Mit wenigen Ländern unterhält die Türkei so intensive Beziehungen wie mit Deutschland. In der Bundesrepublik leben drei Millionen Personen, die ihre Wurzeln in der Türkei haben. Von ihnen hat die Hälfte die deutsche Staatsbürgerschaft. Eng sind auch die wirtschaftlichen Beziehungen. In der Türkei haben 7700 deutsche Unternehmen investiert, traditionell ist Deutschland der wichtigste Exportmarkt der türkischen Unternehmen.
In der NS-Zeit haben mehrere hundert Verfolgte aus Wissenschaft und Kunst aus Deutschland und Österreich in der Türkei im Exil gelebt, wo sie am Aufbau eines modernen Hochschulwesens beteiligt sowie als Städteplaner und Architekten tätig waren. Seit dem Kulturabkommen von 1957 ist die Kultur ein Schwerpunkt der Beziehungen. Auf der Grundlage des Abkommens werden deutsche LehrerInnen an die deutschsprachigen Gymnasien wie das Alman Lisesi und das Istanbul Lisesi entsandt sowie kulturelle Einrichtungen unterhalten, etwa das Goethe-Institut, das Deutsche Archäologische Institut, der Deutsche Akademische Austauschdienst und das Orient-Institut.
Am 7. September 2006 unterzeichneten die Außenminister beider Länder in Istanbul die Ernst-Reuter-Initiative, die nach dem früheren Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter benannt ist, der von 1935 bis 1946 an der Universität in Ankara Stadtplanung lehrte. Die Initiative dient als Rahmen für gemeinsame Projekte des Jugendaustausches und der akademischen Kooperation. Ein Leuchtturmprojekt ist die Deutsch-Türkische Universität im Istanbuler Stadtteil Beykoz, die ihren Lehrbetrieb im Wintersemester 2013/14 aufgenommen hat. Auf die Ernst-Reuter-Initiative geht auch die deutsch-türkische Kulturakademie im Istanbuler Stadtteil Tarabya zurück, in der mit Stipendien geförderte KünstlerInnen aus verschiedenen Sparten arbeiten.
Tiefpunkt 2016
Auf einen Tiefpunkt fielen die Beziehungen im Sommer 2016. Auslöser war die Verabschiedung einer Resolution im Bundestag, die die Tötung von bis zu 1,5 Millionen ArmenierInnen in den Jahren 1915 und 1916 im Osmanischen Reich als Völkermord bezeichnete. Deutschland war das 25. Land, das den Massenmord an den ArmenierInnen als Genozid wertete. Die Resolution enthält einen Hinweis darauf, dass das Deutsche Reich als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs nicht versucht habe, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen.
Die Türkei verhängte ein Besuchsverbot für die in Incirlik stationierten deutschen Soldaten, die Teil der internationalen Koalition im Kampf gegen den Islamischen Staat waren. Die Beziehungen verschlechterten sich weiter, als Deutschland im Frühjahr 2018 den Einmarsch der türkischen Armee in die von KurdInnen bewohnte nordsyrische Provinz Afrin kritisierte. Deutsche StaatsbürgerInnen, die ebenfalls die türkische Staatsangehörigkeit besitzen, wurden wegen Aussagen festgenommen, die in der Türkei als Präsidentenbeleidigung oder Terrorunterstützung geahndet werden, in Deutschland aber unter freie Meinungsäußerung fallen. Zeitweise durften 74 deutsche StaatsbürgerInnen aufgrund von Ausreisesperren das Land nicht verlassen. Die politischen Kontakte brachen aber nicht ab. Gesprächsthemen waren die Lage in Syrien und die Zusammenarbeit bei der Befriedung Libyens.
Die Beziehungen blieben schwierig. Am 1. Juli 2022 sperrte die Türkei die türkischsprachige Webseite der Deutschen Welle, Ende Februar 2023 musste die Deutsche Welle ihr Verbindungsbüro in der Türkei komplett schließen. Bei der Geberkonferenz nach dem Erdbeben vom 6. Februar am 20. März 2023 in Brüssel war Deutschland der größte bilaterale Geber.
Türkische Community
Erdoğan rief 2008 in Köln die in Deutschland lebenden TürkInnen dazu auf, ihre Kultur, Religion und Identität zu bewahren. Er verurteilte Assimilation als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Umstritten ist, in welchem Maße DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion), der deutsche Ableger der türkischen Religionsbehörde Diyanet, mit seinen tausend Moscheegemeinden in Deutschland und den entsandten Imamen die Sozialintegration behindert. Kritik rief hervor, dass Imame nach dem Putschversuch von 2016 dazu aufriefen, Anhänger des Predigers Gülen zu diffamieren, und dass Predigten den Einmarsch der türkischen Armee in Nordsyrien verherrlichten.
Wie eng die türkeistämmige Community in Deutschland mit der Türkei verbunden ist, zeigt sich an ihrer hohen Beteiligung an türkischen Wahlen. Deutschland ist das Land mit den meisten wahlberechtigten TürkInnen außerhalb der Türkei. Bei den Wahlen vom 14. Mai gaben 50 Prozent der 1,5 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab, obwohl bundesweit nur 17 Wahllokale zur Verfügung standen. Am 14. Mai stimmten 65,5 Prozent für Erdoğan, bei der Stichwahl 67,4 Prozent. Sunnitische TürkInnen stimmen überwiegend für Erdoğan und dessen AKP, die Angehörigen von Minderheiten wie KurdInnen und AlevitInnen überwiegend für Oppositionsparteien.
QuellentextDie Angst bleibt
Als vor dreißig Jahren in Solingen das Haus der Familie Genç niederbrannte, da waren Bilge Yüksel (25), Yahya Alkan (23) und Ömer Dökmeci (22) noch gar nicht geboren. Und doch bekamen sie schon als Kinder und Jugendliche mit, wie sehr die Angst vor rassistischer Gewalt ihre Elternhäuser, Familien und Freundeskreise bestimmte. Die drei Studierenden begegneten sich bei einem Seminar zum Solinger Anschlag der Historikerin Franka Maubach an der Uni Wuppertal. Dort entwickelten sie ein Interviewprojekt mit dem Ziel, deutschtürkische Zeitzeugen des Solinger Anschlags 1993 zu befragen. Entstanden ist eine Reihe von Tiefeninterviews, die Auskunft geben über das Deutschland der frühen Neunziger, aber auch die Sichtweisen und Erfahrungen der türkeistämmigen Bevölkerung. […]
DIE ZEIT: Was hat Sie in Ihren Gesprächen über Solingen am meisten überrascht?
Ömer Dökmeci: Wie viele Teilnehmer gar nicht glaubten, dass es relevant ist, was sie dazu denken. „Was soll ich dazu sagen?“ – ich weiß nicht, wie oft wir diese Frage gehört haben.
Yahya Alkan: Sobald sie dann mit dem Erzählen angefangen hatten, hörten sie gar nicht mehr auf zu reden. Es war so viel, dass wir am Ende in den Transkripten vieles herausstreichen mussten. Und auch das war überraschend: Jeder, den ich gesprochen habe, war danach positiv gestimmt. Einer sagte zum Schluss, dass wir Menschen mehr lieben müssen. […]
Yüksel: Der Anschlag von 1993 ist tief im Gedächtnis aller migrantischen Zeitzeugen eingebrannt, egal ob sie in Solingen, Remscheid oder ganz woanders lebten. Und trotzdem ist das Sprechen darüber für viele eine neue Erfahrung. Es wird nicht direkt totgeschwiegen, es wird viel von Mund zu Mund weitergegeben. Aber ich glaube nicht, dass es wirklich je aufgearbeitet wurde. Viele wollen einfach vergessen, wie es damals war. […]
Alkan: Bei vielen Deutschtürken herrscht bis heute eine gewisse Vorsicht. Die Eltern geben den Kindern mit: Pass auf, egal wo du bist, es können immer rassistische Übergriffe passieren. Bei den weißen Deutschen dagegen ist die Angst gar nicht da, selbst von rassistischer Gewalt betroffen zu sein. Deswegen sind die Geschehnisse von 1993 vielen unter ihnen gar nicht mehr präsent. Gerade in der jüngeren Generation mussten wir oft erstmal erklären, was 1993 genau geschehen ist.
In den Morgenstunden des 29. Mai 1993 dringen vier Deutsche in den Flur des Hauses der Familie Genç in Solingen ein. Es ist Rassismus, der sie treibt. Die Täter legen ein Feuer, das schnell zum Inferno wird. 17 Menschen werden verletzt, fünf sterben, unter ihnen drei Kinder. Der Mordanschlag von Solingen gilt neben dem Anschlag von Mölln und den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen als einer der Tiefpunkte der rassistischen Gewalt in Deutschland am Beginn der neunziger Jahre. […] 1992 und 1993 kommt es zeitweise fast täglich zu Brandanschlägen auf Asylbewerberunterkünfte. Allein in diesen beiden Jahren sterben in Deutschland 52 Menschen durch rechte Gewalt.
DIE ZEIT: Was berichteten Ihnen Ihre Gesprächspartner aus dieser Zeit?
[…] Yüksel: Es gibt traumatische, kollektive Erfahrungen. Ein Interviewpartner hat mir erzählt, wie er und andere nach dem Anschlag wochenlang aus Angst im Auto geschlafen haben. Oder dass man die Kinder angezogen zum Schlafen ins Bett gelegt hat, damit man notfalls schnell flüchten kann. Feuerlöscher und Strickleitern waren damals ständig ausverkauft, weil jede Familie auf einen Brandanschlag vorbereitet sein wollte. […]
DIE ZEIT: Manche sagen, dass der rassistische Hass in den Jahren nach Solingen etwas nachließ. Sehen Sie das auch so?
Yüksel: Nun ja, Asylunterkünfte brennen noch immer, Menschen werden noch immer aus rassistischen Gründen umgebracht. Unsere Generation hat dieselben Ängste vor rassistischer Gewalt, die auch schon die Generation davor hatte. Solingen ein Wendepunkt? Man könnte auch sagen: Unser Solingen heißt Hanau. Wenn rassifizierte Menschen in einer Shishabar erschossen werden, einem Raum, in dem sie sich – wie Familie Genç in ihrem Haus – sicher fühlen, dann ist das nicht weit weg von dem, was die Menschen damals erlebt haben. […]
In Hanau erschoss ein Täter im Februar 2020 aus rassistischen Motiven neun Menschen mit Migrationshintergrund und seine Mutter. […]
DIE ZEIT: Was hat sich geändert seit 1993?
Yüksel: Ich glaube, die Wahrnehmung von Rassismus. Was die Betroffenen selbst als Rassismus begreifen und was nicht. Ich hatte ein Interview mit einem deutschtürkischen Bauingenieur, der mir sagte, dass er nie Rassismus erlebt hätte, weil er sich immer anständig verhalten habe. Er hatte dieses Muster „guter Migrant – schlechter Migrant“ internalisiert, die Anpassung an alle möglichen angeblichen und tatsächlichen Erwartungen der Deutschen. Und dann erzählte er mir ein rassistisches Erlebnis nach dem anderen. Ich glaube, das ist auch ein Generationsunterschied.
Dökmeci: Viele aus der älteren Generation dachten und denken: Ich muss mich jetzt fügen. Ich muss es hinnehmen, dass mein Nachbar mich aus keinem erkennbaren Grund komplett ignoriert. Wenn ich da jetzt den Mund aufmache, dann kriege ich nur Probleme. Allein schon, dass auch solche Erfahrungen Rassismus sind und nicht erst, wenn man verprügelt wird, ist vielen nicht klar. […]
DIE ZEIT: Und in Ihrer Generation gibt es das nicht mehr?
Yüksel: Ich habe jedenfalls das Gefühl, da tut sich etwas. Ich muss nicht dankbar sein. Ich bin hier, ich bin deutsch und ich fordere mein Recht ein, wie alle anderen behandelt zu werden.
Alkan: Ich bin eher Deutscher als Türke. Ich lebe hier, ich studiere hier und ich bin dankbar dafür. Ich möchte später Lehrer werden in Deutschland, zur Bildung der Kinder beitragen. Nicht nur für mich, auch für das Land. […]
„Diese Angst wird nie vergehen“, Interview: Christian Bangel, in: DIE ZEIT Nr. 23 vom 1. Juni 2023