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Informationen zur politischen Bildung Nr. 356/2023

Wirtschaft

Rainer Hermann

/ 7 Minuten zu lesen

Mit Investitionen etwa in Infrastruktur und Tourismus konnte die Türkei ihre wirtschaftlichen Kernbranchen stärken. Hohe Inflationsraten treffen hingegen die Mittelschicht hart.

Quelle: Türkische Zentralbank, Internationaler Währungsfond, Türkisches Statistikamt; Die Zeit Nr. 25 vom 7. Juni 2023

Wirtschaftswunder in der Sackgasse

Die Türkei ist im östlichen Mittelmeer neben Israel das einzige Industrieland mit einer breit diversifizierten Wirtschaft. Der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt ist von 1950 bis 2022 von 54 Prozent auf 6 Prozent zurückgegangen, jener der Industrie stieg von 11 Prozent auf 31 Prozent. Entscheidend für die Industrialisierung waren die Öffnung der Wirtschaft in den 1980er-Jahren unter Ministerpräsident Turgut Özal und die Zollunion mit der EU von 1996.

Als Folge der Zollunion verzehnfachte sich der Export von 1995 bis 2022 auf 235 Milliarden US-Dollar, wobei sich die Struktur des Exports veränderte. 1995 waren Textilien der größte Posten, 2022 standen Automobile und Kfz-Teile an der Spitze. Seit 1995 verzehnfachte sich ebenfalls der Import und stieg auf 342 Milliarden US-Dollar. Mit dem Wachstum und dem Strukturwandel stieg auch der Energiebedarf, sodass sich der Anteil der Ölrechnung am Import auf 27 Prozent verdoppelte. Maschinen und Anlagen wurden der zweitgrößte Posten.

Eine Zäsur brachte die Wirtschaftskrise von 2001. Die Unternehmen waren wettbewerbsfähig geworden. Die Politik war aber weiterhin von Klientelismus geprägt, und so verteilten Politiker im Gegenzug für Loyalität und WählerInnenstimmen großzügig gruppenbezogene Subventionen. Das Loch im Staatshaushalt stopften sie mit Rekordzinsen für Staatsanleihen, die Staatsbanken vergaben verbilligte Kredite. Die Strukturreformen, die der Internationale Währungsfonds der Türkei verordnete, schränkten dann den Zugriff der Politik auf die Wirtschaft massiv ein. Sie schufen die Rahmenbedingungen, die ab 2002 das türkische Wirtschaftswunder ermöglichten.

Die Erfolgsgeschichte ging zu Ende, als die AKP-Regierung die Baubranche, die für schnelles Wachstum sorgt, zur Konjunkturlokomotive machte. Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt verdoppelte sich seit 2002 auf 9 Prozent. Das geschah auf Kosten der Investitionen in verarbeitende Industrien, die weniger schnell Gewinne abwerfen als etwa Investitionen in Immobilien. Die Regierung vernachlässigte Strukturreformen, sie höhlte die Unabhängigkeit der Zentralbank aus und betrieb eine Politik des billigen Geldes, was zur Inflation führte.

Die Zentralbank reagierte darauf nicht mit steigenden Zinsen. Sie senkte im Gegenteil auf Anweisung von Präsident Erdoğan den Leitzins von 2019 bis April 2023 von 24 Prozent auf 8,5 Prozent. Die Inflation stieg gegenläufig 2022 von 12 Prozent auf 72 Prozent. Erdoğan ist, entgegen der volkswirtschaftlichen Lehrmeinung, davon überzeugt, dass Zinsen die Ursache für die Inflation sind. Mit niedrigen Zinsen wollte er zudem Investitionen ankurbeln und Arbeitsplätze schaffen. Um den Wert ihres Geldes zu schützen, investierten die Wirtschaftsakteure in Immobilien und kauften Devisen, was zur Abwertung der Türkischen Lira führte. Die verteuerten Importe heizten den Preisauftrieb weiter an. Daher musste die Zentralbank mit umfangreichen Stützungskäufen in den Devisenmarkt intervenieren. Nach den Wahlen vollzog die Zentralbank eine Kehrtwende und hob den Leitzins bis zum 24. August 2023 in mehreren Schritten auf 25 Prozent an.

Als Folge der Wirtschafts- und Finanzpolitik schrumpfte nun die Mittelschicht, die im ersten Jahrzehnt der AKP-­Regierung gewachsen war. Zwar wächst die Wirtschaft weiter, viele ­TürkInnen spüren davon aber nichts. Denn die Inflation trifft die ärmeren Einkommensschichten härter als die reicheren. Ein Indikator dafür ist die Lohnquote, also der Anteil der ArbeitnehmerInnenentgelte am Volkseinkommen. Von 2002 bis 2016 stieg sie von 25 auf 32 Prozent. Seither fiel sie zugunsten der gestiegenen Unternehmens- und Vermögenseinkommen wieder auf 28 Prozent. In Deutschland liegt die Lohnquote bei über 70 Prozent.

Gute Infrastruktur

Zu den Erfolgen der AKP-Regierung zählt der Ausbau der materiellen Infrastruktur. Von 2003 bis 2022 hat sie in den Ausbau der Verkehrs- und Kommunikationsnetze 194 Milliarden US-Dollar investiert. Nach zwei Jahrzehnten ist die Türkei wesentlich besser erschlossen, als sie es zum Regierungsantritt der AKP war. Parallel stieg die Dichte der Automobile. 2002 waren 4,6 Millionen Personenkraftwagen (Pkw) angemeldet, 2022 waren es 14 Millionen. Die Zunahme illustriert den gestiegenen Wohlstand. Bis 2053 sind für den weiteren Ausbau der Infrastruktur Projekte von 200 Milliarden US-Dollar in Planung.

Der Löwenanteil entfiel in den zwei Jahrzehnten mit 118 Milliarden US-Dollar auf den Ausbau der Straßen. Das Autobahnnetz wurde auf 3633 Kilometer mehr als verdoppelt, das Netz der Schnellstraßen auf 28.700 Kilometer fast verfünffacht. Waren es 2002 erst 83 Straßentunnel, sind es heute 469. Das Schienennetz wurde von 10.900 auf 13.000 Kilometer ausgebaut. Die Zahl der Flughäfen stieg von 26 auf 57, ihre Kapazität von 55 Millionen auf 335 Millionen Reisende. In den zwei Jahrzehnten wurden über 400 Millionen Kilometer Glasfaserkabel verlegt.

Zu den Großprojekten zählen die dritte Bosporus-Brücke, die Brücke über die Dardanellen und die Brücke über den Golf von Izmit sowie der Großflughafen in Istanbul. Der 2019 nach fünf Jahren Bauzeit eröffnete Flughafen war 2022 mit 65 Millionen Reisenden der größte Flughafen Europas. In der ersten Phase ist er mit einem Terminal und vier Landebahnen für 90 Millionen Reisende ausgelegt. In einer zweiten Phase kann er auf eine Kapazität von 150 Millionen erweitert werden. Mit seiner strategischen Lage ist in Istanbul ein Luftdrehkreuz entstanden, das Europa mit Asien und Afrika verbindet. Die Fluggesellschaft Turkish Airlines fliegt in 128 Staaten 321 Städte und 326 ­Flughäfen an. Keine andere Fluggesellschaft hat so viele Zielflughäfen.

Auch auf dem Landweg will die Türkei ihre strategische Lage nutzen. In Zusammenarbeit mit den Ländern der Organisation der Turkstaaten, zu denen neben der Türkei Aserbaidschan, Kasachstan, Usbekistan und Kirgisien sowie als Beobachter Turkmenistan und Ungarn gehören, baut sie für den Frachtverkehr als Alternative zur Passage durch Russland den Mittleren Korridor aus, der von China über Zentralasien und die Türkei nach Europa führt. Strategische Bedeutung hat die Türkei als Transitland für Energie. Durch die Türkei verläuft der 3500 Kilometer lange südliche Gaskorridor, der Europa seit 2020 mit Erdgas aus Aserbaidschan versorgt. Der Gaskorridor setzt sich aus drei Einheiten zusammen: der Pipeline im Südkaukasus, der Transanatolischen Pipeline (TANAP) und ab der türkisch-griechischen Grenze der Transadriatischen Pipeline (TAP).

Der geplante Kapazitätsausbau von TANAP soll die Versorgungssicherheit Europas verbessern. Um TANAP zu füllen, wird Aserbaidschan mehr liefern. Turkmenistan, das bislang Erdgas nach China verkauft, könnte Lieferant werden. Die Hoffnungen, dass die kurdische Regionalregierung im Nordirak Gas in die Türkei pumpt, haben sich zerschlagen. Hingegen bestehen Chancen, dass Israel Gas über die Türkei nach Europa liefert. Denn kein Thema mehr ist das Pipeline-Projekt EastMed, das durch das östliche Mittelmeer Gas aus israelischen, zyprischen und ägyptischen Vorkommen nach Europa pumpen sollte. Es würde sich erst nach 25 Jahren amortisieren (=begleichen), Europa will aber Gas als Energiequelle nur noch bis 2035 nutzen.

Mit den Gasvorkommen, die 2020 im Schwarzen Meer entdeckt wurden, will die Türkei ein Drittel ihres Bedarfs decken. Dann würden die Bezugsquellen Iran und Russland an Bedeutung verlieren. Bislang bezieht die Türkei Erdgas vor allem aus Iran, dessen Lieferungen Schwankungen unterliegen, sowie aus Russland über die Pipelines TurkStream und BlueStream, die durch das Schwarze Meer verlaufen.

Kernbranchen

Keine Branche prägt das Bild der Türkei wie der Tourismus. 2022 erreichte die Zahl der eingereisten UrlauberInnen mit 51,4 Millionen wieder das Niveau des Rekordjahres 2019. Sie brachten 46 Milliarden US-Dollar ins Land, das entsprach 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Für 2028 peilt die Regierung 90 Millionen TouristInnen und 100 Milliarden US-Dollar Einnahmen aus dem Tourismus an.

Die Stellung der Automobilindustrie illustriert den Strukturwandel der Türkei. Bis 2004 war die Textilindustrie größter Industriezweig und größte Exportbranche. Dann wurde sie von der Automobilbranche überholt, in die mit Blick auf die Zollunion mit der EU umfassend investiert worden war. Die Autoindustrie und die Kfz-Zulieferer sind heute mit 31,5 Milliarden US-Dollar die größte Exportbranche. Ihre Unternehmen beschäftigen mehr als eine halbe Million Arbeitskräfte. Die Türkei ist Europas viertgrößter Automobilhersteller. Mehr als 250 international tätige Zulieferfirmen haben eine diversifizierte Zulieferindustrie geschaffen, die stark in internationale Lieferketten eingebunden ist.

Auch die Türkei setzt – wie viele andere Staaten – auf die Elektromobilität. 2018 haben fünf türkische Firmen das Unternehmen TOGG gegründet, das zum 100. Geburtstag der Republik ein Elektroauto auf den Markt gebracht hat, welches in der Türkei entwickelt wurde und ohne ausländische Partner produziert wird. Bis 2025 soll der lokale Wertschöpfungsanteil auf 68 Prozent steigen. Zunächst will TOGG im Jahr 100.000 Elektroautos herstellen und einen Teil davon exportieren.

Die Türkei beginnt, ihr Potenzial für grüne Energie auszuschöpfen. Die mit Kohle und Erdöl betriebenen Kraftwerke verursachten 2020 noch 70 Prozent der Treibhausemissionen der Türkei. Bis 2053, dem 500. Jahrestag der Eroberung von Konstantinopel, will die Türkei klimaneutral sein. In einem ersten Schritt soll die Kapazität von Photovoltaik und Windenergie, die 2023 etwa 16 Prozent des Stromverbrauchs decken, verdreifacht werden.

Bis 2053 will die Türkei in jedem Jahr durchschnittlich 5000 Megawatt Solarkapazitäten und 3000 Megawatt Windkapazitäten errichten. Bei der Herstellung von integrierten Solarmodulen, die eine Alternative zu chinesischen Solarpanelen sind, ist ein türkisches Unternehmen Pionier. Die Türkei setzt aber auch auf Atomstrom. In Akkuyu wurde im April 2023 das erste von Russland gebaute Atomkraftwerk eingeweiht. Ein weiteres Atomkraftwerk ist geplant.

Eine wichtige Exportbranche wurde die Rüstungsindustrie. Mit deren Ausbau unterstreicht die Türkei ihren Anspruch, regionale Ordnungsmacht zu sein. Der wichtigste Rüstungspartner ist die Ukraine, die in der Sowjetunion der wichtigste Motorenhersteller war und noch heute ein führender Hersteller von Motoren ist. Demgegenüber ist der größte Schwachpunkt der Türkei das Fehlen eigener Antriebssysteme und Motoren.

In den 20 Jahren AKP-Herrschaft stieg die Zahl der in der Branche tätigen Unternehmen von 56 auf über 5000, der ­lokale Wertschöpfungsanteil von 20 Prozent auf über 70 Prozent. Ein Meilenstein war 2014 die Produktion eines eigenen Mehrzweckkampfhubschraubers. 2015 stellte das Unternehmen Bayraktar die erste selbst entwickelte Kampf- und Aufklärungsdrohne TB2 vor, die inzwischen ein Exportschlager ist. Für die Marine wurden eigene Korvetten und eine Fregatte gebaut. Die türkische Armee nahm 2023 den ersten selbst entwickelten modernen Kampfpanzer Altay in Dienst. Am 1. Mai 2023 wurde der Prototyp des ersten selbst entwickelten Tarnkappenflugzeugs MMU vorgestellt.

Dr. Rainer Hermann schrieb von 1998 bis 2023 als Korrespondent und Redakteur für die Frankfurter Allgemeine Zeitung über die Türkei, die arabische Welt und Iran. Von 1991 bis 2008 lebte er in Istanbul, wo er zunächst für die Bundesagentur für Außenwirtschaft (bfai), einer Behörde des Bundeswirtschaftsministeriums, arbeitete. In Abu Dhabi beobachtete er ab 2008 den Aufstieg der Golfstaaten und die Massenproteste in der arabischen Welt. Von 2012 bis zum 31. März 2023 gehörte er zu den leitenden Redakteuren in der Frankfurter Zentralredaktion und bereiste regelmäßig die Türkei.

Das Studium führte ihn nach Freiburg, Rennes, Basel und Damaskus. 1984 schloss er das Studium der Volkswirtschaftslehre in Freiburg mit dem Diplom ab, das Studium der Islamwissenschaft 1989 ebenfalls in Freiburg mit der Promotion. Thema seiner Dissertation war ein Aspekt der modernen syrischen Geistesgeschichte.

Neben einer Reihe wissenschaftlicher Artikel hat Rainer Hermann neun Bücher verfasst, die sich mit der Türkei, der arabischen Welt und Afghanistan beschäftigen. Zuletzt erschienen „Afghanistan verstehen. Geografie, Geschichte, Glaube, Gesellschaft“ (2022) und „Die Achse des Scheiterns. Wie sich die arabischen Staaten zugrunde richten“ (2021).