten Ideale wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Individualismus, Liberalismus, Eigenverantwortlichkeit sowie Misstrauen gegenüber staatlicher Autorität und Willkür finden in der politischen Kultur der USA allgemeine Zustimmung. Mit welcher Überzeugung diese Werte als "Amerikanismus" schichtenübergreifend vertreten werden, erregt in Europa immer wieder Erstaunen. Amerikaner hingegen betrachten mit Skepsis das Denken in Hierarchien und den Respekt vor der Obrigkeit, die eher in Europa anzutreffen sind. Das legere Verhalten, das in den USA in Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen zu beobachten ist – sei es in Fabriken, Schulen oder Universitäten – verdeutlicht die Wirksamkeit des American creed bis ins tägliche Miteinander.
Das schon in der Unabhängigkeitserklärung formulierte "Streben nach Glück" geht zwar vom Interesse des Individuums aus, schließt aber als Ideal auch das Allgemeinwohl ein. So existiert neben dem Vorbild des self-made man oder der self-made woman, die ihr Leben durch harte Arbeit verbessern, parallel das Ideal der gemeinnützigen Unterstützung Hilfsbedürftiger. Dies erklärt unter anderem das hohe Ausmaß freiwilliger Mitarbeit in Wohlfahrtsorganisationen sowie das große private Spendenaufkommen für sozial Minderprivilegierte. Gleichzeitig sind diese Aktivitäten aber auch Ausdruck der allgemeinen Auffassung, dass nicht der Staat, sondern der Einzelne für das Gemeinwohl sorgen sollte: Angelegenheiten, die in Europa von einem Beamtenapparat "verwaltet" werden, nehmen in den USA häufig Privatpersonen oder -institutionen in die Hand.

Auch in puncto Einwanderung unterscheiden sich die USA von Deutschland und Europa. Die USA sind ein Einwanderungsland par excellence; im Unterschied zu den europäischen Nationen verdanken sie der Einwanderung ihre Existenz. Mit Ausnahme der Urbevölkerung sind alle US-Amerikanerinnen und -Amerikaner selbst Nachfahren von Eingewanderten, zumeist aus England, Deutschland, Irland, Asien, Lateinamerika oder – im Zuge gewaltsamer Deportation – aus Afrika. Unzählige ethnische Gruppen bilden eine Vielfalt unterschiedlichster Kulturen, die alle im "melting pot" USA ihre Spuren hinterließen bzw. weiterhin hinterlassen.
Heute wird das Symbol des "Schmelztiegels" im Sinne einer eher kulturell-pluralistischen Auffassung zunehmend durch den Vergleich mit einer "Salatschüssel" ersetzt, in welcher eher lose verbundene ethnische Gruppen existieren, die zusammen die Identität der USA ausmachen.

Deutsche, die zum ersten Mal in die USA reisen, registrieren oft mit Erstaunen den ausgeprägten amerikanischen Patriotismus, den die allerorts wehenden Fahnen und andere Symbole des Nationalstolzes auch im Alltag vor Augen führen. Der seit der Staatsgründung bestehende feste Glaube der Bevölkerung an die Einzigartigkeit ihres demokratischen "Experimentes" bleibt nach wie vor unerschütterlich; er spricht nicht nur aus politischen Reden, allen voran des Präsidenten, sondern wird auch in Predigten und vielen öffentlichen Kommentaren und Diskussionen deutlich. Hierauf gründet sich das Phänomen der amerikanischen "Zivilreligion" (civil religion), die das Politische mit einer quasi religiösen Komponente unterlegt.

Der ungebrochene Nationalstolz geht allerdings einher mit einem nicht gerade ausgeprägten Interesse an fremden Ländern. Kenntnisse über Deutschland und Europa sind in breiten Bevölkerungsschichten der USA nur relativ gering vorhanden. Wenn etwas über Deutschland berichtet oder in Filmen thematisiert wird, dann sind es häufig noch immer der Nationalsozialismus und der Holocaust bzw. neonazistische Ausschreitungen gegenüber ausländischen Personen. Andererseits wird Deutschland in Umfragen als zuverlässig demokratisches Land mit vielen sozialen Errungenschaften eindeutig positiv bewertet. In Deutschland existiert neben einer überwiegend positiven Einschätzung der USA auch die Tradition des "Anti-Amerikanismus", dessen Wurzeln bereits im 19. Jahrhundert liegen. Grundlegender Tenor dieser Sichtweise ist der Vorwurf, die Menschen dort seien allzu materialistisch veranlagt, kulturlos und oberflächlich und wollten die Welt im Sinne ihrer Kultur amerikanisieren. Allerdings werden und wurden diese auch in anderen Ausprägungen vorkommenden Stereotypen immer von einer intellektuellen Minderheit vertreten.

Fest steht, dass Deutschland, insbesondere das vormalige Westdeutschland, im 20. Jahrhundert politisch, wirtschaftlich und kulturell stark durch die Vereinigten Staaten geprägt worden ist. In beiden Weltkriegen war das militärische Eingreifen der USA entscheidend, und nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte das langfristige US-amerikanische Engagement dafür, dass Deutschland seinen Weg zurück in die westliche demokratische Gemeinschaft fand. Das Verhältnis beider Nationen wird – trotz der im 21. Jahrhundert auftretenden Konflikte wie jener um den Irak-Krieg oder in jüngster Zeit die NSA-Affäre – auch in Zukunft kooperativ und konstruktiv bleiben. Wichtig wird dabei die Bereitschaft sein, gegenseitige Toleranz bei möglicherweise konkurrierenden Ansichten zu üben. Eine solide Kenntnis der historisch gewachsenen Eigenarten des jeweils anderen Landes ist dabei hilfreich.

Prof. Dr. Jörg Nagler war Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Washington, D.C., Direktor des Kennedy Hauses Kiel und lehrt seit 1999 Nordamerikanische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sozial- und Politikgeschichte der USA im 19. und 20. Jahrhundert, Krieg und Gesellschaft in den USA, Immigrationsgeschichte, deutsch-amerikanischer Kulturtransfer und afroamerikanische Geschichte.