Die Gründung der Republik
Am 29. Oktober 1923 riefen die Abgeordneten der Großen Nationalversammlung in Ankara die Republik Türkei aus und wählten Mustafa Kemal, heute bekannt als Atatürk, zum ersten Präsidenten. Dazu genügte ein Zusatz zur Provisorischen Verfassung vom 20. Januar 1921, mit dem die Abgeordneten als Staatsform die Republik festlegten. Die Türkei wurde somit das erste islamische Land, das sich für die Republik als Staatsform entschieden hat. Die Proklamation der Republik beendete den türkischen Befreiungskrieg, der am 19. Mai 1919 mit der Landung von Mustafa Kemal in Samsun an der türkischen Schwarzmeerküste begonnen hatte.
Sultan Mehmed VI. hatte den jungen Offizier, der durch die Schlacht von Gallipolli 1915 berühmt geworden war, mit dem Auftrag nach Samsun geschickt, in Anatolien die osmanische Restarmee zu demobilisieren. Stattdessen organisierte Mustafa Kemal den Widerstand gegen die ausländischen Besatzungstruppen, die Siegermächte des Ersten Weltkriegs Großbritannien, Frankreich, Italien und Griechenland. Im Juli und September 1919 formulierten Vertreter aus Anatolien auf den Kongressen von Erzurum und Sivas die Ziele der türkischen Nationalbewegung. Für die Bewegung sprach das Repräsentativkomitee (Heyet-i Temsiliye), zu dessen Vorsitzenden sie Mustafa Kemal wählten.
Im März 1920 löste Großbritannien in Istanbul das letzte osmanische Parlament auf und ordnete die Festnahme von Abgeordneten an. Mustafa Kemal lud die Abgeordneten, die nicht verhaftet worden waren, nach Ankara ein, wo die Große Nationalversammlung (Türkiye Büyük Millet Meclisi) am 23. April 1920 zum ersten Mal zusammentrat. Währenddessen richteten sich die Kampfhandlungen in Anatolien insbesondere gegen die französischen und entlang der Ägäisküste gegen die griechischen Besatzungstruppen. Am 15. Mai 1919 hatte die britische Regierung die griechische Armee ermuntert, in Smyrna, dem heutigen Izmir, an Land zu gehen. Zwei Jahre später standen griechische Truppen 130 Kilometer vor Ankara, im August 1922 wendete Mustafa Kemal den Kriegsverlauf entscheidend: Am 9. September 1922 nahmen türkische Einheiten Smyrna ein, am 4. Oktober 1923 verließen die letzten Besatzer Istanbul.
Mit den militärischen Erfolgen der Unabhängigkeitsbewegung wurden die Beschlüsse der Siegermächte des Ersten Weltkriegs bedeutungslos. Sie hatten noch mit der Regierung des osmanischen Sultans den Vertrag von Sèvres ausgehandelt, der am 10. August 1920 unterzeichnet wurde. Der Vertrag sah vor, die Türkei bis auf ein Rumpfgebiet im Inneren Anatoliens unter den Siegermächten aufzuteilen. Am 1. November 1922 setzte die Große Nationalversammlung den Sultan als weltlichen Herrscher ab und verhandelte nun selbst mit den Siegermächten. Am 24. Juli 1923 wurde in Lausanne ein neuer Friedensvertrag unterzeichnet. In ihm erkannten die Siegermächte die Türkei als souveränen Staat in ihren bis heute gültigen Grenzen an.
Der Vertrag regelte einen Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland, der unter Aufsicht des Völkerbunds vollzogen wurde. Dessen Hochkommissar für Flüchtlingsfragen, der Norweger Fridtjof Nansen (1861 – 1930), war davon überzeugt, dass die Spannungen, die zum Ersten Weltkrieg geführt hatten, in homogenen Nationalstaaten vermieden werden könnten. Bereits im Jahrzehnt vor 1923 waren griechisch-orthodoxe ChristInnen nach gewaltsamen Auseinandersetzungen aus Anatolien geflohen oder vertrieben worden. In Lausanne wurde erstmals in einem völkerrechtlichen Vertrag eine Zwangsumsiedlung vereinbart. In einem organisierten Bevölkerungsaustausch, der ebenso von Gewalt begleitet war, sollten weitere 200.000 griechisch-orthodoxe ChristInnen Anatolien, aber noch nicht Istanbul verlassen und im Gegenzug 350.000 Türkisch sprechende Muslime und Muslimas aus Griechenland in die Türkei umsiedeln. In wenigen Jahren hatten damit bis zu 1,5 Millionen GriechInnen die Türkei verlassen müssen, oft unter menschenunwürdigen Bedingungen. Entlang der Ägäisküste, im sogenannten Kleinasien, ging damit eine griechische Siedlungsgeschichte zu Ende, die bis in die Antike zurückreicht.
Das Ende des Osmanischen Reichs und die Geburt der Republik Türkei waren von Flucht und Vertreibung geprägt. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg hatten Millionen sunnitische Muslime und Muslimas, die aus dem Kaukasus und dem Südosten Europas vertrieben worden waren, in Anatolien Zuflucht gefunden. Mit ihrer Integration entstand auf dem Boden der heutigen Türkei eine neue muslimisch-türkische Identität.
Der Erste Weltkrieg hatte in der Türkei 1912 mit dem Ersten Balkankrieg begonnen, und er endete erst 1922 mit dem militärischen Sieg im Unabhängigkeitskrieg. In diesem langen Jahrzehnt vollzog sich der blutige Wandel von dem multiethnischen und multikonfessionellen Osmanischen Reich zu einer Republik, die sich der türkischen Nation bis heute verpflichtet sieht. Der lange Krieg hatte Anatolien verwüstet. Im Osten Anatoliens verlor fast die Hälfte der Bevölkerung durch Epidemien, Hunger und Massaker das Leben. Durch gezielte Gewalt gegen Zivilpersonen, die von regulären bewaffneten Einheiten, aber auch von irregulären Banden ausging, starben 2,5 Millionen Muslime und Muslimas sowie 1,5 Millionen armenische, 300.000 griechische und 250.000 assyrische ChristInnen.
QuellentextVom Ende des Osmanischen Reichs bis zur Republikgründung
Auf dem Höhepunkt seiner Macht reichte die Ausdehnung des Osmanischen Reichs im 17. Jahrhundert vom Jemen bis kurz vor Wien, vom Kaspischen Meer bis Algerien. Ein rapider militärischer Niedergang setzte im 19. Jahrhundert ein, 1852 sprach der russische Zar Nikolaus I. vom „kranken Mann am Bosporus“. Im Osmanischen Reich bildeten sich daher Bewegungen, um den Verfall zu stoppen. Am 14. Juli 1889 gründeten in Istanbul Studenten an der medizinischen Militärakademie das Geheimkomitee İttihat ve Terakki (Einheit und Fortschritt). Die Kriegsakademien wurden nun die Keimzellen der Erneuerer. Wegweisend wurde ein Kongress der Exilgruppen 1902 in Paris, bei dem sich der nationalistische Flügel gegenüber den Befürwortern einer liberalen Reformpolitik durchsetzte. Letztere waren bereit, mit den nicht türkischen Minderheiten in Anatolien zusammenzuarbeiten.
In Frankreich nannten sich die Mitglieder der Bewegung Jeunes Turcs, die jungen Türken.
Der im Untergrund agierenden jungtürkischen Bewegung schlossen sich junge Offiziere und Intellektuelle an. Aktiv waren sie besonders auf dem Balkan mit Saloniki, dem Geburtsort Atatürks, als Zentrum. 1908 traten sie erstmals offen auf und zwangen den absolutistisch regierenden Sultan Abdülhamid II., die Verfassung von 1876 wieder in Kraft zu setzen. 1909 putschte das Komitee Einheit und Fortschritt gegen den Sultan, und der nationalistische, prodeutsche Flügel der jungtürkischen Bewegung übernahm die Macht. Mit harter Hand trieb die neue Regierung die Türkisierung des Reichs voran, NichttürkInnen wurden StaatsbürgerInnen zweiter Klasse.
Im Januar 1913 übernahm das jungtürkische Triumvirat, dem Ismail Enver, Mehmed Talat und Ahmed Cemal angehörten, die Macht. Im August 1914 schloss die Türkei mit dem Deutschen Reich ein Geheimbündnis und trat an der Seite der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg ein. Am 24. April 1915 begann der Genozid am armenischen Volk. Die jungtürkische Kriegsregierung hatte ihn über Monate vorbereitet. Sie strebte nach den verlorenen Balkankriegen einen homogenen Staat für muslimische TürkInnen an. Sie verfolgte das Ziel, armenisches Leben in Anatolien auszulöschen. Opfer der ethnischen Säuberung wurden auch die assyrischen ChristInnen, von denen die Hälfte den Ersten Weltkrieg nicht überlebte.
Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg setzte sich das jungtürkische Triumvirat im Oktober 1918 aus Istanbul ab und floh ins Ausland. Der von ihnen marginalisierte liberale Flügel der Jungtürken übernahm die Rolle des Konkursverwalters. Ihre Regierung unterzeichnete am 30. Oktober 1918 das Waffenstillstandsabkommen von Mudros. Die Jungtürken hatten mit ihrer radikalen Türkisierungspolitik den Untergang des Osmanischen Reichs beschleunigt. Viele Veränderungen, die sie lediglich angestoßen hatten, um das Reich zu modernisieren – wie die Reformen des Rechts, des Bildungswesens und der staatlichen Finanzen sowie die Zurückdrängung der Religion und die Besserstellung der Frauen –, hatten jedoch erst nach der Gründung der Republik Türkei 1923 eine Chance, Wirklichkeit zu werden. Der neue Staat musste auf einer völlig neuen Basis beginnen.
Die Schaffung einer homogenen Nation
Mit der Gründung der Republik gab es zwar einen neuen türkischen Staat, aber noch keine homogene türkische Nation. Kriterium für die Zugehörigkeit zu dieser Nation war, sich als TürkIn zu definieren und MuslimIn zu sein. Wer von dieser Norm abwich, wurde bekämpft. Das bekamen die KurdInnen zu spüren, die 1925 einen Aufstand gegen den neuen Zentralstaat begannen, der bald niedergeschlagen wurde. Auch die AlevitInnen der Region Dersim fügten sich nicht in die neue Doktrin eines türkischen Staatsvolks. Ihre Religion hat zwar Gemeinsamkeiten mit dem Islam, sie speist sich jedoch aus mehreren Quellen, und eine bedeutende Anzahl sprach (und spricht) Zaza, das zum nordwestlichen Zweig der iranischen Sprachfamilie gehört.
Der Zentralstaat ordnete 1934 die Umsiedlung von Dersim-AlevitInnen in die Westtürkei an. Dort sollten sie ihre Identität verlieren und sich selbst als sunnitisch-muslimische TürkInnen wahrnehmen, also assimilieren. 1936 wurde Dersim in Tunceli (bronzene Hand, sinngemäß eiserne Faust) umbenannt. Am 4. Mai 1937 begann die Niederschlagung der Aufstände. Die militärische Operation trug den Namen tedip ve tenkil (Züchtigung und Deportation). 1937 und 1938 wurden nach staatlichen Angaben 13.800 Menschen getötet, nach inoffiziellen Schätzungen weit mehr.
Die neue Republik war nicht mehr wie das Osmanische Reich religiös legitimiert, sondern durch das Konzept des Volkswillens. Jedoch knüpfte sie auch an das Osmanische Reich an. Dieses hatte seit dem späten 18. Jahrhundert versucht, sich mittels Reformen gegenüber dem überlegenen Westen zu behaupten. Osmanische Reformer reorganisierten das Militär, sie modernisierten das Bildungswesen, alle Untertanen wurden zivilrechtlich gleichgestellt. Mustafa Kemal setzte die Reformpolitik mit beispielloser Radikalität fort, um die Türkei nach westlichem Vorbild zu modernisieren.
Am 20. April 1924 gab sich die Republik die erste Verfassung. Revolutionär waren aber erst die Gesetze, die in den zehn Jahren danach verabschiedet und durchgesetzt wurden. Eingeführt wurden ein neues Zivil- und ein neues Strafgesetzbuch, das Rechtssystem orientierte sich an europäischen Vorbildern und wurde von religiösen Bezügen befreit. 1930 wurde das aktive Frauenwahlrecht eingeführt, 1934 das passive.
Anstelle der arabischen Schrift trat das lateinische Alphabet und anstelle des islamischen Kalenders der gregorianische. Die Änderung des Namensrechts verpflichtete jedes Familienoberhaupt aus Beispiellisten einen Familiennamen zu wählen. Davor hatte es nur Vornamen gegeben. Die Nationalversammlung verlieh Mustafa Kemal den Nach- und Ehrennamen Atatürk („Vater der Türken“). Aus der Sprache wurden arabische und persische Einflüsse entfernt. Radikal waren die Maßnahmen, um den Islam aus der Öffentlichkeit und aus dem Kulturgut der Bevölkerung zu verbannen. 1924 hob die Große Nationalversammlung das Kalifat, die geistliche Führung aller Muslime und Muslimas, auf, und 1928 führte sie den Laizismus als Ordnungsprinzip für das Verhältnis von Staat und Religion ein.
Die Koranschulen und Derwischkonvente, Treffpunkte für den Volksislam, wurden aufgelöst. Die religiösen Orden wurden ebenso verboten wie die Wallfahrt nach Mekka und das Tragen einer religiösen Kleidung in der Öffentlichkeit. Der Religionsunterricht wurde von 1924 bis 1938 schrittweise als Lehrfach an den Schulen abgeschafft, nach 1950 jedoch wieder eingeführt. Mit der Gründung des Vorläufers des Diyanet İşleri Başkanlığı (Präsidium für Religionsangelegenheiten) gab sich die Regierung bereits 1924 ein Instrument an die Hand, um einen mit der Republik kompatiblen Islam zu schaffen. Die Maßnahmen, die in ihrer Summe einer Revolution entsprechen, setzte Atatürk mit der von ihm gegründeten, alleinherrschenden Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei, CHP) durch.
Atatürk fasste 1931 die Prinzipien seiner Politik in sechs Pfeilen (altı ok) zusammen. Zu ihnen gehörten weder die Demokratie noch die Freiheit. Die sechs Prinzipien sollten eine homogene Nation formen. Die Geschichte der Republik wurde aber eine Geschichte des Widerstands derer, die durch diese Prinzipien ausgegrenzt werden. KurdInnen begehrten gegen das Prinzip des türkischen Nationalismus (milliyetçilik) auf, fromme Muslime und Muslimas gegen den Laizismus (laiklik), der den Islam aus der Öffentlichkeit ausschließt und der Religionsbehörde unterstellt. Linke widersetzten sich dem Populismus (halkçılık), der die Existenz von Klassen leugnet, und Liberale dem Etatismus (devletçilik), der die Wirtschaft dem Primat des Staates unterstellt. Die Generäle, die von 1960 an wiederholt intervenierten, entzogen dem Revolutionären Reformismus (devrimçilik) den Boden, indem sie den Status quo, wie ihn Atatürk hinterlassen hatte, festzuhalten versuchten. Nie umstritten war der Republikanismus (cumhuriyetçilik).
Der Kemalismus in der Krise
Atatürk starb 1938. Als der Zweite Weltkrieg – in dem die Türkei kein Kriegsschauplatz war – endete, schien sein Erbe fest verankert. Es zeigte sich jedoch, dass der Kemalismus nicht in den ländlichen Regionen Anatoliens angekommen war. 1946 endete die Einparteienherrschaft der CHP. Bei der ersten freien Parlamentswahl am 14. Mai 1950 siegte die neu gegründete konservative Demokratische Partei mit großer Mehrheit. In Anlehnung an diese Wahl legte Recep Tayyip Erdoğan die Parlaments- und Präsidentenwahl von 2023 ebenfalls auf den 14. Mai. Von Adnan Menderes, dem Wahlsieger von 1950, übernahm Erdoğan den Slogan „Es reicht! Die Nation hat das Wort!“ (Yeter! Söz milletindir!). Er griff damit die alte Elite aus Offizieren, Bürokraten und Intellektuellen an, die das Erbe Atatürks verwalteten.
Um Abweichungen zu korrigieren, die demokratisch legitimierte Politiker eingeleitet hatten, intervenierten die Generäle wiederholt. 1960 setzten sie erstmals eine Regierung ab, Menderes wurde hingerichtet. Militärputsche folgten 1971 und 1980; 1997 zwang der Generalstab die Regierung zum Rücktritt. Die Türkei wurde keine Militärdiktatur, jeder Putsch verschärfte aber die innenpolitischen Konflikte.
Abgesehen von der Phase nach der Gründung der Republik hat sich die Türkei in keinem Jahrzehnt mehr verändert als in den 1960er-Jahren. Nach 1945 zogen in einem wachsenden Strom ländliche, anatolische TürkInnen in die Städte und errichteten, meist auf öffentlichem Grund, illegale Siedlungen, die Gecekondus. Diese lagen am Rande der Städte, ihrem ländlichen Denken und Verhalten blieben die Zugezogenen treu. Verächtlich blickten die städtische Elite und ihre Partei, die CHP, auf sie herab. Fürsprecher der Menschen aus Anatolien wurden konservative und vor allem islamisch gefärbte Parteien.
Mit der Industrialisierung entstanden militante Gewerkschaften, mit dem Kalten Krieg bildete sich eine Bewegung gewaltbereiter Nationalisten. Als die Verfassung von 1961 die Freiheiten erheblich erweiterte, wurden die Universitäten Zentren linker Agitation. Erstmals wurde der kurdische Konflikt (siehe Quellentext: Der kurdische Konflikt) offen diskutiert. Nationalistische, linke und kurdische Organisationen lieferten sich blutige Auseinandersetzungen. Sie entluden sich in bürgerkriegsähnlichen Zuständen, die der Militärputsch vom 12. September 1980 beendete.
Die Träger der kemalistischen Doktrin, die sich nicht erneuerte, wollten die gesellschaftlichen Veränderungen mit einem autoritären Staat aufhalten. Zugeständnisse im kurdischen Konflikt lehnten sie ebenso als Gefahr für die nationale Souveränität ab wie die Annäherung an die EU. So verlor die kemalistische Weltanschauung aber allmählich an Bindekraft. Hingegen profitierten islamische Parteien vom gesellschaftlichen Wandel, indirekt von den Putschgenerälen, die den Islam nach 1980 als Mittel im Kampf gegen die türkische Linke eingesetzt hatten, sowie schließlich vom Verlust der Glaubwürdigkeit der alten politischen Klasse.
Die AKP-Reformjahre
Eine Zäsur brachte die Wahl von 2002, die die Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) von Recep Tayyip Erdoğan mit einem Erdrutschsieg gewann. Ihre Gründung am 14. August 2001 war eine Folge des „postmodernen“ Putsches vom 28. Februar 1997, der Ministerpräsident Necmettin Erbakan, den Vorsitzenden der islamistischen Refah Partisi, zum Rücktritt gezwungen hatte. Seine Partei wurde ebenso verboten wie die auf sie folgende Fazilet Partisi. Daraufhin spaltete sich Milli Görüş, die Bewegung des politischen Islams in der Türkei: Die „Traditionalisten“ um Erbakan gründeten die Saadet Partisi, die „Erneuerer“ um Erdoğan die AKP.
Der AKP bot sich eine historische Chance, und sie nutzte sie. Die alte politische Klasse war seit dem Erdbeben vom 17. August 1999 diskreditiert, sie stand wegen der langsamen und unzureichenden Hilfsmaßnahmen in der Kritik. Bei dem Erdbeben mit der Stärke 7,6, dessen Epizentrum östlich von Istanbul lag, verloren 18.373 Menschen ihr Leben, 48.901 wurden verletzt. Zudem waren über Jahrzehnte Wahlen nicht mit Programmen gewonnen worden, sondern mit der Verteilung staatlicher Ressourcen. So steuerte die Republik zwei Jahre nach dem Erdbeben auf einen Staatsbankrott zu. Abgewendet wurde dieser von einem Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) und damit verbundenen Reformauflagen. Bei der Wahl vom 2. November 2002 straften die Wählenden schließlich die gesamte politische Klasse ab. Alle im Parlament vertretenen Parteien scheiterten an der 10-Prozent-Sperrklausel, keine zog wieder ins Parlament ein. Die AKP füllte als stärkste Partei das Vakuum. Sie war nun die Volkspartei rechts der Mitte. Mit ihr gelang nur der CHP der Einzug ins Parlament.
In der AKP als einer konservativ-demokratischen Partei waren zunächst vier Flügel vertreten. Neben Islamisten fanden in ihr konservative, nationalistische und wirtschaftsliberale TürkInnen eine Heimat. Als Regierungspartei gewann sie auch nicht islamistische WählerInnen aus der Mittelschicht. Sie setzte die vom IWF vorgegebenen Reformen um, wodurch sich das jährliche Einkommen pro Kopf von 2002 bis 2013 auf 12.500 US-Dollar fast vervierfachte. Zudem näherte sich die Türkei weiter der EU an. Der EU-Prozess hatte zunächst Fahrt aufgenommen, als die Regierung unter Ministerpräsident Bülent Ecevit (1999 bis 2002) das Zivilrecht reformiert, die rechtliche Stellung der Frau verbessert sowie das Versammlungs- und Demonstrationsrecht gestärkt hatte.
Die AKP-Regierung und das von ihr dominierte Parlament setzten die Reform des Zivilrechts fort und reformierten das Strafgesetzbuch umfassend. Sie schafften die Todesstrafe auch in Kriegszeiten ab, verboten Folter und beendeten die Straffreiheit für Polizisten. Ausgeweitet wurde das Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Die kurdische Minderheit erhielt kulturelle Freiheiten. Der Gebrauch der kurdischen Sprache und Kurdischunterricht wurden erlaubt. Der Staatssender TRT (Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu) und drei private Fernsehkanäle strahlten ab 2004 Sendungen auf Kurdisch aus. Nach der Verabschiedung der Strafrechtsreform der Festigung der Rechtsstaatlichkeit empfahl die EU-Kommission am 6. Oktober 2004, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Sie begannen 2005.
QuellentextDer kurdische Konflikt
Der kurdische Konflikt belastet die Republik seit ihrer Gründung. Während die Kurdinnen und Kurden, die ein Fünftel der Bevölkerung stellen, eine Dezentralisierung und das Recht fordern, innerhalb der Republik ihre kurdische Identität leben zu können, befürchtet eine Mehrheit der türkischen StaatsbürgerInnen, dass Zugeständnisse an die KurdInnen die territoriale Einheit der Türkei gefährden könnten. Der türkische Staat praktizierte daher über Jahrzehnte eine Politik der Assimilation. Anläufe, die kurdische Frage politisch zu lösen, scheiterten wiederholt am Widerstand türkischer Nationalisten.
Einer politischen Lösung steht auch die militante Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Weg. Nach dem Massaker von Dersim im Jahr 1938 waren die kurdischen Forderungen verstummt. Ein Thema wurden sie erst wieder in den 1970er-Jahren im Zusammenhang mit den sozialistischen Bewegungen an den Universitäten. 1978 gründeten linke AktivistInnen um Abdullah Öcalan die marxistisch-leninistische PKK, die zunächst den kurdischen Großgrundbesitzern den Kampf ansagte, dann auch dem türkischen Staat den Krieg erklärte.
Die PKK diskreditierte mit ihrem Terror die Anliegen der KurdInnen. Im Bürgerkrieg der 1990er-Jahre wurden schätzungsweise 40.000 Menschen getötet. Auch der türkische Staat machte sich großer Menschenrechtsverletzungen schuldig und fügte dem Rechtsstaat großen Schaden zu. Türkische Soldaten und paramilitärische Einheiten zerstörten während des Ausnahmezustands von 1987 bis 2002 im Südosten Anatoliens mehr als 3000 kurdische Dörfer, um Rückzugsräume der PKK auszutrocknen. Regionen wurden entvölkert, über eine Million Menschen wanderten in den Westen der Türkei ab.
Öcalan wurde am 15. Februar 1999 in Nairobi, Kenia, festgenommen und in die Türkei gebracht, wo er zum Tode verurteilt wurde. Das Urteil wurde nach Abschaffung der Todesstrafe 2002 in lebenslange Haft umgewandelt. Öcalan sitzt auf der Gefängnisinsel İmralı in Einzelhaft. Die Führung der PKK hat sich in die Kandil-Berge zurückgezogen, die im irakischen Grenzgebiet zur Türkei und zu Iran liegen. Im Jahr 2002 setzte die EU die PKK auf die Terrorliste.
Prokurdische Parteien, die eine gewaltfreie Lösung anstreben, können sich nur schwer zwischen dem Terror der PKK und der fehlenden Bereitschaft des türkischen Staates, die Anliegen der KurdInnen als legitim zu akzeptieren, behaupten. Die 1990 gegründete Halkın Emek Partisi (HEP, Arbeitspartei des Volkes) wurde 1993 verboten. Seit 1993 wurden fünf prokurdische Parteien verboten, zwei lösten sich selbst auf. Allen wurde vorgeworfen, Verbindungen zur PKK zu unterhalten. 2021 wurde gegen die achte prokurdische, links gerichtete Partei, die 2012 gegründete Halkların Demokratik Partisi (HDP, Demokratische Partei der Völker), ein Verbotsverfahren eröffnet. Sie ist seit 2018 die zweitgrößte Oppositionspartei. Das Verfahren wurde eingeleitet, nachdem der MHP-Vorsitzende Bahçeli das gefordert hatte.
Die Anklage gegen die HDP lautet, sie habe sich an Aktivitäten beteiligt, die gegen die „unteilbare Integrität des Staates mit seinem Gebiet und seiner Nation“ gerichtet seien, und sie sei ein Zentrum derartiger Aktivitäten geworden, was die HDP entschieden zurückweist.
Erdoğan hatte erstmals 1993, vor seiner Wahl zum Oberbürgermeister Istanbuls, eine politische Lösung des Kurdenkonflikts auf der Basis der muslimischen Brüderlichkeit gefordert. 2005 räumte er in einer Rede in Diyarbakır Fehler des Staates ein. Danach begann die AKP-Regierung ihre Politik der kurdischen Öffnung (Kürt Açılımı). Sie nahm mit VertreterInnen der KurdInnen einen Dialog über deren Forderungen auf, von 2009 bis 2011 führte der türkische Geheimdienst in der norwegischen Hauptstadt Oslo Geheimgespräche mit der PKK, direkte Gespräche fanden auch mit Öcalan statt. Die Regierung stellte zudem für Mitglieder der PKK eine Amnestie in Aussicht.
2015 brach die kurdische Öffnung ab. Die PKK fürchtete, ihre Bedeutung für die kurdische Politik zu verlieren, und der AKP nützte ihre KurdInnenpolitik nicht. Sie verlor im Gegenteil Stimmen an die rechtsextreme MHP. Die PKK nahm ihren Krieg gegen den türkischen Staat wieder auf, dieser geht seither wieder mit Luft- und Bodenoffensiven gegen Stellungen der PKK im Nordirak vor. Die türkische Armee besetzte von Kurdinnen und Kurden bewohnte Teile im Norden Syriens, im Südosten der Türkei lieferte sie sich 2015 und 2016 Straßenschlachten mit jungen militanten Kurdinnen und Kurden.
Parallel dazu kriminalisiert der türkische Staat die HDP. Am 4. November 2016 wurden die damaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie sieben weitere HDP-Abgeordnete festgenommen, sie sind seither inhaftiert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte, die Verhaftung von Demirtaş sei „politisch motiviert“, und forderte dessen Freilassung. Drei weitere HDP-Abgeordnete wurden 2020 und 2021 verhaftet.
Seit 2016 wurden mehr als hundert gewählte HDP-Bürgermeister abgesetzt und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzt, seit Herbst 2020 wurden mehrere hundert Mitglieder und Sympathisanten der HDP verhaftet. Eine Verhaftungswelle fand noch drei Wochen vor den Wahlen vom Mai 2023 statt. Die Anklage erfolgt meist auf Grundlage des vage formulierten Antiterrorgesetzes, das, so Amnesty International, „zur Bestrafung eines breiten Spektrums an legitimen Aktivitäten einschließlich der Äußerung politisch abweichender Meinungen verwendet“ werde.
Die Türkei hat Gelegenheiten verpasst, den kurdischen Konflikt beizulegen, als er noch lediglich ein innertürkischer Konflikt war. Mit dem Zerfall Syriens, mit der Bildung der halbautonomen kurdischen Region Rojava in Nordsyrien und mit den vier völkerrechtswidrigen Militäroffensiven von 2016 bis 2019 in Syrien ist eine Lösung jedoch komplizierter geworden.
In Nordsyrien herrscht die 2003 gegründete, aus der PKK hervorgegangene Partei der Demokratischen Union (PYD) mit ihrer 2011 gegründeten Miliz der Volksverteidigungseinheiten (YPG). Die YPG führt die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) an, den wichtigsten Partner der USA im Kampf gegen den Islamischen Staat. Mit dem Ziel, eine kurdische Autonomieverwaltung zu verhindern und syrische Flüchtlinge im Norden Syriens in den Regionen anzusiedeln, aus denen die türkische Armee und ihre lokalen syrischen Partner die alteingesessene kurdische Bevölkerung vertrieben haben, sucht die Türkei seit 2022 eine Wiederannäherung mit dem Assad-Regime (siehe Beitrag "
Von 2007 an in der Defensive
Aufgrund der wirtschaftlichen Erfolge und der Annäherung an die EU steigerte die AKP ihren Anteil bei Wahlen von 34,4 Prozent (2002) auf 46,5 (2007) und 49,9 Prozent (2011). Der Reformelan kam jedoch rasch zum Erliegen. Einen Dämpfer versetzte der Türkei der neue französische Präsident Nicolas Sarkozy, als er im Juni 2007 sagte, dass der Platz der Türkei nicht in Europa sei. Zuvor, im April 2007, hatte das Militär mit einem Putsch für den Fall gedroht, sollte die AKP an der Wahl von Abdullah Gül zum neuen Präsidenten der Republik festhalten. Anders noch als 1997 setzten sich die Generäle nicht mehr durch, sondern beugten sich dem politischen Willen.
Nicht so die Verfassungsrichter: Im Juni 2008 fehlte im Verfassungsgericht lediglich eine Stimme, um die mit absoluter Mehrheit regierende AKP zu verbieten. Nun schaltete Erdoğan auf einen autoritären Kurs um. Das Verfassungsreferendum vom 12. September 2010 drängte den Einfluss des Militärs weiter zurück und beschnitt die Unabhängigkeit der Justiz. Diese Änderungen sollten dem Systemwechsel im Jahr 2018 den Weg ebnen.
Die Gezi-Proteste vom Frühjahr 2013 waren dann der Auslöser, die Macht mit allen Mitteln zu verteidigen. Sie hatten sich an der Bebauung des Gezi-Parks auf dem Istanbuler Taksim-Platz entzündet und breiteten sich landesweit aus. Zwei Jahre nach den Massenprotesten in der arabischen Welt, bei denen vier Präsidenten gestürzt wurden, fürchtete Erdoğan, die Macht zu verlieren. Er ließ die Proteste mit Polizeigewalt niederschlagen und bezeichnete seine Gegner als Terroristen. Für sich beansprucht er, den Volkswillen (milli irade) zu verkörpern, von der türkischen Nation spricht er als benim milletim (meine Nation).
Bei der Parlamentswahl vom 7. Juni 2015 verlor die AKP erstmals Stimmen. Mit nur noch 40,9 Prozent konnte sie keine Regierung mehr bilden. Erdoğan, Präsident seit 2014, beauftragte aber nicht die Opposition mit der Regierungsbildung, sondern schrieb vorgezogene Neuwahlen aus. Bei diesen erhielt die AKP am 1. November 2015 wieder 49,5 Prozent. Die Monate zwischen den beiden Wahlen zählen zu den blutigsten in der jüngeren türkischen Geschichte. Am 10. Oktober 2015 wurden bei einem Selbstmordanschlag des Islamischen Staats gegen eine Friedensdemonstration in Ankara 102 Menschen getötet.
Eine Alternative zu Erdoğans faktischer Ein-Mann-Herrschaft war aufgrund der Schwäche der Opposition nicht in Sicht. Auch in der AKP formierte sich kein offener Widerstand. Gründungsmitglieder wie Abdullah Gül und Bülent Arınç gingen lediglich auf Distanz zu Erdoğan. In den Fokus geriet daher eine andere Strömung innerhalb des Regierungslagers.
Gülen und der Putschversuch
Die AKP und die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen waren eine enge Koalition eingegangen, von der beide Seiten profitierten. Die AKP gewann Wahlen, hatte aber nicht genügend qualifiziertes Personal, um den Staatsapparat kompetent zu besetzen. Über das verfügte die Gülen-Bewegung aufgrund ihrer Bildungseinrichtungen. Ihre Mitglieder waren stark in der Justiz und der Polizei vertreten. In den Ergenekon-Prozessen verurteilten Staatsanwälte und Richter, die der Bewegung nahestanden, ab 2008 unter anderem Hunderte Generäle als mutmaßliche Mitglieder einer angeblichen Verschwörungsgruppe zu langjährigen Haftstrafen und schalteten damit die Armee als politischen Akteur aus. Sie schufen so Platz für die Beförderung junger Offiziere, die loyal zur AKP-Regierung und der Gülen-Bewegung standen. Am 21. April 2016 hob der Oberste Gerichtshof 275 Verurteilungen wieder auf. In der Zwischenzeit war es zum Bruch zwischen Erdoğan und Gülen gekommen.
Eine Entfremdung hatte 2011 eingesetzt. In der AKP war die Unruhe über den Einfluss der Bewegung gewachsen, die Gülen-Bewegung wiederum kritisierte die Politik der Regierung. Sie lehnte die Verhandlungen mit der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans, ebenso ab wie Erdoğans Kritik an der Politik Israels gegenüber den Palästinenserinnen und Palästinensern. So nannte Erdoğan Israel wiederholt einen „Terrorstaat“. [Konkreter Auslöser für Gülen war 2010 die Aktion des türkischen Hilfsschiffs Mavi Marmara für Gaza.] Ihr nahestehende Staatsanwälte leiteten am 17. Dezember 2013 Korruptionsermittlungen gegen Erdoğans Umfeld ein, der zum Gegenschlag ausholte. Die Gülen-Bewegung sollte mit der Zerstörung ihrer wichtigsten Einnahmequellen, den beliebten und parallel zum Schulsystem laufenden Repititorien (dershane = Paukklassen, die effizient auf die Jahresabschlussprüfungen und die Hochschulzugangsprüfungen vorbereiten), liquidiert werden. Im offiziellen Sprachgebrauch hieß sie nun Fetö, Terrororganisation des Fethullah.
Ende 2013 begann die AKP-Regierung, Namenslisten der Gülen-Bewegung zu erstellen. Eine große Säuberungsaktion von Gülenisten aus dem Staatsapparat und der Armee stand bevor, als am Abend des 15. Juli 2016 Panzer ausrückten und Kampfflugzeuge in Ankara das Parlament beschossen, nicht aber den Präsidentenpalast. Erdoğan beschuldigte umgehend die Gülen-Bewegung. Noch in der Nacht begann die Verhaftung von 1500 Personen, die auf den Namenslisten standen.
Die AKP verbreitete das Narrativ, die Gülen-Bewegung habe mit Unterstützung der USA den Putsch mit der Absicht geplant und durchgeführt, den Aufstieg der Türkei unter Erdoğans Führung zu stoppen. Er sei gescheitert, als sich die Menschen den Panzern entgegengestellt hätten. Eine überzeugende Aufklärung der Umstände des Putschversuchs fand bis heute nicht statt. Eine konkurrierende Version lautet, Erdoğan selbst habe den Putschversuch inszeniert, um anschließend die Opposition auszuschalten und das Präsidialsystem einführen zu können. In diesem Sinn spricht der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu von einem „kontrollierten Putsch“, bei dem Erdoğan Kontrolle über den Putschversuch gehabt habe. Möglich ist eine Mischung beider Versionen. Laut dieser habe die Regierung von Putschplänen in der Armee zwar gewusst, aber nichts unternommen, sie zu vereiteln, um so illoyale Offiziere identifizieren zu können.
Vollkommen überraschend war der Putschversuch nicht. Türkische und internationale Medien hatten im Frühsommer wiederholt über Putschgerüchte in Ankara berichtet. Die Ereignisse der Nacht auf den 16. Juli 2016 geben aber Rätsel auf. So war die Zahl der beteiligten Soldaten zu gering, um die Regierung zu stürzen, und der Putschversuch begann, als an einem Freitag der Feierabendverkehr seinen Höhepunkt erreicht hatte. Zudem hat die AKP-Regierung nie ein Dokument dazu vorgelegt, was die Putschisten nach einem Erfolg geplant hatten. Unklar bleibt weiterhin, in welchem Umfang kemalistische Offiziere beteiligt waren, die Erdoğans Politik ebenso wie auch die Gülen-Bewegung ablehnen.
Von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialsystem
Die AKP versuchte, die Niederschlagung des Putschversuchs zum neuen Gründungsmythos der Republik zu erheben. Anstatt lediglich die Putschisten zu bestrafen und eine nationale Versöhnung einzuleiten, begann eine breit angelegte Jagd auf Erdoğans KritikerInnen und GegnerInnen. Die Justiz startete Hauptverhandlungen gegen 400.000 Personen, die wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ angeklagt waren. Der Staat entließ 130.000 Personen, die auch bei anderen Arbeitgebern keine Arbeit mehr finden konnten und deren Pässe für ungültig erklärt wurden.
Von dem Rundumschlag waren neben GülenistInnen auch KurdInnen und Linke betroffen sowie AkademikerInnen, die im Frühjahr 2016 einen Friedensaufruf zur Lösung der Kurdenfrage unterzeichnet hatten. Es wurden Ausnahmerechtsverordnungen verabschiedet, die alle früheren Ausnahmeregelungen in der Türkei übertrafen. Die meisten Maßnahmen wurden seither in reguläres Gesetz umgewandelt, wodurch das Ausnahmerecht zum Normalfall wurde.
Erdoğan nutzte den gescheiterten Putschversuch für den größten Umbau der Republik seit ihrer Gründung. Die Verfassungsänderungen von 2010 hatten bereits die Unabhängigkeit der Justiz beschnitten. Die Verfassungsänderungen von 2017 schwächten nun das Parlament und stärkten den Präsidenten. Mit den Wahlen vom 24. Juni 2018 trat die Umwandlung in ein Präsidialsystem in Kraft. Erdoğan, 2018 zum zweiten Mal direkt vom Volk gewählt, erhielt 52,6 Prozent der Stimmen. Nun konnte er mit großen Befugnissen regieren. Bei der Parlamentswahl büßte die AKP jedoch 6,9 Prozentpunkte ein und kam nur noch auf 42,6 Prozent. Zusammen mit der rechtsextremen MHP konnte sie dennoch weiter regieren.
Der Niedergang setzte sich bei den Kommunalwahlen vom März 2019 fort, als die AKP die großen Städte Istanbul, Ankara und Antalya an die Opposition verlor. Um der Erosion Einhalt zu gebieten, setzte Erdoğan auf islamische Symbolik. Am 3. Mai 2019 wurde auf einem Hügel über dem Bosporus die Çamlıca-Moschee eröffnet, die 60.000 Gläubigen Platz bietet. In der Hagia Sophia, die Atatürk in ein Museum umgewandelt hatte, wurde am 24. Juli 2020 in Anwesenheit Erdoğans erstmals seit 1934 wieder ein muslimisches Freitagsgebet gesprochen. Dabei hielt der Chef der Religionsbehörde während der Predigt ein Schwert. Das weckte Assoziationen an das Osmanische Reich, in dem der oberste religiöse Würdenträger einem neuen Sultan das Schwert Osmans, des Gründers der Dynastie, überreicht hatte.
QuellentextDas Erdbeben vom Februar 2023
Die Türkei gehört zu den Ländern, die am stärksten und häufigsten von Erdbeben betroffen sind. Seit 1900 haben 20 Beben der Stärke 7,0 oder mehr die Türkei erschüttert. Am 6. Februar 2023 bebte die Erde dort, wo die Anatolische Platte, die Arabische Platte und die Afrikanische Platte aufeinanderstoßen. Das erste Beben um 04:17 Uhr Ortszeit mit dem Epizentrum in Pazarcık hatte eine Stärke von 7,8, das zweite am selben Tag um 13:24 Uhr nahe Elbistan, ebenfalls in der Provinz Kahramanmaraş, eine Stärke von 7,7. In den Wochen danach wurden 38.000 Nachbeben gemessen.
Die Beben betrafen eine Fläche von der Größe der Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen. Nach offiziellen Angaben wurden in der Türkei mindestens 50.783 Menschen tot geborgen und im Norden Syriens mindestens 8476. Die Zahl der Verletzten wird mit über 125.000 angegeben, Zahlen für Vermisste wurden nie genannt. Das Katastrophengebiet umfasst elf Provinzen, in denen 14 Millionen Menschen lebten.
In Antakya, dem historischen Antiochia, wurde jedes zweite Haus unbewohnbar. Zwei vergleichbar starke Erdbeben hatten bereits in den Jahren 115 und 526 Antiochia, das in der Antike die drittgrößte Stadt um das Mittelmeer war, so stark zerstört, dass es seine alte Bedeutung nie mehr wiedererlangte.
In einer Geberkonferenz, die am 20. März 2023 in Brüssel stattfand, sagte die Staatengemeinschaft der Türkei sieben Milliarden Euro für humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau zu. Vor der Konferenz hatte das türkische Präsidialamt einen Bericht zu den materiellen Schäden vorgelegt. An der Bestandsaufnahme waren internationale Organisationen beteiligt. Die Schäden wurden auf 103,6 Milliarden US-Dollar beziffert, das sind neun Prozent des für das Jahr 2023 prognostizierten Bruttonationaleinkommens der Türkei. Der größte Anteil entfällt mit 56,9 Milliarden US-Dollar auf die 290.000 Wohnhäuser, die völlig eingestürzt sind oder abgerissen werden müssen, gefolgt von 12,9 Milliarden US-Dollar für zerstörte öffentliche Infrastruktur und Schäden an öffentlichen Gebäuden. Die Schäden privater Unternehmen werden auf 11,8 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Der Bericht empfiehlt Änderungen bei den Baunormen und der Genehmigungspolitik. Sie sollen sicherstellen, dass die Gebäude erdbebensicher gebaut werden. Nach dem Erdbeben von 1999 östlich von Istanbul hatte die Türkei Bauvorschriften erlassen, die aber nur teilweise befolgt werden. So muss in erdbebengefährdeten Gebieten seither ein hochwertiger, durch Stahlträger stabilisierter Festbeton verwendet werden. Tragende Säulen und diagonale Balken sollen die Widerstandsfähigkeit erhöhen. Voraussetzung für eine Baugenehmigung sind Gutachten von Statikern und Erdbebenexperten. Der Abschluss einer Erdbebenversicherung wurde Pflicht, zur Finanzierung der Katastrophenhilfe wurde eine Erdbebensteuer eingeführt.
Um Kosten zu sparen und in der Erwartung von Bauamnestien wurden die Vorschriften jedoch umgangen. 2018 legalisierte eine Bauamnestie 300.000 in der Katastrophenregion illegal errichtete Gebäude. Nur wenige schlossen eine Erdbebenversicherung ab, die Mittel der Erdbebensteuer wurden zweckentfremdet.
Der AKP-Regierung wurde nach den Erdbeben vom Februar 2023 vorgeworfen, sie habe die neuen Bauvorschriften nicht durchgesetzt und Warnungen von Forschenden ignoriert. Zudem sei sie nicht mit einer effektiven Organisation auf ein Erdbeben dieser Größenordnung vorbereitet gewesen. Hilfe kam zwar in großen Städten an. Betroffene in ländlichen Gebieten klagten jedoch, dass auch nach Wochen keine Hilfe angekommen sei. In den sozialen Medien wurde das staatliche Krisenmanagement kritisiert, was vom türkischen Staat teilweise mit Ermittlungen wegen Volksverhetzung quittiert wurde. Nach dem Beben wanderten mehr als drei Millionen Menschen in andere Teile der Türkei ab. Damit die Menschen wieder eine Perspektive finden und die Abgewanderten zurückkehren, müssten prioritär die Grundbedürfnisse befriedigt und würdige Unterkünfte bereitgestellt werden. Im Juni 2023 waren noch viele in Zelten untergebracht, Engpässe gab es bei der Bereitstellung von Trinkwasser und beim Zugang zu Toiletten. Ziel ist, möglichst viele vorübergehend in Containern unterzubringen. Denn die Planung neuer Städte und Stadtviertel sowie der Bau neuer Wohnhäuser werden noch viele Jahre andauern.
Die Wahlen vom Mai 2023
Die Parlaments- und Präsidentenwahlen fanden 2023 trotz der Erdbebenkatastrophe im Februar wie geplant am 14. Mai statt. Die Wahlbeteiligung war im Inland mit 89 Prozent abermals hoch. Bei der Stichwahl am 28. Mai wurde Erdoğan mit 52,16 Prozent zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt. Sein Herausforderer Kılıçdaroğlu (CHP) erzielte 47,84 Prozent, ein deutlich besseres Ergebnis als Erdoğans Herausforderer von 2014 und 2018. Kılıçdaroğlu hatte in mehreren Umfragen vor Erdoğan gelegen. Die vorübergehend ermittelte Wechselstimmung schlug sich jedoch nicht im Wunsch nieder, die Regierung zu wechseln.
Den Wahlkampf hatten drei Themen dominiert: die Erdbebenkatastrophe, die Wirtschaftskrise mit einer Inflation von zeitweise 85 Prozent sowie die aus Syrien und anderen Nachbarländern Geflüchteten. Eine knappe Mehrheit traut es offenbar Erdoğan mehr zu als Kılıçdaroğlu, der nie Regierungsverantwortung getragen hat, diese Herausforderungen zu meistern. In der aus sechs Parteien bestehenden Oppositionsallianz hatte es Zweifel gegeben, ob der Alevit Kılıçdaroğlu in der Lage sein würde, den erfolgreichen Wahlkämpfer Erdoğan zu schlagen. Die Kritiker einer Kandidatur Kılıçdaroğlus hatten den Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu favorisiert. Denn der habe mit seinem Sieg bei den Lokalwahlen von 2019 gezeigt, dass er die potenziellen WechselwählerInnen mobilisieren könne, die eine Wahl entschieden.
Das neue Parlament ist das konservativste und nationalistischste in der Geschichte der Republik. Entgegen allen Umfragen hat die Parteienallianz der AKP mit 323 der 600 Abgeordneten ihre Mehrheit im Parlament behauptet. Die oppositionelle Sechserallianz stellt im neuen Parlament 212 Abgeordnete. Die zweite oppositionelle Allianz um die prokurdische HDP ist mit 65 Abgeordneten im Parlament vertreten.
Die WahlbeobachterInnen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) urteilten, die Wahlen seien frei, aber unfair verlaufen. Die einseitige Berichterstattung der Medien habe Erdoğan einen „ungerechten Vorteil“ verschafft. Zudem kritisierten sie die Arbeit der türkischen Wahlbehörde als intransparent.
Erdoğan setzte im Wahlkampf den Staatsapparat und dessen Ressourcen ein, um wichtige WählerInnengruppen zu bedienen. Dank der Finanzhilfen aus den Golfmonarchien und der Stundung der Gasrechnungen durch Russland konnte er großzügig teure Wahlgeschenke verteilen, die die Folgen der Wirtschaftskrise abfederten. Die traditionellen Fernsehsender und Printmedien berichteten nahezu ausschließlich über Erdoğan. Der Zugang zu kritischen Artikeln in den sozialen Medien wurde weiter reduziert. Eine Veränderung in der Zusammensetzung der Wahlräte, die über Einsprüche entscheiden, schränkte die Möglichkeit ein, bei Manipulationsverdacht Stimmzettel neu auszählen zu lassen.
Die HDP wurde durch das gegen sie laufende Verbotsverfahren behindert, die Haftstrafen für mehrere Tausend ihrer Mitglieder lähmten ihre Organisation. Zudem stigmatisierte Erdoğan die HDP, indem er ihr eine Nähe zur PKK unterstellte. Ebenso behauptete er, die CHP unterstütze aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit der HDP den Terror.
Erdoğans Kalkül, die Wahlen durch Polarisierung zu gewinnen, ging auch 2023 auf. Mit einem Wahlkampf, der auf Nationalismus und Sicherheit setzte, mobilisierte er mehr WählerInnen als Kılıçdaroğlu, der für Gerechtigkeit und den Kampf gegen die Korruption geworben hatte. Erdoğan schuf so ein Klima, das dem radikalen türkischen Nationalismus weiteren Auftrieb verschaffte. Während die CHP das Image nicht abstreifen konnte, Partei der Besserverdienenden zu sein, gewann die AKP dank der unteren Einkommensschichten.
Erdoğan setzt in seinem neuen Kabinett, in das er nur eine Frau berufen hat, mehr als früher auf Technokraten und Pragmatiker. Der neue Finanzminister Mehmet Şimşek kündigte die Rückkehr zu einer „rationalen Finanzpolitik“ an. Der neue Außenminister Hakan Fidan hatte sich als Geheimdienstchef einen Namen als unideologischer Pragmatiker gemacht. Der bisherige Gouverneur von Istanbul, Ali Yerlikaya, ersetzt als Innenminister Süleyman Soylu, der sich Hoffnungen gemacht hatte, die Nachfolge Erdoğans anzutreten. Ein enger Vertrauter Erdoğans ist der bisherige Generalstabschef und neue Verteidigungsminister Yaşar Güler.