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Gesellschaftsstruktur der USA | USA – Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft | bpb.de

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Gesellschaftsstruktur der USA

Jörg Nagler

/ 10 Minuten zu lesen

Als Einwanderungsland sind die USA geprägt durch eine Vielzahl kultureller Einflüsse und eine multiethnische, segmentierte Gesellschaft. Religion spielt im Alltag der US-amerikanischen Bevölkerung eine bedeutende Rolle, die USA gelten als religiösestes Land der westlichen Industriestaaten.

Die ethnische Zusammensetzung der US-Bevölkerung ist sehr vielfältig. Kantine der Wicklow-Grundschule in Sanford, Florida (© picture alliance / landov / George Skene)

Bevölkerungsentwicklung

Zuwanderung in die USA (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 853 513; Quelle: Office of Immigration Statistics)

Ende 2013 lebten in den 50 Einzelstaaten der USA ca. 317 Millionen Menschen. Die Einwohnerzahl hat sich seit 1941 mehr als verdoppelt und wird nach demografischen Berechnungen im Jahre 2050 knapp 440 Millionen betragen.
2010 waren etwa 37 Millionen US-Amerikaner im Ausland geboren, das entspricht ca. 13 Prozent der Gesamtbevölkerung. Seit der Zensuserhebung von 1990 ist der Anteil der Zugewanderten an der Gesamtbevölkerung um mehr als 50 Prozent gestiegen. Über 40 Prozent aller im Ausland geborenen US-Staatsbürgerinnen und -bürger sind seit 1990 in die Vereinigten Staaten eingewandert. Innerhalb dieser Gruppe stammen wiederum über 41 Prozent aus Lateinamerika und etwa 37 Prozent aus Asien.

Auch die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert. Im Zensus von 1950 hatte der Anteil der Afroamerikaner noch bei ca. zehn Prozent gelegen, 2010 wurde ihr Anteil auf ca. 39 Millionen und damit etwa 12,2 Prozent der Gesamtbevölkerung geschätzt.
Der weiße Bevölkerungsanteil wird nach demografischen Vorausberechnungen schrumpfen, von ca. 63 Prozent im Jahr 2012 auf 43 Prozent im Jahr 2060. Im gleichen Zeitraum wird die schwarze Bevölkerung von 13 auf 15 Prozent und die asiatische von 5,1 auf ca. 8,2 Prozent anwachsen. Den größten Zuwachs wird es bei der hispanoamerikanischen Bevölkerung geben: 2012 betrug ihr Anteil 17 Prozent, was ca. 50 Millionen Menschen entspricht. 2060 werden sie voraussichtlich 31 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.

Ethnische Gruppen (© Grafik 31 – Thema: Martin Luther King, „He Had a Dream“, in: DIE ZEIT Nr. 35 vom 22. August 2013)

Wie in den meisten Industrienationen nimmt die Geburtenrate (Lebendgeborene pro Frau) auch in den USA kontinuierlich ab. Allerdings liegt sie mit 2,1 (Stand 2010) weitaus höher als in Deutschland mit 1,39 (Stand 2010). Nach dem "Baby-Boom" zwischen 1940 und 1960 mit durchschnittlich 24 Geburten auf 1 000 Einwohner ist die Geburtenziffer beständig gesunken und erreichte 2010 einen Stand von ca. 13 Geburten pro 1 000 Einwohner. Dies wird weitreichende Konsequenzen für die Altersstruktur und die Sozialversicherung der Bevölkerung haben, zumal die durchschnittliche Lebenserwartung US-amerikanischer Bürgerinnen und Bürger weiter steigt: 1960 betrug sie für Männer 66,6 und für Frauen 73,1 Jahre, 2010 dagegen 76,2 respektive 80,7 Jahre. Der Anteil der über 65-Jährigen hat sich seit 1940 fast verdoppelt. Im Jahr 2010 betrug er 13,6 Prozent der Gesamtbevölkerung und wird in den nächsten Jahrzehnten noch erheblich ansteigen. Allerdings werden, wie immer in der Geschichte der USA, neue Immigranten die Altersstruktur günstig beeinflussen.

Multiethnische Gesellschaft

Afroamerikanische Bevölkerung

Eines der zentralen Probleme der US-Gesellschaft, sowohl in sozial-materieller als auch in kultureller und vielfach auch mentaler Hinsicht, ist die nach wie vor deutliche Kluft zwischen Schwarz und Weiß. Trotz großer Fortschritte in den letzten Jahrzehnten – etwa durch gezielte Quotenregelung und Vorzugsbehandlungen von Minoritäten im Rahmen verschiedener Regierungsprogramme zum Abbau von Benachteiligungen – werden Afroamerikaner vielerorts noch immer diskriminiert. In Bildungseinrichtungen und wichtigen Positionen des öffentlichen Lebens sind sie nach wie vor unterrepräsentiert.
Zwar ist eine selbstbewusste schwarze Mittelschicht entstanden, die in vielen Bezirken harmonisch mit Weißen zusammenlebt und -arbeitet – eine Entwicklung, die letztendlich auf die Aktivitäten der Bürgerrechtsbewegung zurückzuführen ist. Doch problematisch bleiben nach wie vor die oft ausweglose soziale Situation der schwarzen Unterschichten und deren negative Wahrnehmung durch Weiße sowie zum Teil auch durch die schwarze Mittel- und Oberschicht.

Was wurde aus dem Traum? (© Thema: Martin Luther King, „He Had a Dream“, in: DIE ZEIT Nr. 35 vom 22. August 2013)

Ebenso wie im "weißen Amerika" ist die Einkommensverteilung innerhalb der afroamerikanischen Einwohnerschaft ungleichgewichtiger geworden: Während 6,5 Prozent ihrer Spitzenverdiener über ein durchschnittliches Jahreseinkommen von über 100 000 Dollar verfügen, verdienen die zum unteren Viertel der Skala Gehörenden lediglich 15 000 Dollar im Jahr. Wie explosiv die soziale Situation verarmter schwarzer Unterschichten wirken kann, dokumentierten die Unruhen in Los Angeles von 1992. Nach dem Freispruch von vier Polizisten, die den Afroamerikaner Rodney King misshandelt hatten und dabei gefilmt worden waren, hielten gewaltsame Ausschreitungen mehrere Tage an und kosteten 38 Menschen das Leben. Insgesamt 3 700 Gebäude wurden niedergebrannt und 4 000 Personen inhaftiert.

Um den fortbestehenden rassistischen Tendenzen entgegenzuwirken, setzte Präsident Clinton 1997 eine Untersuchungskommission ein, deren Ergebnisse zu einer Erhöhung der Zuwendungen für minderprivilegierte ethnische Gruppierungen wie die Hispano- und Afroamerikaner führten. Außerdem wurde beschlossen, ein Netzwerk von hate crime-Meldegruppen zu etablieren.

In den letzten Jahrzehnten hat die schwarze Bevölkerung mehr als je zuvor Einfluss auf die politische und kulturelle Entwicklung im Land gewonnen. Ihr Ausbildungsstand, gemessen an High School-Abschlüssen, hat sich seit den 1960er-Jahren stetig verbessert. Besaßen 1965 nur 27 Prozent aller Schwarzen (51 Prozent bei Weißen) einen High School-Abschluss, so stieg ihr Prozentsatz bis 2013 auf ca. 85 (88 bei Weißen). Auch in der US-amerikanischen Populärkultur, insbesondere in Sport und Musik, nehmen sie einen hohen Rang ein. Viele schwarze Künstler und Literaten – wie die Nobelpreisträgerin von 1994, Toni Morrison – genießen auch weltweit großes Ansehen. Und die politischen Parteien müssen das afroamerikanische Wählerpotenzial ins Kalkül ziehen, wollen sie erfolgreich sein. Die steigende soziale Akzeptanz der schwarzen Bevölkerung wird durch Umfragen belegt: Während 1958 nur 38 Prozent der Befragten bereit gewesen waren, einen afroamerikanischen Präsidenten zu akzeptieren, waren dies 1990 bereits 84 Prozent der Befragten, und 2008 wurde Barack Obama zum ersten schwarzen Präsidenten der USA gewählt.

Drückend bleiben die Lebensumstände der schwarzen Unterschichten und das damit verbundene gesellschaftliche Gefahrenpotenzial. Im Jahr 2010 lag der Anteil der Afroamerikaner an der unter der Armutsgrenze lebenden Bevölkerung bei 27,4 Prozent. Fast die Hälfte davon waren Kinder und Jugendliche. Der Anteil allein erziehender schwarzer Mütter lag 2011 bei ca. 68 Prozent im Vergleich zu 29 Prozent bei Weißen.

Angesichts dessen ist eine Verbesserung der Bildungs- und Ausbildungschancen eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft, um eine gesellschaftliche Integration zu fördern, Kriminalität und Bandentum zu reduzieren sowie der Drogenproblematik zu begegnen. Zusätzlich kompliziert wird diese Aufgabe jedoch durch neue Zuwanderungsströme, die in den Problemzonen der Großstädte für neue Spannungsfelder sorgen. 2013 protestierten Tausende gegen den Freispruch eines Mannes, der als Mitglied einer Bürgerwehr am 26. Februar 2012 in Sanford, Florida den unbewaffneten Teenager Trayvon Martin erschossen hatte. Das Thema der Rassenbeziehungen in den USA wird sicherlich auch künftig ein zentrales gesellschaftliches Problemfeld bleiben.

Hispanoamerikanische Bevölkerung

Die Ursachen für die starke und wachsende Präsenz der hispanoamerikanischen Bevölkerung in den USA sind vielfältig. Sie ist unter anderem durch die Gebietserweiterungen im 19. Jahrhundert bedingt, welche mexikanische Bevölkerungsgruppen in das US-amerikanische Territorium einbezogen; des Weiteren durch die Arbeitsmigrationen während des Ersten und des Zweiten Weltkrieges, die Kubanische Revolution von 1959 sowie die politische Instabilität in Zentral- und Südamerika in Verbindung mit dortigen negativen wirtschaftlichen Entwicklungen.

Die hispanoamerikanische Bevölkerung ist seit 2000 die größte ethnische Minorität des Landes. 2010 stellte sie mit rund 50 Millionen Menschen 16,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Ihre Gruppe zeigt ein heterogenes Profil, was allein schon durch die verschiedenen Herkunftsgebiete zu erklären ist: 63 Prozent stammen aus Mexiko (Chicanos), 8,6 aus Zentral- und Südamerika, 9,2 aus Puerto Rico, sieben aus dem karibischen Raum und 3,5 Prozent aus Kuba. Zusätzlich weist die hispanoamerikanische Bevölkerungsgruppe unterschiedliche Charakteristika in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht auf. Ähnlich wie bei Afroamerikanern ist jedoch eine hohe Armutsrate zu verzeichnen.

Der Ausbildungsstand der Hispanoamerikanerinnen und -amerikaner ist nach wie vor tendenziell niedrig; nur knapp die Hälfte von ihnen verfügt über einen Highschool-Abschluss. Da die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt sich auf Personen mit einem höheren Schul- und Hochschulabschluss konzentriert, wird sich ihre Situation, besonders bei neu Eingewanderten, nach Einschätzung des US-amerikanischen Zensusbüros in Zukunft eher verschlechtern als verbessern.
Nach den Prognosen dieser Behörde wird sich der hispanoamerikanische Bevölkerungsanteil bis zum Jahr 2050 auf über 100 Millionen verdoppeln. Die Gründe für diesen rapiden Anstieg liegen in hohen Geburtenraten und einer anhaltend hohen Zuwanderung, die allein zwischen 1990 und 1994 nahezu zwei Millionen Menschen in die Vereinigten Staaten brachte. Die höchsten hispanoamerikanischen Bevölkerungsanteile gibt es in Kalifornien, Texas, New York und Florida.

Asiatische/Pazifische Bevölkerungsgruppe

Im Jahr 2010 lebten etwa 14,6 Millionen Menschen asiatischer und pazifischer Abstammung in den USA. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung beträgt damit 4,8 Prozent und wächst – maßgeblich durch Neuzuwanderungen – seit 1990 jährlich um ca. zwei Prozent. Die Gruppe der Asian Americans ist äußerst heterogen und unterscheidet sich durch eine Vielzahl von Sprachen, Kulturen sowie den Zeitpunkt ihrer Einwanderung und den damit in Verbindung stehenden Assimilationsgrad. Sie lebt mehrheitlich in den drei Bundesstaaten Kalifornien, New York und Hawaii und dort hauptsächlich (zu 94 Prozent) in Großstädten.

Im Vergleich zu anderen ethnischen Minderheiten in den USA haben sie einen hohen Bildungsgrad: 90 Prozent der männlichen und 80 Prozent der weiblichen Asian Americans verfügen über einen Highschool-Abschluss. Eine mögliche Ursache liegt in der zum Teil sehr strengen Selektion, die der US-Einwanderungsbehörde bei asiatischen Immigranten unterstellt wird. Angesichts ihrer überproportionalen Präsenz an höheren Bildungseinrichtungen, ihres wirtschaftlichen Erfolgs und ihrer raschen Assimilation werden sie von offiziellen Stellen gern als vorbildliche Einwanderungsgruppe hingestellt – ein bemerkenswerter Umstand, gab es doch sowohl in der Zeit des Zweiten Weltkrieges als auch noch geraume Zeit danach eine stark rassistisch unterlegte Diskriminierung von Asiaten, die vor allem Japano-Amerikaner betraf. Ihre heutige Stellung erweckt dagegen teilweise den Neid anderer ethnischer Minderheiten, was in Ballungsgebieten auch zu Konflikten geführt hat. Allerdings liegt die Armutsrate bei der asiatisch-amerikanischen Bevölkerung mit durchschnittlich 12,1 Prozent immer noch höher als bei der weißen (9,9 Prozent).

Native Americans

Mit 2,9 Millionen (0,9 Prozent der Gesamtbevölkerung im Jahr 2010) stellen die indianischen Ureinwohner (Native Americans) nur noch eine der kleinsten ethnischen Minderheiten dar, die sich wiederum aus über 500 Stämmen oder "Nationen" zusammensetzt. Doch im Vergleich zu 1970, als der Zensusbericht lediglich 800 000 Native Americans aufwies, zeigt sich eine große Steigerungsrate. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass bei der Erfassung der neuen Bevölkerungsdaten die ethnische Selbstzuordnung als Kriterium herangezogen wird: Das seit 1970 stark gewachsene indianische Selbstbewusstsein hat wohl dazu geführt, dass sich die Befragten eher zu ihrer indianischen Abstammung bekennen als früher.

Bevor im Kontext der Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre auch die Rechte der amerikanischen Ureinwohner eingeklagt wurden, war die offizielle Indianerpolitik mit dem Versuch gescheitert, sie außerhalb der Reservate anzusiedeln oder aber diesen Gebieten den Sonderstatus zu nehmen. Seit den 1960er-Jahren hat sich das Prinzip der Selbstverwaltung in den Reservaten in Verbindung mit einer wirtschaftlichen Stärkung durchgesetzt, nicht zuletzt durch die zunehmende Agitation indianischer Gruppen, die die Öffentlichkeit immer wieder auf ihr erlittenes Unrecht hinwiesen. 1978 wurde der American Indian Religious Freedom Act verabschiedet, der die verschiedenen religiösen Praktiken der Native Americans den anderen Religionen in den USA – vornehmlich Christentum, Judentum und Islam – gleichstellte.
Etwa 500 000 Nachkommen der indianischen Ureinwohner leben zurzeit in 314 Reservaten oder treuhänderisch verwalteten Gebieten mit einer Gesamtgröße von 6,4 Millionen Hektar (etwas weniger als die Fläche von Bayern), die in ihrer Größe, Bodenbeschaffenheit und den vorhandenen Bodenschätzen recht unterschiedlich sind. Siedlungsschwerpunkte sind Oklahoma (252 000 Menschen), Kalifornien (242 000), Arizona (204 000) und New Mexico (134 000). Nach wie vor zeigen die Statistiken ein beklemmendes Bild der indianischen Befindlichkeit: Unter allen ethnischen Minderheiten besitzt diese Gruppe die höchste Armutsrate (2010 nahezu ein Drittel), die höchste Arbeitslosenquote und die höchste Krankheitsanfälligkeit. Alkohol- und Drogenkonsum sind beträchtlich, die Selbstmordrate ist hoch.

Religionszugehörigkeiten

Die USA sind das religiöseste Land der westlichen Industriestaaten. Das bestätigen der Prozentsatz an Kirchenmitgliedschaften, die Anzahl der Gottesdienstbesucher sowie Umfrageergebnisse zum Verhältnis zur Religion. Befragungen zufolge räumt die Mehrheit der Bevölkerung der Religion einen wichtigen Stellenwert in ihrem Leben ein. Die in der Bill of Rights garantierte Religionsfreiheit praktizieren die US-Amerikanerinnen und -Amerikaner in mehr als 250 vorwiegend protestantischen oder katholischen Kirchen, aber auch vielen anderen Glaubensgemeinschaften unterschiedlichster Herkunft. Jene Freiheit war ein Motiv für viele religiös verfolgte Gruppen, in die USA auszuwandern. Ebenso wie die Parteien sind die Glaubensgemeinschaften dezentrale, regionale und wenig hierarchisierte Einrichtungen, die fast ausschließlich von ihren Mitgliedern finanziert werden. Eine wie in Deutschland staatlich eingezogene Kirchensteuer ist in den USA wegen der historisch gewachsenen strikten Trennung zwischen Staat und Kirche undenkbar. Die meisten Kirchen engagieren sich in sozialen Aufgaben der jeweiligen Gemeinden, kümmern sich um die Notleidenden in ihrem Umfeld und bemühen sich um die Verbesserung der Lebensbedingungen von Minderheiten.

In der Religionsgeschichte der Vereinigten Staaten kam es immer wieder zu Erweckungs- und Erneuerungsbewe-gungen, hauptsächlich innerhalb des anglo-amerikanischen Protestantismus. Dieses seit dem 18. Jahrhundert wiederkehrende Phänomen war Ausdruck konservativer Gegenströmungen zu den Kräften der Modernisierung. Verbunden mit einer Wiederbelebung des individuellen Gotteserlebnisses waren diese Bewegungen gleichzeitig ein Protest gegen eingefahrene kirchliche Praktiken und Hierarchien. Oft wurden sie von Laienpredigern ausgelöst, die schnell an Popularität und Zulauf gewannen.

Im 20. Jahrhundert setzten dann Prediger wie der Baptist Billy Graham erstmalig die modernen Medien zur Verbreitung ihres Glaubens und genereller Evangelisation ein. Seit den 1980er-Jahren existiert auch das Phänomen der electronic church mit den sogenannten Fernsehevangelisten, die eigene Sender betreiben und in bestimmten Regionen, insbesondere den Südstaaten, erheblichen politischen Einfluss besitzen.

Die letzte Untersuchung zur "religiösen Landschaft" in den USA, durchgeführt vom Pew Research Center 2008, belegt die Vielzahl von Religionsgemeinschaften, zeigt aber auch eine extreme Fluktuation. 78,4 Prozent der Befragten gaben an, dem christlichen Glauben anzugehören. 28 Prozent der Erwachsenen haben die Glaubenszugehörigkeit ihrer Kindheit verlassen, sich einer anderen zugewandt oder sich keiner mehr angeschlossen. Die Untersuchung bestätigt den Trend der letzten Jahre, nach dem die USA bald keine mehrheitlich protestantisch ausgerichtete Nation mehr sein werden. Nur noch knapp mehr als die Hälfte der Befragten fühlt sich den protestantisch orientierten Religionsgruppen zugehörig, deren unzählige Richtungen man in drei Hauptgruppen einteilen kann: evangelikale (26,3 Prozent), dem mainstream zuzuordnende (18,1 Prozent) sowie schwarze Kirchen (6,9 Prozent). Einen erheblichen "Nettoverlust" musste der Katholizismus hinnehmen: Während 31 Prozent aller US-amerikanischen Christen ursprünglich katholisch erzogen wurden, bezeichnen sich heute nur 24 Prozent der erwachsenen Christen als Katholiken. Diese Verluste wären wahrscheinlich ohne Einwanderer aus katholischen Regionen, vor allem Lateinamerika, noch höher; bei den neuen Immigrantengruppen liegt das Verhältnis zwischen Katholiken und Protestanten inzwischen etwa bei zwei zu eins.
Zum jüdischen Glauben zählen sich 1,7 Prozent der Bevölkerung, zum buddhistischen 0,7 Prozent und zum muslimischen 0,6 Prozent. 16,1 Prozent der Bevölkerung stehen keiner bestimmten Konfession nahe; innerhalb dieser Gruppe überwiegen diejenigen mit keinerlei religiöser Bindung; 5,8 Prozent dieser Gruppe ist Religion in ihrem Leben gleichwohl wichtig.

QuellentextZwillinge – Religion und Freiheit in den USA

[…] Die Rolle von Glaube und Religion in der heutigen Gesellschaft ist jenes Merkmal, an dem sich die unterschiedlichen Entwicklungen in Amerika und Europa am klarsten manifestieren: Amerika glaubt – noch immer, Europa glaubt nicht – schon lange nicht mehr. Anders als die meisten Länder Europas haben die Vereinigten Staaten gewissermaßen ihren "Kinderglauben" behalten: Amerika verstößt gegen das religionssoziologische Grundgesetz, wonach der Prozess der Modernisierung einer Gesellschaft mit einem Prozess der Säkularisierung einhergeht. Der Befund, dass Amerika unter den wohlhabenden und entwickelten Nationen über ein einzigartig vitales religiöses Leben verfügt, ist durch zahlreiche empirische Studien und Umfragen belegt. In den meisten europäischen Staaten sind die Kirchen an Sonntagen nur spärlich besetzt, die Gottesdienstbesucher weisen einen relativ hohen Altersdurchschnitt auf.

Ganz anders in Amerika. Wer an Sonntagen vormittags über das Land oder durch die Vorstädte fährt, sieht vor fast jeder Kirche überfüllte Parkplätze (und an Samstagen vor den Synagogen sowie an Freitagen vor den Moscheen). Es gibt rund 200 christliche Fernsehstationen und gut 1 300 christliche Rundfunksender. Die Wochenzeitung "US News & World Report" hat ermittelt, dass es in den Vereinigten Staaten mehr Kirchen, Synagogen, Moscheen und Tempel pro Einwohner gibt als in jedem anderen Land der Welt: Durchschnittlich kommt ein Gotteshaus auf 865 Einwohner.

Das öffentliche Anrufen Gottes und der Dank an den Allmächtigen ist in Amerika für den Präsidenten wie für Profisportler und Popstars ein herkömmliches Ritual, an dem niemand Anstoß nimmt. Schließlich wird schon in der Unabhängigkeitserklärung ausdrücklich "der Schöpfer" als Ursprung der unveräußerlichen Rechte auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück genannt. Als die puritanischen Pilgerväter mit ihren Schiffen an der Küste Neuenglands landeten, erhofften sie sich Freiheit der Religion in der Neuen Welt nicht im Sinne von Freiheit von der Religion, sondern im Gegenteil als Freiheit für die Religion, nämlich für ihre eigene.

[…] Schon dem moralischen Utopismus der Siedler lag ein Verständnis von Religion zugrunde, das bis heute das religiöse Leben Amerikas prägt – so wie die religionskritische Tradition Europas des 18. und 19. Jahrhunderts das religiöse Leben im Europa von heute prägt. Religion und Freiheit sind in Amerika seit je Zwillingsgeschwister. Denn anders als in der Alten Welt gab und gibt es in der Neuen Welt keine Staatskirchen. Nicht umsonst verbietet der Erste Verfassungszusatz dem Kongress nicht nur, die freie Ausübung der Religion zu untersagen, sondern auch, eine Religion (als die des Staates) zu gründen. […]
Der erste Verfassungskongress von 1774 begann mit der Verlesung eines Psalms durch einen Pfarrer der Episkopalkirche. Die Unabhängigkeitserklärung nimmt an vier Stellen auf Gott Bezug – als Schöpfer, als Oberster Richter, als Gesetzgeber und als Herr über die Vorsehung. Selbst Thomas Jefferson, der am stärksten weltlich orientierte Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung, der später eine "Mauer der Trennung zwischen Kirche und Staat" forderte, war der Überzeugung, dass "keine Nation jemals ohne Religion existiert hat oder regiert wurde – noch dass dies einmal der Fall sein wird". […]

Zumal in Zeiten von Krise und Krieg haben amerikanische Präsidenten die Beförderung der Demokratie als Amerikas vornehmste Aufgabe in der Welt beschrieben – und zugleich als Mission im Einklang mit dem Willen Gottes. Der amerikanische Historiker Walter Russell Mead hat daher vom "nationalen Messias-Komplex" gesprochen: Generationen von Amerikanern und ihre Präsidenten waren und sind der festen Überzeugung, dass die amerikanische Gesellschaftsform, die auf dem Gottesgeschenk der Freiheit beruht, die bestmögliche überhaupt ist und dass die Welt im Ganzen ein besserer Ort wäre, wenn sie amerikanischer würde. Bis heute ist die Ideologie wirkmächtig, wonach die Expansion der amerikanischen Macht in den "Wilden Westen" und später in der ganzen Welt keine Eroberung gewesen sei, sondern vielmehr die territoriale Ausdehnung einer Heilsmission. […]

Matthias Rüb, "Gottes Hand in Gettysburg", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Juli 2013

Prof. Dr. Jörg Nagler war Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Washington, D.C., Direktor des Kennedy Hauses Kiel und lehrt seit 1999 Nordamerikanische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sozial- und Politikgeschichte der USA im 19. und 20. Jahrhundert, Krieg und Gesellschaft in den USA, Immigrationsgeschichte, deutsch-amerikanischer Kulturtransfer und afroamerikanische Geschichte.