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Entwicklung bis zum Ende der Monarchie | Tschechien | bpb.de

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Entwicklung bis zum Ende der Monarchie

Dieter Segert

/ 8 Minuten zu lesen

Österreich-Ungarn mit der Grenze zu Tschechien, ungefähr um 1998. (© Public Domain, Wikimedia)

Einleitung

Im Raum, der später als Böhmen und Mähren bezeichnet wurde, siedelten um 500 v. Chr. keltische Stämme. Der Name Böhmen (lat.: boiohaemum, Bojerheim) geht auf die keltischen Bojer zurück, die um 60 v. Chr. von Germanen verdrängt wurden. Im Verlaufe der im vierten Jahrhundert n. Chr. beginnenden Völkerwanderung kamen im sechsten Jahrhundert schließlich slawische Stämme ins Land.

Im siebten Jahrhundert konstituierte sich im heutigen Mähren sowie in Teilen der Westslowakei und Niederösterreichs ein slawischer Stämmebund unter dem Fürsten Samo. Zwischen 830 und 895 gab es ein "Großmährisches Reich", dessen Zentrum wahrscheinlich in Mähren und der Slowakei lag und dessen Einfluss sich zeitweise bis nach Meißen, Krakau und an die Ufer des Balaton (Plattensee) erstreckte. Nach seinem Ende wurde die Slowakei zur ungarischen Provinz "Oberungarn".

Im westlichen Teil, in Böhmen hingegen, war das Ende dieses frühen Reiches der Beginn einer eigenständigen staatlichen Entwicklung, getragen von den um Prag siedelnden Tschechen unter ihren Herzögen aus dem Geschlecht der Premysliden.

Am Beginn dieser Entwicklung stand Wenzel I. (Václav I.; 921–929/35), der sich um die Verbreitung des Christentums im Land bemühte. Nach der Ermordung durch seinen Bruder Boleslav (der ihm als Herzog nachfolgte) wurde er heilig gesprochen. Als Landespatron hatte er große Symbolkraft für die Stabilisierung des Staatswesens und von seiner Bedeutung für das neuzeitliche Selbstverständnis der Tschechen zeugt sein monumentales Denkmal am oberen Ende des Prager Wenzelsplatzes.

Am Ende des zehnten Jahrhunderts wurde mit der Unterwerfung und Vernichtung eines anderen mächtigen böhmischen Fürstengeschlechts, der Slavníkiden, die Vorherrschaft der Premysliden im Raum des heutigen Böhmen und Mähren erreicht, die noch weitere drei Jahrhunderte währte.

Böhmisch-europäische Verflechtungen

Im zehnten Jahrhundert geriet das Premyslidenreich in die außenpolitische Abhängigkeit des Heiligen Römischen Reiches. Seit Anfang des 11. Jahrhunderts wurde es als direktes Lehen des Reiches bezeichnet. Könige wurden die tschechischen Herrscher im Gefolge von internen Machtkämpfen innerhalb des Reiches: 1085 verlieh Kaiser Heinrich IV. diesen Titel persönlich an Vratislav II. (1061–1092), um sich dessen Unterstützung in der Auseinandersetzung mit dem Papst zu sichern. Auch die Königskrönung von Vladislav II. (1140–1173) im Jahre 1158 durch Friedrich I. (Barbarossa) diente der Machtsicherung des Kaisers. 1212 bestätigte der Stauferfürst und spätere Kaiser Friedrich II. aus den gleichen Gründen die Erblichkeit des böhmischen Königtums.

Wie der Historiker Ferdinand Seibt hervorhebt, standen der Kaiser und die böhmischen Fürsten bzw. Könige in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Während der Regierung von Premysl II. Otakar (1253–1278) wurde das Reich vom böhmischen König dominiert. Unter seiner Herrschaft entstand für kurze Zeit ein Großreich, das mit dem Herzogtum Krajn bis knapp vor die Adriaküste reichte.

Während der Herrschaft der Premysliden kamen die ersten deutschen Siedler ins Land. Im zwölften Jahrhundert wanderten Bauern, Bergleute und Handwerker aus Österreich nach Südmähren und aus der Oberpfalz nach Westböhmen ein. So entstanden deutsch besiedelte Grenzregionen, und es wird geschätzt, dass um 1300 circa ein Sechstel der 1,5 Millionen Bewohner der böhmischen Länder deutscher Herkunft waren. Die Könige begünstigten die Gründung von freien Städten als Gegengewicht zum Einfluss des Adels und gewährten auch die Übernahme der neuen städtischen Rechtsordnungen, die nach ihren Ursprungsorten als Magdeburger, Wiener oder Nürnberger Recht bezeichnet wurden.

Nach dem Aussterben der Premysliden ging die Herrschaft von 1310 bis 1437 an das Haus der Luxemburger über. Unter Karl (Karel) IV., von 1346 bis 1378 deutscher und böhmischer König und 1355 in Rom zum deutschen Kaiser gekrönt, wurden die böhmischen Länder Kernländer des Reiches und Prag wurde Residenzstadt. 1344 betrieb Karl IV. die Ernennung Prags zum Erzbistum und gründete 1348 hier die "Karls-Universität" (Univerzita Karlová), deren innere Organisation Vorbild für weitere Universitätsgründungen im Reich war. Unter den Luxemburgern umfassten die Länder der böhmischen Krone auch Luxemburg und Brabant, Brandenburg, die Lausitz und Schlesien.

Ein weiteres Beispiel für die Verflechtung von böhmischer und europäischer Geschichte bietet der Prager Reformator Johannes Huß (tsch.: Jan Hus, um 1369– 1415). Gestützt auf die Thesen des englischen Theologen John Wiclif (um 1320– 1384) und die Lehren der südfranzösischen Waldenser stritt er für eine Erneuerung der Kirche und beeinflusste seinerseits spätere reformatorische Bestrebungen, so ein Jahrhundert später Martin Luther. Nach der Verbrennung von Jan Hus als Ketzer 1415 in Konstanz entwickelte sich in den böhmischen Ländern die Bewegung der Hussiten, eine kirchenreformerische bzw. -revolutionäre Bewegung in Böhmen. Gemeinsames religiöses Symbol war der "Laienkelch" als Zeichen der Darreichung des Abendmahlweines nicht nur an die Kleriker, sondern auch an die Laien. Zwischen 1419/20 und 1433/34 kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen kaiserlichen und hussitischen Truppen, die mit einem Kompromiss zugunsten der gemäßigten Hussiten beendet wurden.

Die Hussitenkriege brachten eine Schwächung der böhmischen Krone mit sich. Zwar war mit Georg von Podiebrat (1458–1471) noch einmal ein böhmischer Adliger Träger der Wenzelkrone. Aber nach ihm kämpften die polnischen Jagiellonen und Ungarn um deren Besitz, und ab 1526 war sie für die nächsten vier Jahrhunderte fest in den Händen der Habsburger.

Herrschaft der Habsburger

Eine weitere Verbindung von böhmischer und europäischer Geschichte manifestierte sich im so genannten Prager Fenstersturz am 23. Mai 1618, als zwei kaiserliche Statthalter von böhmischen Protestanten aus den Fenstern der Prager Burg, des Hradschins, geworfen wurden. Darin offenbarte sich ein tiefgreifender Konflikt zwischen den protestantischen Ständen der böhmischen Länder und der zentralistischen, prokatholischen Politik des deutschen Kaisers. Er gilt als auslösendes Ereignis des Dreißigjährigen Krieges. Ein böhmischer Adliger, Albrecht von Wallenstein (1583–1634), wurde für einige Jahre erfolgreichster Kriegsherr des Kaisers im Kampf gegen die protestantischen Fürsten, ein Abenteurer, der 1634 in Eger (Cheb) ermordet wurde.

In dieser Zeit wurden 150000 Menschen aus ihrer böhmischen Heimat vertrieben. Die Rekatholisierung, die hinter diesen Vertreibungen und freiwilligen Auswanderungen stand, prägte fortan das religiöse und kulturelle Leben des Landes. Einer der Emigranten war Johann Comenius (1592–1670), der durch seine Schriften großen Einfluss auf die Begründung der modernen Pädagogik ausübte.

Die Zeitspanne zwischen der Niederlage der böhmischen Stände und protestantischen Fürsten in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620 bis zum Beginn der tschechischen Nationalbewegung wird von manchen tschechischen Historikern als Periode der Finsternis begriffen. Dagegen sprechen jedoch nicht nur die Jahrzehnte des Friedens bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, sondern auch die rege Bautätigkeit dieser Epoche. Im Stile des Barock entstanden Klöster, Kirchen und Schlösser, die bis heute die Landschaft prägen. Zur Mitte des 18. Jahrhunderts setzten dann die Reformen der Staatsverwaltung, des Rechtssystems und des Schulwesens ein, die im Zeitalter des "aufgeklärten Absolutismus" durch die Habsburger Kaiserin Maria-Theresia (1740–1780) und Kaiser Joseph II. (1765–1780 als Mitregent, bis 1790 alleiniger Throninhaber) initiiert und vorangetrieben wurden. Diese Reformen trugen auch viel zur Modernisierung von Gesellschaft und Wirtschaft in Böhmen und Mähren bei.

Tschechische Nationalbewegung

Überall in Europa wuchs im Laufe des 19. Jahrhunderts das nationale Selbstbewusstsein. Als eine wesentliche Ursache dafür gelten die Säkularisierung und Modernisierung der Gesellschaften im Zuge der Aufklärung, die dem einzelnen Menschen zwar einen größeren Handlungsspielraum gaben, ihn aber alter Gewissheiten beraubten. Neue Sicherheit versprach in dieser Situation der Gedanke der Nation als einer neuen Form politischer Gemeinschaft.

Ein weiterer Grund für das steigende Ansehen nationaler Unabhängigkeit lag darin, dass Frankreich – nachdem es sich im Zuge der Revolution von 1789 als moderner Nationalstaat konstituiert hatte – unter der Herrschaft Napoleon Bonapartes andere europäische Staaten militärisch unterworfen hatte, was bei der einheimischen Bevölkerung der eroberten Staaten patriotische Gefühle und eine Rückbesinnung auf das eigene Selbstverständnis auslöste.

Die Reformen Maria Theresias und Josephs II. in den Ländern der Habsburgermonarchie gaben wichtige Impulse für die Entwicklung des nationalen Gedankens. Das Bemühen um eine moderne und zentralisierte Verwaltung führte zur Festlegung des Deutschen als Amtssprache. Dies erweckte bei den nichtdeutschen Bevölkerungsteilen Befürchtungen vor einer Dominanz des Deutschen.

Als Gegengewicht entwickelten sich Bewegungen für die Modernisierung der eigenen Schriftsprache und einen landessprachlichen Schulunterricht. Der Philosoph und Historiker Josef Dobrovský (1753–1829) sowie der Philologe und Schriftsteller Josef Jungmann (1773–1847) schufen die Grundlagen für die moderne tschechische Sprache, so wie an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auch in anderen europäischen Ländern moderne Sprachlehren ausgearbeitet wurden.

Anfangs herrschte noch nicht die Auffassung, dass jede Nation sich gegenüber den anderen behaupten und durchsetzen müsse. Namhafte deutsche Intellektuelle in den böhmischen Ländern plädierten zu Beginn für eine Gleichberechtigung beider Kulturen im Land (als Bohemismus bezeichnet) und die tschechischen Intellektuellen, die sich für die nationale Wiedergeburt (obrození) einsetzten, schrieben ihre Texte zunächst noch in Deutsch.

Der Historiker und Politiker Frantipiek Palacký (1798–1876) begriff, auf Johann Gottfried Herders geschichtsphilosophischen Vorstellungen von der Existenz stabiler Volkscharaktere aufbauend, das Zusammentreffen und das Gegeneinander von Germanen- und Slawentum als das uralte Grundgesetz der böhmischen Geschichte. Das Problematische an dieser Sichtweise, die zu dieser Zeit sehr populär war, besteht darin, den in der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnenden Selbstbehauptungskampf zwischen den nationalen Gemeinschaften in frühere Geschichtsepochen zurück zu verlegen.

1848 distanzierten sich die Tschechen erstmals eindeutig vom "großdeutschen Projekt" (also der Schaffung eines deutschen Nationalstaates in den Grenzen des früheren Römischen Reiches deutscher Nation), welches das deutsche Nationalparlament zum gleichen Zeitpunkt an seinem Tagungsort, der Frankfurter Paulskirche, diskutierte. Stattdessen bekannten sie sich zur österreichischen Donaumonarchie als einem Vielvölkerstaat und Palacký lehnte es mit diesem Argument ausdrücklich ab, die Einladung zur Versammlung in der Frankfurter Paulskirche anzunehmen.

Vielmehr berief er im Juni 1848 einen Slawenkongress nach Prag ein, der im Auftrag des Kaisers von österreichischen Truppen unter Fürst Windischgrätz gewaltsam aufgelöst wurde.

Die Tschechen strebten jedoch weiterhin nach Gleichberechtigung der Landessprachen im Erziehungswesen und nach politischer Gleichstellung unter Anerkennung der eigenen tausendjährigen staatsrechtlichen Tradition. Ihre Anstrengungen verstärkten sich nach 1867, als die ungarischen Oberschichten eine Wiedereinsetzung in historische Rechte und ihre auch symbolische Aufwertung durch die Umwandlung des Reiches in eine österreichisch-ungarische Doppelmonarchie erreichten.

Die Deutschen in der Habsburgermonarchie empfanden die Bemühungen um eine verstärkte Eigenständigkeit der tschechischen Kultur und die Gleichberechtigung der Tschechen immer stärker als existenzielle Herausforderung. Im Streit darum, ob das Deutsche und das Tschechische gemeinsame Behördensprachen sein sollten, fanden diese Auseinandersetzungen ihren ersten Höhepunkt.

Die Wiener Herrscher suchten dies durch einen Kompromiss zu entschärfen. Ein Ergebnis dieser Bemühungen war die Teilung der alten Prager Universität 1881–82 in eine tschechische und eine deutsche. Im Jahr 1882 wurde mit einer Ausweitung des Wahlrechts auf größere Teile der männlichen Bevölkerung der politische Einfluss der Tschechen ausgedehnt. Die Einführung des Tschechischen als gleichberechtigte Behörden- und Gerichtssprache hingegen scheiterte vorerst 1899 am starken deutschen Widerstand, nachdem schon 1897 der österreichische Ministerpräsident Kasimir Felix Graf Badeni (1895–1909), der eine entsprechende Verordnung auf den Weg gebracht hatte, nach Tumulten im Parlament und auf den Straßen durch den Kaiser abberufen werden musste.

QuellentextKonkurrenz zweier Kulturen

Der Aufstieg der tschechischen Kultur war eng mit der nationalen Emanzipation im 19. Jahrhundert verwoben. Vordem hatte die Grenze zwischen der deutschen und tschechischen Sprachgruppe nicht nur nationale, sondern auch sozial definierte Gruppen getrennt. Eine höhere Bildung war ausschließlich in Deutsch zu erhalten.

Bis Mitte des Jahrhunderts hatte sich diese Lage aber bereits wesentlich verändert. Aus der Pflege der tschechischen Sprache und ihrer Durchsetzung auf der Bildungs- und Kulturebene erwuchs bald darauf die Forderung, sie auch in Verwaltungs- und Staatsangelegenheiten zu benutzen, was die Konflikte zwischen Deutschen und Tschechen anheizte.

Am Ende des 19. Jahrhunderts standen in den böhmischen Ländern dann zwei sprachlich unterschiedliche Kulturen gleichwertig nebeneinander. 1882 wurde die Karl-Ferdinand-Universität in Prag in eine deutsche und eine tschechische geteilt, neben der alten, gemeinsamen "Königlich-Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften" finden wir in den neunziger Jahren noch zwei weitere, national definierte Akademien – die "Böhmische (das heißt tschechische) Kaiser-Franz-Joseph-Akademie der Wissenschaften, Literatur und Kunst in Prag", die 1890 gegründet wurde, und die "Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaften, Kunst und Literatur in Böhmen", die im darauffolgenden Jahr entstand.

Alle wichtigen Vereine gab es sowohl in tschechischer als auch in deutscher Version. Diese seltsame Situation wurde im Jahr 1900 treffend von Alfred Klaar, dem Redakteur der Berliner "Vossischen Zeitung" beschrieben: "Prag ist ein Unikum, als die Stadt zweier Universitäten, zweier technischer Hochschulen und zweier großer Opern, die beispielsweise gleichzeitig zwei Lohengrin-Aufführungen veranstalten."

Die nationale Spaltung in der Kultur setzte sich auch in der Zwischenkriegszeit fort. Zu den berühmtesten Repräsentanten böhmischer Kultur gehörten in erster Linie deutsch sprechende Prager Juden – zum Beispiel Franz Kafka, Max Brod, Franz Werfel. Bekannt sind auch die deutschen Literaten Rainer Maria Rilke oder Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach geworden. Unter den tschechischen Schriftstellern erlangte Jarosláv Hapiek Weltruhm mit seiner Gestalt des "braven Soldaten Schwejk". Karel Cápek machte mit seinem Roman "R. U. R." (Rossums Universal Robots) 1920 den eigentlich von seinem Bruder Josef Cápek erfundenen Begriff "Roboter" zur international gebräuchlichen Bezeichnung.

Alena Mípiková

Mit dem Erstarken des Nationalbewusstseins wurden kulturelle Institutionen geschaffen und prächtige Gebäude – etwa das Nationaltheater und das Nationalmuseum – gebaut. Es entwickelte sich ein vielfältiges böhmisches Vereins-, Verbands- und Parteienleben. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert existierten in den böhmischen Ländern zwei nationale Parteiensysteme, ein deutsches und ein tschechisches. Die Gesellschaft war kulturell und politisch gespalten.